Früh übt sich oder die Abschlussfeier

»Wirst du kommen, Papi? Bestimmt?«

»Ja, mein Sohn. Bestimmt.«

Dies war der kurze, wenig abwechslungsreiche Dialog, der während der letzten sechs Monate zweimal täglich zwischen mir und meinem Sohn Amir stattfand, einmal beim Frühstück und einmal vor dem Schlafengehen. Nadiwa, die Lehrerin, hatte dem Kind eine Hauptrolle in dem Theaterstück gegeben, das am Ende des Schuljahrs aufgeführt werden sollte, und von diesem Augenblick an beschäftigte sich Amir ausschließlich damit, in der Abgeschlossenheit seines Zimmers den Text auswendig zu lernen, unermüdlich, immer wieder, immer dieselben Worte, als wäre eine Schallplatte steckengeblieben.

»Häschen klein … Gläschen Wein … sitzt allein«, erklang es unablässig aus Kindermund. »Kleiner Hase … rote Nase … ach, wie fein … muss das sein …«

Selbst auf dem Schulweg murmelte er diesen läppisch gereimten Unfug vor sich hin, selbst auf die erzürnten Rufe der Autofahrer, die ihn nicht überfahren wollten, reagierte er mit Worten wie: »Häschen spring … klingeling … komm und sing …«

Als der große Tag da war, platzte das Klassenzimmer aus allen Nähten, und viele Besucher drängten herzu, um teils ihre Sprösslinge und teils die von ebendiesen angefertigten Buntstiftzeichnungen israelischer Landschaften zu bestaunen. Mit knapper Not gelang es mir, ein Plätzchen zwischen dem See Genezareth und einem Tisch mit Backwerk zu ergattern. Im Raum brüteten die Hitze und eine unabsehbare Schar erwartungsvoller Eltern. Unter solchen Umständen hat ein Durchschnitts-Papi wie ich die Wahl zwischen zwei Übeln: Er kann sich hinsetzen und nichts sehen als die Nacken der vor ihm Sitzenden, oder er kann stehen und sieht seinen Sohn. Ich entschied mich für einen Kompromiss und ließ mich auf eine Sessellehne nieder, unmittelbar hinter einer Mutter mit einem Kleinkind auf dem Rücken, das sich von Zeit zu Zeit nach mir umdrehte, um mich ausdruckslos anzuglotzen.

»Papi«, hatte mein Sohn Amir beim Aufbruch gefragt, »wirst du auch ganz bestimmt bleiben?«

»Ja, mein Sohn. Ich bleibe.«

Jetzt saß Amir bereits auf der Bühne, in der dritten Reihe der für spätere Auftritte versammelten Schüler, und beteiligte sich mit allen anderen am Absingen des Gemeinschaftsliedes unserer Schule. Auch die Eltern fielen ein, wann immer ein Mitglied des Lehrkörpers einen von ihnen ansah.

Die letzten Misstöne waren verklungen. Ein sommersprossiger Knabe trat vor und wandte sich an die Eltern.

»Nach Jerusalem wollen wir gehen, Jerusalem, wie bist du schön, unsere Eltern kämpften für dich, infolgedessen auch für mich und für uns alle, wie wir da sind, Jerusalem, ich bin dein Kind und bleibe es mein Leben lang, liebe Eltern, habet Dank!«

Ich saß in geräumiger Distanz vom Ort der Handlung. Was dort vorging, erreichte mich nur bruchstückweise.

Soeben rezitiert ein dicklicher Junge etwas über die Schönheiten unseres Landes, aber ich höre kein Wort davon und bin ausschließlich auf visuelle Eindrücke angewiesen. Wenn er hinaufschaut, meint er offensichtlich den Berg Hermon, wenn er die Arme ausbreitet, die fruchtbaren Ebenen Galiläas oder möglicherweise die Wüste Negev. Und wenn er mit seinen Patschhändchen wellenförmige Bewegungen vollführt, kann es sich nur um das Meer handeln. Zwischendurch muss ich die ängstlich forschenden Blicke meines Sohnes erwidern und die des Kleinkindes ignorieren.

Stürmischer Applaus. Ist das Programm schon zu Ende? Ein geschniegelter Musterschüler tritt an die Rampe. »Das Flötenorchester der vierten Klasse spielt jetzt einen Ländler.«

Ich liebe Flötenkonzerte, aber ich liebe sie in der Landschaft draußen, nicht in einem knallvollen Saal mit Städtern. Wie aus dem notdürftig vervielfältigten Programm hervorgeht, besitzt die vierte Klasse außer einem Flötenorchester auch vier Solisten, so dass uns auch vier Soli bevorstehen, damit sich keiner kränkt: 1 Haydn, 1 Nardi, 1 Schönberg, 1 Dvorˇák.

An den Fenstern wimmelt es von zeitunglesenden Vätern. Und sie genieren sich nicht einmal, sie tun es ganz offen. Das ist nicht schön von ihnen. Ich borge mir eine Sportbeilage aus.

Das Konzert ist vorüber. Wir applaudieren vorsichtig, wenn auch nicht vorsichtig genug. Es erfolgt eine Zugabe.

Die Sportbeilage ist reichhaltig, aber auch sie hat einmal ein Ende. Was nun?

Da. Mein Sohn Amir steht auf und kommt an die Rampe. Mit einem Stuhl in der Hand.

Er ist zunächst nur als Requisiteur tätig.

Seine Augen suchen mich.

»Bist du hier, mein Vater?«, fragt sein stummer Blick.

Ich wackle mit den Ohren. »Hier bin ich, mein Sohn.«

Einer seiner Kollegen erklimmt den Stuhl, den er, Amir, mein eigener Sohn, herangeschafft hat, und gibt sich der Menge als »Schloime der Träumer« zu erkennen. Von seinen Lippen rieselt es rasch und größtenteils unverständlich: »Jetzt wollt ihr wissen warum bla-bla-bla also ich sag’s euch meine Mutter sagt immer bla-bla-bla also ich geh und hopp-hopp-hopp auf einmal eine Katze und sum-sum-sum bla-bla-bla ob ihr’s glaubt oder nicht und plötzlich Rhabarber Rhabarber alles voll Kalk.«

Die Kinder brüllen vor Lachen. Mit mir jedoch geht es zu Ende. Kein Zweifel, ich bin innerhalb Minutenfrist entweder taub oder senil geworden oder beides.

Es beruhigt mich ein wenig, dass auch viele andere Väter mit unbewegten Gesichtern dasitzen, die Hand ans Ohr legen, sich angestrengt vorbeugen und sonstige Anzeichen ungestillten Interesses von sich geben.

Eine Stunde ist vergangen. Die Mutter mit dem Kleinkind auf dem Rücken sackt lautlos zusammen, mitten in die Kuchen hinein. Ich springe auf, um ihr in die frische Luft hinaus zu helfen, aber ein paar Väter kommen mir zuvor und tragen sie freudestrahlend hinaus. An die frische Luft.

»Und jetzt«, verkündet der Geschniegelte, »bringen die Didl-Dudl-Swingers eine Gesangsnummer, in der sie die Vögel des Landes Israel nachahmen.«

Wenn ich’s genau bedenke, habe ich kleine Kinder gar nicht so schrecklich lieb. In kleinen Mengen mag ich sie ganz gern, aber so viele von ihnen auf so kleinem Raum … Außerdem sind sie miserable Schauspieler. Vollkommen talentlos. Wie sie da zum Klang des Flötenquartetts herumspringen und einen idiotischen Text krächzen … Böser Kuckadudldu, mach die blöden Augen zu … oder was immer … es ist nicht zum Anhören und nicht zum Ansehen …

Ich fühle mich schlecht und immer schlechter. Keine Luft. An den Fenstern kleben ganze Trauben von japsenden Eltern. Kleine Mädchen müssen Pipi. Draußen im Hof rauchen rebellierende Väter.

Mein Sohn gestikuliert angstvoll. »Nicht weggehen, Papi. Ich komm gleich dran.«

Auf allen vieren krieche ich zu Nadiwa, der Lehrerin: Ob es eine Pause geben wird?

Unmöglich. Würde zu lange dauern. Jedes Kind soll eine Hauptrolle haben. Sonst werden sie eifersüchtig, und die pädagogische Mühe vieler Jahre ist beim Teufel.

Einige Elternpaare, deren Nachkommenschaft sich bereits produziert hat, entfernen sich unter den neidvollen Blicken der zurückbleibenden Mehrheit.

Auf der Bühne beginnen die Vorbereitungen zu einer biblischen Allegorie in fünf Akten. Mein Sohn trägt abermals Requisiten herbei.

Ich werfe einen verstohlenen Blick auf das Rollenbuch, das der Bruder eines Mitwirkenden in zitternden Händen hält, um notfalls als Souffleur zu fungieren.

Ägyptischer Aufseher (hebt die Peitsche): Auf, auf, ihr Faulpelze! Und hurtig an die Arbeit!

Ein Israelit: Wir schuften und schwitzen seit dem Anbruch des Morgens. Ist kein Mitleid in deinem Herzen? Und so weiter in diesem Sinne.

Ich kenne viele Menschen, die niemals geheiratet und sich niemals vermehrt haben und trotzdem glücklich sind. Noch ein Ton aus der hebräischen Flöte und ich werde verrückt.

Aber da geschieht etwas Merkwürdiges. Mit einem Mal nehmen die Dinge Gestalt an, die Atmosphäre wird reizvoll, undefinierbare Spannung liegt in der Luft, man muss unwillkürlich Haltung annehmen, man muss scharf aufpassen. Oben auf der Bühne hat sich ein wunderhübscher Knabe aus der Schar seiner Mitspieler gelöst. Vermutlich mein Sohn. Ja, er ist es. Er verkörpert den Dichter Scholem Alejchem oder den Erfinder der Elektrizität oder sonst jemand Wichtigen, das lässt sich so nicht feststellen.

»Häschen klein … Gläschen Wein … bla-bla-bla blubb-blubb-blubb bongo-bongo … das ist fein …«

Laut und deutlich deklamiert mein kleiner Rotkopf den Text. Ich blicke mit bescheidenem Stolz in die Runde. Und was muss ich sehen?

In den Gesichtern der Dasitzenden völlige Teilnahmslosigkeit. Einige schlafen sogar. Sie schlafen, während Amirs zauberhaft klare Stimme den Raum durchdringt. Mag sein, dass er kein schauspielerisches Genie ist, aber seine Aussprache ist einwandfrei und sein Vortrag flüssig. Niemals zuvor ward so Deutliches gehört in Israel. Und sie schlafen …

Als er zu Ende ist, schreckt mein Applaus die Schläfrigen auf. Auch sie applaudieren. Aber ich applaudiere stärker.

Mein Sohn winkt mir zu. »Bist du’s, Papi?«

Ja, ich bin es, mein Sohn. Und ich winke zurück.

Die Lehrerin Nadiwa macht ihrem Vorzugsschüler ein Zeichen.

»Wieso?«, flüstere ich ihr zu. »Geht’s denn noch weiter?«

»Was meinen Sie, ob es noch weitergeht? Jetzt fängt’s ja erst richtig an. Der große historische Bilderbogen: Von der Entstehung der Welt bis zur Entstehung des Staates Israel. Mit Kommentaren und Musik …«

Und da erklingt auch schon der erste Kommentar von der Bühne:

»Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde …«

An den Rest erinnere ich mich nicht mehr.