Papi als Schwimmlehrer
Mein Sohn Amir steht am Rand des Schwimmbeckens und heult.
»Komm ins Wasser!«, rufe ich.
»Ich hab Angst!«, ruft er zurück.
Seit einer Stunde versuche ich, den kleinen Rotschopf ins Wasser zu locken, damit ihn Papi im Schwimmen unterweisen kann. Aber er hat Angst. Er heult vor lauter Angst. Auch wenn sein Heulen noch nicht die höchste Lautstärke erreicht hat – bald wird es so weit sein, ich kenne ihn.
Ich kenne ihn und bin ihm nicht böse. Nur allzu gut erinnere ich mich, wie mein eigener Papi versucht hat, mir das Schwimmen beizubringen, und wie ich heulend vor Angst am Rand des Schwimmbeckens stand. Mein Papi ist damals recht unsanft mit mir umgegangen.
Seither haben sich die Methoden der Kindererziehung grundlegend geändert und verfeinert. Nichts liegt mir ferner, als meinem Sohn etwas aufzuzwingen, wozu er keine Lust hat. Er soll den entscheidenden Schritt aus eigenem Antrieb tun. Wie ein junger Adler, der zum ersten Mal den elterlichen Horst verlässt und in majestätischem Flug durch die Lüfte zu schweben beginnt. Es braucht nur einen kleinen Stoß, den Rest besorgt dann schon die Natur. Verständnis für die kindliche Seele, darauf kommt es an. Verständnis, Güte und Liebe, sehr viel Liebe.
»Komm her, mein Kleiner«, flöte ich. »Komm her und sieh selbst. Das Wasser reicht dir kaum bis zum Nabel, und Papi wird dich festhalten. Es kann dir nichts geschehen.«
»Ich hab Angst.«
»Alle anderen Kinder sind im Wasser und spielen und schwimmen und lachen. Nur du stehst draußen und weinst. Warum weinst du?«
»Weil ich Angst hab.«
»Bist du denn schwächer oder dümmer als die anderen Kinder?«
»Ja.«
Dass er das so freimütig zugibt, spricht einerseits für seinen Charakter, anderseits nicht. Vor meinem geistigen Auge erscheint ein Schiff auf hoher See, das im Begriffe ist, zu sinken. Die Passagiere haben sich auf Deck versammelt und warten ruhig und diszipliniert auf die Anweisungen des Kapitäns. Nur ein untersetzter, rothaariger Mann boxt sich durch die Reihen der Kinder und Frauen, um als Erster ins Rettungsboot zu gelangen. Es ist Amir Kishon, der sich geweigert hat, von seinem Papi das Schwimmen zu erlernen.
»Wovor hast du Angst, Amirlein?«
»Vor dem Ertrinken.«
»Wie kann man in diesem seichten Wasser ertrinken?«
»Wenn man Angst hat, kann man.«
»Nein, nicht einmal dann.«
Ich versuche, von Psychologie auf Intellekt umzuschalten. »Der menschliche Körper hat ein spezifisches Gewicht, weißt du, und schwimmt auf dem Wasser. Ich zeig’s dir.«
Papi legt sich auf den Rücken und bleibt gemächlich liegen. Das Wasser trägt ihn.
Mitten in dieses lehrreiche und überzeugende Experiment springt irgendein Idiot dicht neben mir ins Wasser. Die aufspritzenden Wellen überschwemmen mich, ich schlucke Wasser, mein spezifisches Gewicht zieht mich abwärts, und mein Sohn heult jetzt bereits im dritten Gang.
Nachdem ich nicht ohne Mühe wieder hochgekommen bin, wende ich mich an den Badewärter, der den Vorgang gleichmütig beobachtet hat.
»Bademeister, bitte sagen Sie meinem kleinen Jungen, ob hier im Kinderschwimmbecken jemand ertrinken kann.«
»Selbstverständlich«, antwortet der Bademeister. »Und wie!«
So sieht die Unterstützung aus, die man von unserer Regierung bekommt. Ich bin wieder einmal ganz auf mich selbst angewiesen.
Jeder andere Vater hätte jetzt seinen Sohn mit Gewalt ins Wasser gezerrt. Nicht so ich. Ich liebe meinen Sohn trotz aller seiner Fehler und Defekte, trotz des mörderischen Geheuls, das er jetzt aufs Neue anstimmt, ich liebe ihn jetzt sogar mehr als je zuvor, weil er so zittert, weil er solche Angst hat, weil er so hilflos dasteht, so armselig, so dumm, so vertrottelt.
»Ich mach dir einen Vorschlag, Amir. Du gehst ins Wasser, ohne dass ich dich anrühre. Du gehst so lange, bis dir das Wasser an die Knie reicht. Wenn du willst, gehst du weiter. Wenn du nicht weitergehen willst, bleibst du stehen. Wenn du nicht stehen bleiben willst, steigst du aus dem Wasser. Gut?«
Amir nickt, heult und macht ein paar zögernde Schritte ins Wasser hinein. Noch ehe es ihm bis an die Knie reicht, dreht er sich um und steigt aus dem Wasser, um sein Geheul an Land wieder aufzunehmen. Dort heult sich’s ja auch leichter.
»Mami!«, heult er. »Mami!«
Das macht er immer. Wenn er sich meinen erzieherischen Maßnahmen widersetzen will, heult er nach Mami. Gleichgültig, ob sie ihn hören kann oder nicht.
Ich zwinge mich zu souveräner Gelassenheit und väterlicher Autorität.
»Wenn du nicht sofort ins Wasser kommst, Amir, gibt’s heute kein Fernsehen.«
Sollte ich meine väterliche Autorität überzogen haben? War ich zu streng mit dem Kleinen? Er heult und rührt sich nicht. Er rührt sich nicht und heult. Ich mache einen weiteren, diesmal praktischen Versuch.
»Es ist doch ganz einfach, Amir. Du streckst die Arme aus und zählst. Eins-zwei-drei. Schau, ich zeig’s dir. Eins-zwei-dr…«
Es ist klar, dass man nicht gleichzeitig schwimmen und zählen kann. Niemand hat mich das gelehrt. Außerdem bin ich kein Schwimmer, sondern ein Schriftsteller. Ich kann ja auch nicht gleichzeitig schwimmen und schreiben. Kein Mensch kann das.
Mittlerweile hat sich Amir in den höchsten Diskant gesteigert und röhrt drauflos, umringt von einer schaulustigen Menge, die mit Fingern auf seinen Vater weist. Ich springe aus dem Wasser und verfolge ihn rund um das Schwimmbecken. Endlich erwische ich ihn und zerre ihn ins Wasser. Dem Balg werde ich noch beibringen, wie man freiwillig schwimmen lernt!
»Mami!«, brüllt er. »Mami, ich hab Angst!«
Das alles kommt mir irgendwie bekannt vor. Der Franzose spricht in solchen Fällen von »déjà vu«. Hat mich nicht auch mein eigener Vater ins Wasser gezerrt? Hab nicht auch ich verzweifelt nach meiner Mami gerufen? So ist das Leben. Alles wiederholt sich. Der Zusammenstoß der Generationen lässt sich nicht vermeiden. Die Väter essen saure Trauben und die Söhne heulen.
»Will nicht ins Wasser!«, heult mein Sohn. »Will Mami!«
Ich halte ihn auf beiden Armen, etwa einen halben Meter über dem Wasserspiegel, und schenke seiner Behauptung, dass er ertrinkt, keinen Glauben. »Eins-zwei-drei«, kommandiere ich. »Schwimm!«
Er folgt meinen Anweisungen, wenn auch heulend. Ein Anfang ist gemacht. Aber da ich ihn nicht das Fliegen lehren will, sondern das Schwimmen, muss ich ihn wohl oder übel mit dem Wasser in Berührung bringen. Vorsichtig senke ich meine Arme abwärts. Amir beginnt zu strampeln und schlägt wild um sich. Von Schwimmbewegungen keine Spur.
»Schwimm!«, höre ich mich brüllen. »Eins-zwei-drei!«
Jetzt hat er mich gebissen. Er beißt die Hand, die ihn nährt. Er beißt den eigenen Vater, der für ihn sorgt und ihm nichts als Liebe entgegenbringt.
Zum Glück bin ich noch immer stärker als er. Ich zwänge seine Hüften in die eiserne Umklammerung meiner athletischen Schenkel, so dass sein Oberkörper auf der Wasserfläche liegt, und vollführe mit seinen Armen die vorgeschriebene Eins-zwei-drei-Bewegung. Eines Tages wird er’s mir danken. Eines Tages wird er wissen, dass er ohne meine Fürsorge und meine engelsgleiche Geduld niemals die Wasser beherrscht hätte. Eines Tages wird er mich dafür lieben.
Vorläufig tut er nichts dergleichen. Im Gegenteil, er schlägt seine verhältnismäßig freien Fersen unablässig in meinen Rücken. Vorne heult er, hinten tritt er. Der junge Adler will das elterliche Nest ganz offenkundig nicht verlassen. Aber es muss sein. Trink, Vogel, oder schwimm! Einst war auch mein Vater zwischen den muskulösen Schenkeln meines Großvaters eingeklemmt und hat es überstanden. Auch du wirst es überstehen, mein Sohn, das garantiere ich dir.
Durch das Megaphon schallt die Stimme des Bademeisters. »Sie dort! Ja, Sie! Lassen Sie den Kleinen in Ruh! Sie bringen das Kind ja in Lebensgefahr!«
Das ist typisch für die israelischen Verhältnisse. Statt einem Vater in seinen erzieherischen Bemühungen zu helfen, statt dafür zu sorgen, dass eine starke junge Generation heranwächst, schlagen sich die Behörden auf die Seite einer lärmenden Minorität. Bitte sehr. Mir kann’s recht sein.
Ich steige mit dem jungen Adler ans Ufer, lasse ihn brüllen und springe mit elegantem Schwung in die kühlen Wogen zurück, mit einem ganz besonders eleganten Schwung, der mich kühn über die aus dem Wasser herausragenden Köpfe hinwegträgt … weit hinaus in das Schwimmbecken … dorthin, wo es am seichtesten ist …
Die Wiederbelebungsversuche des Bademeisters hatten Erfolg.
»Unglaublich«, sagt er, indem er meine Arme sinken lässt. »Und Sie wollen einem Kind das Schwimmen beibringen.«