Wozu der Lärm?

Mit Wehmut erinnere ich mich an meinen verstorbenen Vater. Das Erste, was er tat, wenn er aus dem Büro nach Hause kam: Er stellte das Radio ab. Das waren Zeiten. Heute verhält es sich umgekehrt. Wenn das Haupt unserer Familie, mein Sohn Amir, aus der Schule nach Hause kommt, dreht er alle lärmerzeugenden Apparate an, die ihm unter die Hand kommen, das Radio, den Plattenspieler, das Fernsehen, den elektrischen Mixer – gleichgültig, was es ist, Hauptsache, dass es lärmt. Die junge Generation liebt den Lärm. Je lauter, desto besser. Verlässlichen Berichten zufolge wächst die Zahl der Eltern, die nur noch mit Watte in den Ohren herumgehen, ständig an.

Manchmal entdecke ich beim Betreten meines Arbeitszimmers, dass sämtliche Kugelschreiber und Bleistifte vom Schreibtisch auf den Boden gerollt sind. Dann weiß ich, dass Amir die neueste »Rolling Stones«-Platte gespielt hat, mit der Lautstärke einer Concorde-Maschine. Die Concorde ist bekanntlich jener Flugzeugtyp, dem ebendarum, der Lautstärke wegen, in New York die Landeerlaubnis verweigert wurde.

Ebenso vielversprechend entwickelt sich Renana, unsere Jüngste. Wenn sie ihre Lieblingsplatten abspielt, klirren die Fensterscheiben, Gemälde fallen von den Wänden, und vergangene Woche bewirkte der Luftdruck eines von ihr veranstalteten »Elvis Presley« Revivals, dass der Kühlschrank aufging und sich entfrostete.

Mein Nachbar Felix Selig hat in seiner Wohnung ganz ähnliche Wirkungen einer »Rolling Stones« Platte festgestellt. Als die Decke einstürzte, blickten seine Zwillingssöhne nicht einmal auf. Ungerührt hockten sie in der Ruine und lauschten ihren Idolen.

»Damals«, so erzählte mir Felix, »verlor ich die Geduld und begann zu brüllen. ›Zum Teufel, könnt ihr diese Stones nicht etwas leiser spielen?‹ brüllte ich.«

»Bravo! Und was sagten die Zwillinge?«

»Nichts. Sie hatten mich gar nicht gehört.«

Auch ich rebellierte einmal gegen den Höllenlärm ringsum. Wütend betrat ich das Kinderzimmer, ging direkt auf Amir zu und schrie ihn an: »Genug! Aufhören! Ruhe!«

Amir, mein bekanntlich rothaariger Sohn, drehte den Apparat auf eine etwas höhere Lautstärke.

Ich nahm Papier und Bleistift zur Hand.

»Schluss mit dem Krach!«, schrieb ich.

»Mit welchem Krach?«, schrieb Amir zurück.

Sie sind ganz anders geartet als wir, unsere Kinder. Vielleicht sind sie schon mit verdicktem Trommelfell zur Welt gekommen. Vielleicht besitzen sie eine uns verschlossene Empfänglichkeit für Klangeffekte. Denn es ist nicht etwa die Musik, die sie fasziniert. Es ist der schiere, der lautere Lärm. Sie können, ich habe es bei meinen drei Sprösslingen oft genug beobachtet, stundenlang einer in der Rille steckengebliebenen Nadel zuhören: Abani – bani – bani – bani … Am wohlsten fühlen sie sich bei einer Kombination von Radio plus Fernsehen plus Elvis plus Trommeln der Fäuste auf den Tisch.

Eine Vorahnung davon findet sich schon im Alten Testament. »Wahrlich«, heißt es bei Jeremias (X,22), »wahrlich, es ist ein großes Lärmen über uns gekommen und ein großer Aufruhr, und die Städte Judas werden verwaist sein und die Wohnungen Israels werden gleichen den Drachenhöhlen.« Und das war vor Erfindung des Stereo.

Gestern ist uns unsere Katze entlaufen. Es geschah, als Rafi, mein Ältester, die Band Pink Floyd entdeckte. Angeblich wimmelt es in der Stadt von tauben Katzen. Wenn Renana »Abba« sagt, was hebräisch so viel wie »Papa« bedeutet, meint sie das gleichnamige schwedische Combo-Quartett, nicht mich. Mich meint sie überhaupt nicht mehr. Keines meiner Kinder nimmt noch irgendeine Notiz von mir. Bestenfalls werde ich bemitleidet.

»Ich brauche gute Musik«, erklärte mir Amir. »Sonst kann ich mich nicht für die Abschlussprüfungen vorbereiten. Ich muss mich konzentrieren.«

Meine Kinder halten mich für einen alten, überflüssigen Lappen, für ein nutzloses Fossil. Sei’s drum. Ich weiß, dass ich wenigstens nicht als einziger in dieser traurigen Lage bin. Ich kenne viele Väter, denen es genauso ergeht. Eines Tages werden wir uns alle, mit Hörrohren ausgerüstet, in einer aufgelassenen Drachenhöhle treffen.

In Amerika tun die Angehörigen der jungen Generation keinen Schritt ohne dröhnend aufgedrehtes Radio. Wahrscheinlich bereiten sie sich auf ihre Abschlussprüfungen vor.

Mein Zahnarzt behauptet, man müsse der irregeleiteten Jugend mit psychologischem Raffinement beikommen.

»Sie lärmen mit Absicht«, sagte er. »Weil sie wissen, dass wir das nicht vertragen. Und sie freuen sich, wenn sie uns leiden sehen. Das darf man ihnen natürlich nicht zeigen. Deshalb bitte ich meinen Danny immer, das Radio oder den Plattenspieler stärker aufzudrehen.«

»Und wie reagiert Ihr Danny?«

»Er dreht stärker auf.«

Im Notfall greift mein Zahnarzt zu einem Abwehrmanöver, das er »Wurzelbehandlung« nennt. Er packt das Übel an der Wurzel. Vermittels eines Wackelkontakts, den kein anderes Mitglied seines Haushalts kennt, stellt er einen Kurzschluss her. Gegen das Radio hilft das zwar nichts, aber schon die kleine Ruhepause, die in der dunklen Wohnung eintritt, ist eine Wohltat.

Ich meinerseits denke nicht daran, mich geschlagen zu geben. Ich bin eine Kämpfernatur. Letzten Samstag haben Seligs Zwillinge unten im Garten eine Party veranstaltet. Eine Party? Eine Concorde-Massenlandung. Um 3 Uhr früh befand ich mich in jenem Zustand, in dem selbst der härtest gesottene Spion zusammenbricht und alles gesteht. Es war mir klar, dass ich im Augenblick nichts tun konnte. Hätte ich polizeiliche Hilfe angefordert, so hätte sich lediglich die Zahl der tauben Polizisten um zwei vermehrt. Aber am folgenden Tag wurde ich aktiv und suchte unser führendes Warenhaus auf, Abteilung Musikinstrumente.

»Geben Sie mir die stärkste Trompete, die Sie auf Lager haben«, heischte ich. »Die größte. Die lauteste. Ich brauche sie für Abschreckungszwecke.«

Zu Hause wartete ich auf die nächste Concorde-Party. Mit der Trompete in der Hand stand ich am offenen Fenster. Als ungefähr zehn Maschinen gleichzeitig landeten, füllte ich meine Lungen mit Oxygen und ließ einen Fanfarenton erschallen, der eine Herde ausgewachsener Elefanten in die Flucht geschlagen hätte. Da sich das Trompetenblasen als erstaunlich leicht erwies – jeder Vater mit genügend Wut im Bauch ist dazu imstande –, folgte alsbald eine weitere Fanfare.

»Tuut – tutuut – tuut!«

Die im Garten versammelte junge Generation wurde allmählich aufmerksam, blickte verwundert zu meinem Fenster empor und bedachte mich, als ich eine Atempause einlegen musste, mit lebhaftem Applaus. Angeregt und ermutigt fuhr ich fort. Meine Leistung steigerte sich, je besser ich meinen Speichel unter Kontrolle bekam. Die Schlusspassage musste ich auf allgemeines Verlangen wiederholen.

Tags darauf klopfte mir mein Sohn Amir anerkennend auf die Schulter, zum ersten Mal seit 15 Jahren. »Meine Freunde finden, dass du gar nicht so übel bist. Kein solcher Musikmuffel wie andere Väter.«

»Bin ich auch nicht.« Ich konnte ein Gefühl der Genugtuung nicht unterdrücken. »Also macht dir dein Vater keine Schande, was?«

»Du bist okay, Alter«, sagte Amir.

Wirklich, ich verstehe nicht, warum manche Leute sich über ein bisschen Lärm so aufregen.