Kinderliebe
Die überschäumende Kinderliebe der besten Ehefrau von allen begann etwa achtzehn Monate vor der Geburt unseres gemeinsamen Zweitgeborenen Amir. Jenes Amirs, der blauen Auges und flammenden Haares durchs Leben schreitet, ebenso wie König David in den Tratschkolumnen der Antike beschrieben wurde. Wachsam und umsichtig wie immer hat die beste Ehefrau von allen schon in diesem frühen Stadium unserer Familienplanung entdeckt, dass das wesentliche Problem der Kindererziehung die Anschaffung eines verlässlichen Babysitters ist. Das ist zwar ein weltweites Problem, aber es ist nahezu unlösbar in einem Staat, der gerade in dem Moment seine Jungen und Mädchen zum Militär schickt, da sie die notwendige Reife für einen Babysitter erreichen. Sogar wenn einmal einer greifbar ist, bekommt man ihn nicht ohne erschwerende Umstände. Die Bedingungen sind folgende: eine wilde Orgie für den Babysitter und seinen Freundeskreis in sämtlichen Räumen unseres Hauses, einige Tonbänder mit heißer Tanzmusik, kühle Erfrischungen, freier Transport hin und zurück sowie ein drahtloses Funkgerät (auch »Walkie-Talkie« genannt). »In Mühsal und Plage sollt ihr eure Kinder großziehen«, sagt die Bibel und nimmt damit sicherlich Bezug auf das Babysitterproblem.
»Ich glaube«, sagte die beste Ehefrau von allen, als sie unseren König David im fünften Monat unter dem Herzen trug, während ihr Blick, das Land der Griechen mit der Seele suchend, weit über das Meer schweifte: »Ich glaube, Medea hat ihre Kinder nur deshalb getötet, weil sie keinen Babysitter bekommen konnte.«
Ein Gedanke, der nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen ist.
Im siebenten Monat ihrer Schwangerschaft mit Amir kam sie eines Tages mit einer älteren Dame nach Hause. Diese ließ sich im Wohnzimmer nieder, holte aus ihrer Tasche einen größeren Vorrat an Frauenmagazinen sowie Stricknadeln und einen überdimensionalen Wollknäuel. Sie vertiefte sich mit einem Auge in die Lektüre, mit dem anderen strickte sie zwei glatt, zwei verkehrt. Nach etwa drei Stunden wurde ich etwas nervös und verlangte eine Erklärung von meiner Frau.
»Ich habe nicht die Absicht, erst im letzten Moment unser Land nach einem Babysitter zu durchkämmen«, teilte mir das kleine Weib mit dem großen Bauch mit. »Frau Fleischhacker wird bis zur Ankunft des Babys dreimal wöchentlich kommen und danach fünfmal wöchentlich. Sie hat als Babysitter langjährige Erfahrung, und ich lasse sie mir nicht vor der Nase wegschnappen.«
Meine Frau produzierte zur vorgesehenen Zeit unseren zweiten Freudenspender ohne größere Schwierigkeiten, und nach einem flüchtigen Blick auf das rosa Etwas, das vorläufig noch vornamenlos neben ihr lag, rief sie aus: »Sag selbst, sieht er nicht wie ein kahler blonder Engel aus?«
In der Farbe hat sie sich geirrt. Was den Engel betrifft, so mussten wir gemeinsam mit unseren Nachbarn, sofern sie nicht weggezogen sind, bald die Entdeckung machen, dass unser Sohn, hätte er zur Zeit des Falles von Jericho gelebt, in der Lage gewesen wäre, diese Mauern eigenhändig zu Fall zu bringen – oder sollte ich sagen eigenstimmig? Er konnte stundenlang brüllen, unser Amir, er brüllte, bis sein Gesicht blau anlief, und nur eines konnte ihn davon abhalten: Bewegung. So wie jeder waschechte Israeli war er nur dann schweigsam und glücklich, wenn er auf Reisen war. Ich könnte ein ganzes Buch über dieses Thema schreiben: »Wanderjahre mit meinem Sohn«. Genau das war’s, was wir die ersten drei Jahre seines Lebens taten: Kinderwagen schieben. (Davon blieb mir bis zum heutigen Tag die traumatische Abneigung gegen Supermärkte.) Wann immer ich an der Reihe war, den Kinderwagen zu schieben, und versuchte, mich dem vorsichtig zu entziehen, erklärte mir die beste Mutter von allen, dass das Kind unter Winden im Bäuchlein leide.
»Freilich«, erwiderte ich, während ich erschöpft meinen Nachkömmling auf der Terrasse hin und her schob, »und wenn ich ihn im Kinderwagen schaukle, hat er keine Winde?«
»Nein«, sagte die beste Ehefrau von allen, »dann nicht.«
Das Ergebnis dieser verpfuschten Erziehung sollte siebzehn Jahre später klar zutage treten. Amir bekam einen Tobsuchtsanfall, als meine Frau sich weigerte, ihm zwei Minuten nach seiner bestandenen Fahrprüfung ihren Wagen zu leihen. Als ich sah, wie sich mein rothaariger Sohn in seiner ganzen Länge auf den Boden warf und schrie: »Auto! Amir will Auto!«, sagte ich meiner Frau mit der mir eigenen Ruhe: »Ich glaube, das Kind hat noch immer Winde im Bäuchlein.«
Die Antwort meiner Allerbesten soll aus dem Protokoll gestrichen werden.
Zum Thema Kindererziehung, wie gesagt, hatten wir schon immer divergierende Ansichten. Die beste Ehefrau von allen zum Beispiel hatte die letzten achtzehn Jahre nicht wenig Kinderfotos in ihrer Handtasche. Und alle diese Fotos zeigte sie denen, die an Kindern interessiert waren oder nicht.
»Ein Kind kann sich ändern«, argumentierte sie, »aber auf dem Foto bleibt es immer so, wie es ist.«
Was unsere beiden Kinder betrifft, so sind sie natürlich sehr lieb und klug und neurotisch vom Scheitel bis zur Sohle. Dazu möchte ich jedoch hier einen Luftpostbrief veröffentlichen, den mir die beste Ehefrau von allen vor sechzehn Jahren geschrieben hat.
Mein lieber Ephraim,
seit Du weg bist, ist viel passiert in unserem Land. Ich werde versuchen, Dir alles Wesentliche zu berichten. Solange es geht, das heißt, solange Amir noch im Garten spielt.
Du wirst Deinen Sohn nicht wiedererkennen, wenn Du zurückkommst. Er ist ein lieber, ruhiger, guterzogener Bub geworden. Jetzt spielt er ganz alleine im Garten, ohne dass jemand auf ihn aufpasst. Der süße Kleine.
Er ist auch sehr gewachsen. Wenn er zum Beispiel auf Zehenspitzen steht, kann er die Wäsche erreichen, die zum Trocknen auf der Leine hängt, und ein Wäschestück nach dem anderen herunterziehen.
So weit also Amir. Jetzt will ich Dir über die politische Lage in unserem Land berichten. Aber vorher möchte ich Dir erzählen, wie ich meine Tage verbringe.
Also, mein Tag beginnt normalerweise um drei Uhr in der Nacht. Um diese Zeit wacht nämlich Amir auf und kriecht unter meine Decke. Er hängt so an mir, der kleine Goldschatz. Kaum dass er mich sieht, macht er sein Mündchen auf und ruft: »Dadada.« Was er damit sagen will, weiß ich nicht. Vielleicht glaubt er, dass es mein Name ist. Übrigens passiert es sehr oft, dass ich mich frage, was er meinen könnte. Er plappert nämlich den ganzen Tag, er ist ein ungewöhnlich begabtes Kind. Nur verstehe ich nicht, was er sagt.
Also, was die Lage betrifft: Zwischen drei Uhr nachts und neun Uhr vormittags spielen wir, Amir und ich. Dann, wenn wir müde sind, geht Amir schlafen. Du müsstest ihn mal sehen, wenn er schläft: wie ein kleiner Engel. Stell Dir vor, er streckt sich ganz in seinem kleinen Bett aus, mit seinem goldroten Lockenkopf auf dem Polster, und schließt die Augen! Und das ist noch nicht alles! Er atmet durch seine hübsche kleine Nase aus und ein und ein und aus.
Wie findest Du das?
Ich war gerade im Garten, um nachzusehen, was er macht. Du wirst es nicht für möglich halten, aber er fängt Schmetterlinge. Er liebt Schmetterlinge. Unser neuer Hausarzt sagt, dass es ihm nicht schaden wird. Ich meine seinem Magen.
Da fällt mir ein, dieser aufdringliche Doktor sagt, dass er bei uns einziehen sollte. Er will sich offenbar das ewige Hin- und Herfahren von seinem Haus zu unserem ersparen.
Jetzt zu den neuesten Ereignissen in unserem Land. Zu dumm, dass ich sie nicht sehen konnte. Unser Fernsehapparat ist nämlich kaputt, weil Amir ihn getreten hat. Der Kleine hat geglaubt, dass es ein eckiger Hund war. Ist das nicht merkwürdig, wie er vor nichts und niemand Angst hat, unser Bub?
Gestern hat er alles, was auf Deinem Schreibtisch lag, aus dem Fenster geworfen. Der Doktor sagt, das sei vollkommen natürlich, weil er Zähne bekommt. Amir, nicht der Doktor. Vielleicht hat er recht. Neulich hat Amir beispielsweise seine kleinen Zähne in ein Polster gegraben und es dann kräftig durchgebissen. Dann hat er die Federn aus dem Polster geschüttelt und durch das ganze Zimmer gewirbelt. Und dieses Kind hat noch nie in seinem Leben Schnee gesehen!
Ich habe eben hinausgesehen. Amir ist jetzt in den Nachbargarten gegangen, weil es in unserem Garten keine Blumen mehr gibt. Er liebt die Blumen genauso wie die Schmetterlinge. Er hat sich jetzt gerade mit der Katze unserer Nachbarn angefreundet. Er versucht, sie am Schwanz durch den Zaun zu ziehen. Die Katze nennt er auch »Dadada«.
Jetzt wollte ich Dir über die Inflation berichten, aber er weint draußen. Ich schaue nach, was los ist.
Du wirst es nicht erraten, was passiert ist! Du erinnerst Dich doch sicher, wie gern Amir Schallplatten spielt? Jedenfalls hat er jetzt eine nach der anderen über den Gartenweg gerollt, aber plötzlich ist Tschaikowskys erstes Klavierkonzert davongetrudelt, und da begann er zu weinen. Ich kann es nicht aushalten, wenn er weint, es bricht mir das Herz.
Also habe ich ihn gefragt: »Amiri, mein kleiner Liebling, sag doch Dadada, wo Tschaikowskys Klavierkonzert ist.« Da zeigte er mit seinem kleinen süßen Finger auf den Akazienstrauch auf der anderen Straßenseite. (Du erinnerst Dich, wo wir die zerbrochene Fensterscheibe hingeworfen haben.) Also gehe ich hin zu den Akazien, um Tschaikowsky zu holen. Was glaubst Du, was ich dort fand? Nichts! Er hat mich an der Nase herumgeführt, der kleine Fuchs!
Dass Du derzeit krank bist, tut mir leid. Amir hat gestern auch geniest. Kein Wunder, schließlich ist er knöcheltief durchs kalte Wasser gewatet. Ich habe übrigens vergessen, Dir zu erzählen: Während ich ihm Milchschokolade besorgte, hat er alle Wasserhähne im Haus geöffnet. Glaub ja nicht, dass ihm das irgendjemand gezeigt hat. Das hat er ganz allein herausgefunden. Mach Dir keine Sorgen, die Versicherungsleute sind sehr zuvorkommend. Sie haben mir einen Bonus angeboten, wenn ich Amir zu Dir ins Ausland schicke. Sie haben sich in das Kind auf den ersten Blick verliebt.
Das wäre also alles, was ich über die Lage in unserem Land zu berichten habe. Schreib mir bald wieder und erzähle mir, wo Du überall warst, und vor allem, was die Kinder dort anziehen, was sie essen und wie alt sie sind.
In Gedanken stets bei Dir
Deine Dadada
PS: Wenn Du mir wieder einen Brief schreibst, ruf mich an und lies ihn mir vor. Unser Briefträger will nicht mehr kommen. Er hinkt.