Ich kam, sah und durfte nicht siegen
Von einer Auslandsreise brachte ich meinem Sohn Amir ein Tischfußballfeld mit, ein sinnreiches, großartig konstruiertes Spielzeug, nicht unähnlich den illuminierten Spieltischen, um die sich in unseren Strandkaffeehäusern langhaarige Jugendliche scharen. Der Fußballtisch besteht aus einem hellgrün angestrichenen Spielfeld mit einem Tor an jedem Ende und einer Anzahl von Querstangen, an denen eine beiderseits gleiche Anzahl von grünen und roten Spielerfiguren befestigt ist.
An beiden Enden jeder Querstange befindet sich ein Griff, durch dessen Drehung die Spielerfiguren so bewegt werden können, dass sie einen kleinen hölzernen Ball auf das gegnerische Tor zutreiben und womöglich ins Tor hinein. Es ist ein bezauberndes Spiel, bestens geeignet, den Geist edlen Wettkampfs in einem Kind oder sogar in einem Erwachsenen zu wecken, zu hegen und zu pflegen, kurzum, den Spieler zu wahrer Sportlichkeit zu erziehen. Oder so heißt es jedenfalls im beigefügten Reklametext.
Amir fand an der Sache sofort Gefallen. Anfangs machte er mir den Eindruck einer gewissen Unbeholfenheit, aber es stellte sich bald heraus, dass er für das Minifußballspiel überhaupt keine Eignung besaß. Nun, was soll’s. Er kann sehr hübsch zeichnen und sehr gut kopfrechnen, also verschlägt’s nicht viel, dass er über keine besonders hochentwickelte manuelle Geschicklichkeit verfügt. Nicht als wäre er außerstande, die Handgriffe an den Querstangen zu betätigen. Er betätigt sie. Nur gerät der Ball bei ihm niemals in die Richtung des gegnerischen Tors. Ich mache mir deshalb keine übermäßigen Sorgen. Der Junge ist recht intelligent und lebhaft.
Am lebhaftesten ist sein Ehrgeiz entwickelt. Amir will unbedingt Sieger bleiben. Wann immer er ein Tischfußballspiel gegen einen seiner Klassenkameraden verliert, wird sein Gesicht so rot wie seine Haare, und dicke Tränen rinnen ihm über die Wangen. Obendrein ist er, um das Unglück voll zu machen, ein leidenschaftlicher Tischfußballspieler.
Er träumt von nichts anderem als von diesem Spiel und natürlich davon, dass er gewinnt. Er hat den Holzpuppen, die seine Mannschaft bilden, sogar Namen gegeben. Die Stürmer heißen samt und sonders Pelé, der Tormann heißt Jaschin, und alle Übrigen heißen Bloch, nach dem besten Fußballspieler seiner Klasse.
Infolge der zahlreichen Niederlagen, die er von seinen Altersgenossen erdulden musste, will Amir neuerdings nur noch gegen mich antreten. Dabei wirft er mir stumme Blicke zu, als wollte er mich beschwören: »Verlier, Papi! Bitte verlier!«
Ich muss gestehen, dass ich sein Verhalten als unfair empfinde. Warum soll ich verlieren? Auch ich siege lieber wie jeder normale Mensch. Wenn er gewinnen will, dann soll er eben besser spielen. Als ich in seinem Alter war, sammelte ich Schmetterlinge und konnte jeden Wecker klaglos auseinandernehmen.
Ich versuchte ihm meine Haltung zu erklären.
»Pass auf, Amir. Ich bin groß, und du bist klein, stimmt das?«
»Ja.«
»Was würdest du von einem Papi halten, der sich von seinem kleinen Sohn schlagen lässt? Wäre ein solcher Papi in deinen Augen etwas wert?«
»Nein.«
»Warum machst du dann so ein Theater, wenn du verlierst?«
»Weil ich gewinnen will!«
Und er begann heftig zu schluchzen.
An dieser Stelle griff seine Mutter ein.
»Lass ihn doch nur ein einziges Mal gewinnen, um Himmels willen«, flüsterte sie mir zu. »Du musst auf seine Selbstachtung Rücksicht nehmen. Wer weiß, was für seelischen Schaden du ihm zufügst, wenn du immer gewinnst …«
Ich unternahm eine übermenschliche Anstrengung, um seine Selbstachtung zu steigern. Immer wenn einer seiner Pelés den Ball gegen mein Tor trieb, holte ich meinen Tormann höflich aus dem Weg, nur um meinem armen, misshandelten Kind eine Chance zu geben, wenigstens einmal ein Tor zu schießen. Aber nichts da. Er kann sehr gut kopfrechnen, aber er wird wohl nie imstande sein, einen hölzernen Ball selbst in ein Tor zu treiben.
Angesichts solcher Unfähigkeit verfiel ich auf den verzweifelten Ausweg, ein Eigentor zu schießen. Ich drehte die Kurbel meines Mittelstürmers … der Ball sprang an die Querstange … sprang zurück … und rollte langsam und unaufhaltsam in Amirs Tor.
Neuerliches Geheul war die Folge und wurde von einem hemmungslosen Wutausbruch abgelöst. Der leicht erregbare Knabe packte das Tischfußballspiel, schleuderte es zu Boden, mitsamt allen Querstangen, Spielern und dem Holzball. »Du willst mich nicht gewinnen lassen!«, brüllte er. »Das machst du mit Absicht!«
Ich hob das verwüstete Spiel auf und installierte es behutsam auf dem Tisch. Dabei merkte ich, dass drei meiner Spieler ihre Köpfe verloren hatten und nur noch halb so groß waren wie zuvor.
»Jetzt hast du mir die Mannschaft zerbrochen«, sagte ich. »Wie soll ich mit diesen Stürmern weiterspielen? Sie kippen ja um und können den Ball nicht weitertreiben.«
»Macht nichts.« Mein eigen Fleisch und Blut blieb ungerührt. »Spielen wir trotzdem weiter.«
Und in der Tat: Kaum hatten wir das Match wiederaufgenommen, gewann Amir allmählich die Oberhand. Ich konnte meine verkürzten Spieler drehen und wenden, wie ich wollte – sie waren zu Statisten verurteilt. Auf Amirs Seite hingegen wanderte der Ball unbehindert von Bloch zu Pelé, von Pelé zu Pelé II – und endlich – endlich – ich hob sicherheitshalber das eine Ende des Tisches ein wenig hoch – endlich landete der Ball in meinem Tor.
»Hoho!« Aus Amirs Siegesruf klang unverhohlener Triumph. »Tor! Tor! 1:0 für mich! Ich hab dich geschlagen! Hoho! Ich bin der Sieger …«
Am nächsten Tag waren alle meine Spieler kopflos. Ich hatte sie geköpft. Für das Selbstbewusstsein meines Sohnes ist mir nichts zu teuer.