Festival im Ferienlager
Als unsere süße kleine Renana ins Leben trat, beherrschte sie die Familie von Stund an. Unser Nachwuchs war somit verdreifacht, und ebenso verdreifachte sich der daraus resultierende Lärm.
Lärm? Falsch. Das rechte Wort dafür muss noch erfunden werden. Es handelte sich um eine Collage von Schreien und Brüllen, begleitet vom Stampfen unzähliger Füße, von Türenknallen, ohrenbetäubendem Krach herumgeworfener Gegenstände. Man brauchte viel Zeit, bis man sich dran gewöhnt hatte.
»Ist dir schon aufgefallen«, bemerkte eines Tages die beste Ehefrau von allen mit nachdenklichem Blick, »wie öd und leer unser Haus wirkt, wenn die Kinder nicht daheim sind?«
Meine Einstellung war da wesentlich gemäßigter. Meiner Meinung nach kann hin und wieder ein bisschen Leere nicht schaden. Natürlich spreche ich nicht von üblichen Werktagen, an denen die Kinder in den Mauern ihrer Schule eingekerkert sind und als Folge davon in unserem Haus eine himmlische Ruhe einkehrt. Nein, ich spreche von der teuflischen Erfindung »Schulferien«, wenn die Kinder den ganzen Tag daheim verbringen und uns langsam, aber sicher dem Wahnsinn in die Arme treiben.
Die einzige Erlösung aus diesem Pandämonium heißt »Ferienlager«, es möge blühen und gedeihen. Dies ist ein gesegneter Ort, an den die Kinder und ihr Lärm für die gesamte Dauer der schulfreien Zeit verbannt werden.
Man hat zum Glück eine reiche Auswahl. Es gibt Lager, in denen die schönen Künste Priorität haben, andere betonen Sport und körperliche Ertüchtigung der Kinder, wieder andere widmen sich dem intellektuellen Training, und schließlich gibt es Lager, die an hohen Einnahmen interessiert sind. Alle aber haben etwas gemeinsam, sie erzeugen Ruhe und Frieden in den Elternhäusern. Außer natürlich im Elternhaus meiner Kinder.
Die beste Mutter von allen weigerte sich nämlich standhaft, auch nur einen einzigen Tag ohne ihre kleinen Engel zu leben. Ich habe ihr in diesem Punkt zwölf ohrenbetäubende Sommer lang nachgegeben.
Zwölf Jahre lang – dann brachen wir zusammen.
»Hör zu«, sagte die beste Ehefrau von allen plötzlich im letzten Sommer, während sie sich die Watte aus den Ohren zog, »glaubst du nicht auch, dass ein Ferienlager für die geistige Entwicklung unserer Kinder vielleicht von Vorteil sein könnte?«
So geschah es also, dass wir Renana während der diesjährigen Schulferien bei Elisheva Holzer deponierten. Wir sagten uns, es könnte ihr nichts schaden. Sie würde Spaß haben, könnte mit Gleichaltrigen zusammen sein, würde sich anpassen, unabhängiger werden – kurz: weg von zu Hause.
Nicht, dass uns die kleine Renana etwa auf die Nerven ginge. O nein! Sie ist ein süßes kleines Mädchen, auch wenn sie nicht bereit ist, etwas anderes zu essen als ihre Fingernägel, sich weigert, vor Mitternacht ins Bett zu gehen, den ganzen Tag ihr Haar kämmt, weder Milch noch Grammatik mag, bei jedem unserer unauffälligen Erziehungsversuche zu brüllen beginnt, mit Dingen um sich wirft und arabisch flucht …
Also brachten wir sie zu Elisheva Holzer. Wir taten es nur ihr zuliebe. Nur ihr Wohlergehen hatten wir im Auge und den nahöstlichen Friedensprozess im Allgemeinen. Anfangs hatten wir das schöne Feriencamp mit den bezaubernden Ponys erwogen, aber Elisheva Holzer lag näher.
Wir lieferten unsere Renana an Elishevas Tor ab und fuhren davon, ohne auch nur einen einzigen Blick durch den Rückspiegel zu riskieren. Mehr noch: Wir schworen einander hoch und heilig, uns während einer ganzen Woche nicht nach ihr zu erkundigen.
Erst als wir zu Hause ankamen, stürzte die beste Ehefrau von allen zum Telefon und fragte Frau Holzer, ob sich unser armes Küken mit seinem Schicksal abgefunden hätte, und überhaupt, wie es ihr gehe.
»Ich bin sicher, dass Ihr Kind hier sehr glücklich sein wird«, sagte Elisheva, »vorausgesetzt, dass die Kleine nicht ununterbrochen belästigt wird.«
Wir teilten den Holzer’schen Optimismus nur bedingt. Schließlich kannten wir den kleinen Satansbraten. Wir beneideten die Holzer nicht eine Sekunde.
Zwei Tage vergingen. Dann kam die beste Ehefrau von allen mit einem genialen Vorschlag: Wir könnten doch ganz beiläufig an Elishevas Ferienlager vorbeifahren, um einen Blick hineinzuwerfen. Ich hatte grundsätzlich nichts dagegen, und so begaben wir uns auf eine Erkundungsreise. In unseren Köpfen spukte die Vision von einem tränenüberströmten kleinen Mädchen und einer kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehenden Holzer.
»Die arme Elisheva«, seufzte die beste Ehefrau von allen, »eigentlich ist sie doch eine sympathische Person.«
Die Realität ließ unsere Schreckensvision zu nichts verblassen. Ein Blick über den Zaun zeigte uns eine Renana, die mit anderen Kindern im Gras kauerte und ein Buch las. Ein echtes Buch! Und sie blätterte es nicht nur missmutig durch, sie las darin. Und das zu einer Zeit, da im Fernsehen schon der Zeichentrickfilm begonnen hatte! Niemals – ich sage niemals – wäre so etwas zu Hause denkbar gewesen. Erschüttert brachen wir das Tor auf und liefen der Holzer direkt in die Arme. Sie drängte uns in eine Ecke.
»Das Kind passt sich an«, flüsterte sie, »warum stören Sie?«
»Verzeihen Sie«, sagten wir, »wir wollten nur wissen, wie Sie das Kind während des Trickfilms zum Lesen bringen.«
Wortlos führte uns Frau Holzer zu einer schwarzen Tafel, auf der ein »Tagesplan« verzeichnet war.
»Das Kind liest nicht«, belehrte sie uns mit herablassendem Lächeln. »Renana nimmt an einem ›Buch-Festival‹ teil. In Kürze werden wir uns dem Abendessen zuwenden.«
»Was«, keuchte meine Frau, »was gibt’s denn zum Abendessen?«
»Verschiedene Milchspeisen.«
Milch! Wir konnten es nicht fassen. Um den Wahrheitsgehalt von Elishevas Behauptung zu überprüfen, blickten wir wieder auf die Tafel, und dort lasen wir weiß auf schwarz:
»Heute um 18.30 Uhr Beginn des großen Milch-Symposions und um 21 Uhr Startschuss zur Schlaf-Olympiade.«
»Um neun Uhr«, rief die beste Ehefrau von allen verdattert. »Sie geht, verdammt noch einmal, um neun Uhr zu Bett?«
Die Holzer hingegen lächelte nur. Wir überflogen das Programm des nächsten Tages. Es begann mit einem »Zahnputz-Konzert«, gefolgt von einem »Reinigungs-Trip«. Was uns den Rest gab, war ein »Grammatik-Hürdenlauf«, der gleich nach dem »Geschirrspül-Jamboree« stattfinden sollte.
»Madame«, ich verneigte mich tief vor Elisheva, »Sie sind ein Genie.«
»Na ja«, meinte sie, »so sagt man allgemein.«
Unsere Tochter hatte uns inzwischen erspäht. Fröhlich tanzte sie auf uns zu. Ihr Gesicht glühte vor penetranter Lebensfreude.
»Gleich gibt’s Abendessen!«, jodelte sie. »Wiedersehn!«
Und weg war sie, um am »Fingernägel-Karneval« teilzunehmen. Das war ein gesellschaftliches Ereignis, dessen besonderes Merkmal darin bestand, dass die Teilnehmer ihre Fingernägel mit der Schere zu schneiden hatten, anstatt sie ungekocht zu verzehren.
Ich spürte, wie die beste Ehefrau von allen an einem akuten Minderwertigkeitskomplex zu leiden begann. Mit Recht übrigens, die Holzer war eine meisterhafte Pädagogin.
Meine Frau wandte sich an die große Erzieherin. »Fabelhaft! Ich bewundere Sie!«
Wir verabschiedeten uns. Am Tor fing uns Renana ab und zog unsere Köpfe zu sich herunter.
»Gestern«, kicherte sie selig in unsere Ohren, »gestern hatten wir um acht Uhr eine ›Licht-aus-Orgie‹!«
Um acht Uhr! Sie ist tatsächlich um acht Uhr ins Bett gegangen, diese kleine Schlange.
Auf der Heimfahrt war die Luft in unserem Wagen ein wenig stickig. Meine Frau schlug vor, Renanas Aufenthalt bei Elisheva Holzer drastisch abzukürzen, auf dass sie nicht Schaden nähme an Leib und Seele.
»Warum?«, fragte ich. »Sie scheint doch sehr glücklich zu sein.«
»Ebendarum! Je glücklicher sie sich dort fühlt, desto niedergeschlagener wird sie zu Hause sein.«
Ich musste ihr recht geben. Unsere Kleine würde die Heimkehr als schrecklichen Abstieg empfinden. Also beschlossen wir, die Beste und ich, der großen Holzer einige Ideen zu stehlen, um ihre Pädagogik-Gags auch zu Hause anzuwenden.
Als Renana am Vorabend des ersten Schultages an unseren Busen zurückkehrte, schloss sie sich zunächst einmal in ihrem Zimmer ein. Dort fand sie über dem Bett folgende Nachricht: »Hurra! Morgen gibt’s eine Früh-aufsteh-Fiesta und anschließend einen Wieder-zur-Schule-Marathon!«
Ihre Zimmertür öffnete sich, und gemessenen Schrittes kam sie auf uns zu.
»He!«, sprach sie zu ihren Eltern. »Wer hat diesen Blödsinn verzapft?«
»Das war Mami«, sagte ich mit öligem Lächeln, »wir haben nämlich beschlossen, auch solche schönen Spiele und Partys zu veranstalten wie …«
»Zu Hause?« Renana zuckte die Achseln und ließ uns stehen. Wir verwarfen natürlich sogleich den Plan eines »Spinat-Kongresses«, und zum Abendbrot aß unsere Kleine, von einigen Fingernägeln abgesehen, so gut wie nichts.
Ich schlug der besten Ehefrau von allen vor, unsere Tochter das ganze Jahr bei Elisheva Holzer zu lassen, worauf sie mich einen Unmenschen nannte. Ich legte ihr nahe, an einem »Besenstiel-Rodeo« teilzunehmen, worauf sie etwas von einer »Idioten-Enquete« murmelte …
Was die Holzer betrifft, so haben wir sie immer schon für eine widerliche Ziege gehalten.