Das Wunderkind

Ich liebe es, auf Parkbänken zu sitzen, aber nur im Winter. Denn da sich während der kalten Monate nur ein Irrsinniger ins Freie setzen würde, kann ich in Ruhe meine Kreuzworträtsel und Quizfragen lösen und vielleicht ein wertvolles Buch gewinnen, ohne dass mich jemand stört. So saß ich auch gestern wieder im Dezembersonnenschein auf meiner Bank und stellte mit Genugtuung fest, dass mir kein Gespräch drohte.

Gerade als ich dabei war, 7 links senkrecht einzutragen, näherte sich von rechts waagerecht eine kümmerliche, farblose Erscheinung männlichen Geschlechts, blieb stehen, wandte sich an mich und fragte: »Ist hier frei?«

Mein »Ja« war kurz und alles eher als einladend, aber das hinderte den Störenfried nicht, sich auf das andere Ende der Bank niederzulassen. Ich vertiefte mich demonstrativ in meine senkrechten und waagerechten Probleme, wobei ich mittels gerunzelter Brauen anzudeuten versuchte, dass ich in meiner verantwortungsvollen Arbeit nicht gestört zu werden wünschte und dass niemand mich fragen sollte, ob ich diesen Park öfter besuche, ob ich verheiratet bin, was ich monatlich verdiene und was ich von unserer Regierung halte.

Der Mann neben mir schien meine isolationistischen Tendenzen zu wittern. Er übersprang die einleitenden Floskeln und ging sofort aufs Ganze. Mit einer einzigen, offenkundig routinierten Handbewegung schob er mir ein halbes Dutzend Fotos von Postkartengröße, einen Knaben darstellend, unter die Nase.

»Eytan wird übermorgen sechs Jahre«, gab mir der Begleittext bekannt.

Pflichtschuldig überflog ich die sechs Bilder, lächelte milde über das eine, auf dem Eytan die Zunge herausstreckte, und retournierte die mobile Ausstellung an den Besitzer. Dann vertiefte ich mich wieder in mein Kreuzworträtsel. Aber ich spürte in jeder Faser meines Nervensystems, dass ich dem Schicksal nicht entrinnen konnte. Und da kam es auch schon.

»Ganz wie Sie wollen«, sagte der Mann und rief dem in einiger Entfernung herumtollenden Knaben durch den Handtrichter zu: »Eytan, komm schnell her. Der Herr möchte mit dir sprechen.«

Eytan kam widerwillig herangeschlurft und blieb vor der Bank stehen, die Hände mürrisch in den Hosentaschen. Sein Vater sah ihn mit mildem Tadel an.

»Nun? Was sagt man, wenn man einen fremden Herrn kennenlernt?«

Eytan, ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen, antwortete: »Ich habe Hunger.«

»Das Kind lügt nicht«, wandte sich der Vater erklärend an mich. »Wenn Eytan sagt, dass er Hunger hat, dann hat er Hunger, da können Sie Gift darauf nehmen.«

Ich wies diese Zumutung energisch zurück und fragte den stolzen Erzeuger, warum er mir die Fotos gezeigt hätte, obwohl das Modell in Fleisch und Blut zugegen war.

»Die Fotos sind ähnlicher«, lautete die väterliche Antwort. »Eytan ist in der letzten Zeit ein wenig abgemagert.«

Ich brummte etwas Unverständliches und schickte mich an, die Bank und sicherheitshalber auch den Park zu verlassen. Mein Nachbar erstickte diese Absicht im Keim. »Das Kind hat ein fantastisches Talent für Mathematik«, raunte er mir hinter vorgehaltener Hand aus dem Mundwinkel zu, so dass Eytan nichts davon hören und sich nichts darauf einbilden konnte. »Er geht erst seit ein paar Monaten in die Schule, aber der Lehrer hält ihn schon jetzt für ein Wunderkind … Eytan, sag dem Herrn eine Zahl.«

»1032«, sagte Eytan.

»Eine andre. Eine höhere.«

»6527.«

»Also bitte. Haben Sie so etwas schon erlebt? Im Handumdrehen! Und dabei ist er erst sieben Jahre alt! Unglaublich, wo er diese hohen Zahlen hernimmt. Und das ist noch gar nichts. Eytan, sag dem Herrn, er soll an eine Zahl denken!«

»Nein«, sagte Eytan.

»Eytaaan! Du wirst den Herrn sofort bitten, an eine Zahl zu denken!«

»Denken Sie an eine Zahl«, grunzte Eytan gelangweilt.

Jetzt machte mein Nachbar wieder von der vorgehaltenen Hand und vom Mundwinkel Gebrauch.

»Drei! Bitte denken Sie an drei!« Dann hob er den Finger und wandte sich dem Gegenstand seines Stolzes zu. »Und jetzt werden wir den Herrn bitten, die Zahl, die er sich gedacht hat, mit zehn zu multiplizieren, nicht wahr, Eytan?«

»Meinetwegen.«

»Was heißt ›meinetwegen‹? Sprich anständig und in ganzen Sätzen.«

»Multiplizieren Sie die Zahl, die Sie sich gedacht haben, mit zehn«, leierte Eytan den vorgeschriebenen Text herunter.

»Weiter«, ermahnte ihn sein Vater.

»Dann dividieren Sie die neue Zahl durch fünf. Halbieren Sie die Zahl, die Sie dann bekommen – und das Resultat ist die Zahl, an die Sie zuerst gedacht haben.«

»Stimmt’s?«, fragte mein Nachbar zitternd vor Aufregung, und als ich bejahend nickte, kannte seine Freude keine Grenzen. »Aber wir sind noch nicht fertig! Eytan, sag jetzt dem Herrn, an welche Zahl er gedacht hat.«

»Weiß ich nicht.«

»Eytan!«

»Sieben?«, fragte das Wunderkind.

»Nein!«

»Eins?«

»Auch nicht!«, brüllte der enttäuschte Papa. »Konzentrier dich!«

»Ich konzentrier mich ja.« Der Kleine begann zu weinen. »Aber woher soll ich wissen, an welche Zahl ein fremder Mann denkt?«

Mit der Selbstbeherrschung des Vaters war es vorbei.

»Drei!« Seine Stimme überschlug sich. »Drei, drei, drei! Wie oft soll ich dir noch sagen, dass die Leute immer an drei denken?!«

»Und wenn schon«, quakte das gepeinigte Kind. »Was gehen mich Zahlen an? Immer nur Zahlen, immer nur Zahlen! Wer braucht das?«

Aber da hatte mein Nachbar ihn schon am Kragen und beutelte ihn in erhabenem Vaterzorn.

»Was sagen Sie dazu?«, keuchte er unter Verzicht auf Mundwinkel und vorgehaltene Hand. »Haben Sie schon jemals ein achtjähriges Kind gesehen, dass sich nicht einmal eine einzige Ziffer merken kann? Gott hat mich hart geschlagen.«

Damit machte er sich davon, den heulenden Eytan hinter sich herziehend. Ich sah ihm nach, bis seine gramgebeugte Gestalt im winterlichen Mittagssonnenschein verschwand.

Welch ein Fluch für einen Vater, wenn er erkennen muss, dass er dem eigenen Sohn rein gar nichts von seinem Genius vererbt hat.