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Wir versuchten, uns mit Richte auf dem Parkplatz zu unterhalten, aber es war, als spräche man mit jemandem, der im Flugzeug vorbeifliegt. Er schaukelte hin und her und unterbrach uns ständig mit einem: »Wart mal eben, ja?« Dann flüsterte er etwas in sein tragbares Aufnahmegerät. Den Großteil seiner Kolumne schrieb er wahrscheinlich im Stehen auf dem Parkplatz des Hyatt Regency.
Wir verabschiedeten uns, und er tänzelte auf Zehenspitzen zu seinem Auto zurück. Wir mochten Socia umgebracht haben, doch Richie würde Paulson erledigen.
Wir nahmen ein Taxi nach Hause; in den stillen Straßen lagen die Überreste des Feuerwerks; der Wind trug den bitteren Beigeschmack von Schwarzpulver mit sich. Der Drang, Mulkerns Schoßhund vor seinen Augen zu erledigen, wurde langsam schwächer, wich aus dem Taxi auf die verlassenen Straßen, verschwand in der Dunkelheit, die sich zwischen den Straßenlaternen auf uns legte.
Als wir bei mir ankamen, ging Angie schnurstracks auf den Kühlschrank zu und holte eine Flasche Wein aus der Tür. Dann nahm sie ein Weinglas aus dem Schrank, doch das schien mir nicht viel Sinn zu machen, als ich sah, wie schnell sie trank; man hätte ihr den Wein auch gleich intravenös spritzen können. Ich holte mir ein paar Bier, und wir setzten uns bei geöffneten Fenstern ins Wohnzimmer, lauschten dem Wind, der eine Bierdose die Straße hinunterblies. Sie hüpfte auf dem Asphalt auf die nächste Ecke zu.
Ich wußte, daß ich in einer Woche oder so mit Genugtuung auf diesen Tag zurückblicken würde, daß ich Mulkerns Gesichtsausdruck in jenem Augenblick genießen würde, als er merkte, daß er mir gerade eine Menge Geld dafür gezahlt hatte, daß ich sein Leben kaputtmachte. Irgendwie war es mir gelungen, eine seltene Heldentat zu vollbringen: Ich hatte jemanden aus dem State House zur Rechenschaft gezogen. In einer Woche würde mich das froh stimmen. Jetzt jedoch nicht. Jetzt mußten wir uns mit etwas ganz anderem auseinandersetzen. Die Luft war erfüllt von der Schwere der Last unseres Gewissens.
Angie hatte schon die halbe Flasche leer, als
sie fragte: »Was ist hier los?«
Sie stand auf, hielt die Weinflasche locker zwischen Zeigeund
Mittelfinger und ließ sie gegen den Oberschenkel prallen.
Ich erhob mich ebenfalls, war aber nicht sicher, ob ich schon
bereit war für die Auseinandersetzung. Ich holte mir noch zwei Bier
und antwortete: »Wir haben jemanden umgebracht.« Es klang
einfach.
»Kaltblütig.«
»Kaltblütig.« Ich öffnete eine Dose und stellte die andere neben
den Stuhl auf den Boden.
Sie leerte ihr Glas und schenkte nach. »Er war nicht gefährlich für
uns.«
»Nein, in dem Moment nicht.«
»Aber wir haben ihn trotzdem umgebracht.«
»Wir haben ihn trotzdem umgebracht«, sagte ich. Das Gespräch war
nicht gerade geistreich und wiederholte sich, doch hatte ich das
Gefühl, daß wir beide versuchten, genau auszudrücken, was wir getan
hatten, ohne Ausreden, ohne Lügen, die später wiederkehren und uns
heimsuchen würden.
»Warum?« fragte sie.
»Weil er abstoßend war. Moralisch.« Ich trank etwas Bier. Es
schmeckte wie Wasser.
»Wir finden viele Leute moralisch abstoßend«, entgegnete sie.
»Bringen wir die auch um?«
»Glaub’ ich nicht.«
»Warum nicht?«
»Haben nicht genug Munition.«
»Ich will darüber keine Witze machen. Jetzt nicht«, mahnte sie
mich.
Sie hatte recht. »Sorry«, entschuldigte ich mich.
»In der Situation würden wir es wieder tun«, stellte sie
fest.
Ich dachte an Socia, der das Foto hochhielt und seinem Sohn mit dem
Finger zwischen die Beine fuhr. »Ja, stimmt«, bestätigte
ich.
»Er war ein Raubtier«, bemerkte sie.
Ich nickte.
»Er ließ seinen Sohn für Geld mißbrauchen, deshalb haben wir ihn
umgebracht.« Sie nahm einen Schluck Wein, doch trank sie jetzt
nicht mehr so hastig. Sie stand noch immer mitten im Zimmer, wippte
hin und wieder langsam auf dem linken Fuß und ließ die Flasche wie
ein Pendel zwischen den Fingern schwingen.
»Das kommt ungefähr hin«, antwortete ich.
»Paulson hat so was Ähnliches gemacht. Er hat den Jungen mißbraucht
und wahrscheinlich noch hundert andere. Das wußten wir. Ihn haben
wir aber nicht umgebracht.«
Ich erwiderte: »Socia haben wir im Affekt umgebracht. Als wir zu
dem Treffen gingen, wußten wir nicht, daß wir es tun
würden.«
Sie gab ein kurzes gezwungenes Lachen von sich. »Haben wir nicht?
Und warum haben wir dann einen Schalldämpfer
mitgenommen?«
Ich ließ die Frage im Raum stehen, ich wollte sie nicht
beantworten. Schließlich versuchte ich es: »Vielleicht gingen wir
dahin und wußten, daß wir ihn umbringen würden, wenn wir nur den
geringsten Grund fänden. Er hatte es verdient.«
»Paulson auch. Der lebt.«
»Wenn wir Paulson umbringen würden, würden wir in den Knast
wandern. Socia interessiert keinen. Man wird es auf den Krieg der
Gangs schieben und froh sein, daß er weg ist.« »Wie praktisch für
uns.«
Ich stand auf und ging zu ihr rüber. Ich legte ihr die Hände auf
die Schultern und stoppte ihr langsames Hin- und Herwiegen. »Wir
haben Socia im Affekt getötet«, wiederholte ich, als ob es dadurch
wahrer werden würde. »An Paulson kamen wir nicht ran. Er ist zu gut
abgeschirmt. Aber wir haben ihn auch erledigt.«
»Auf sehr zivilisierte Art.« Das sagte sie so verächtlich, wie
manche Leute von Steuern reden.
»Ja«, bestätigte ich.
»Also haben wir Socia nach den Gesetzen des Dschungels erledigt und
Paulson nach den Gesetzen der Zivilisation.«
»Genau.«
Sie sah mir in die Augen, ihr Blick war glasig vom Alkohol, von der
Erschöpfung und quälenden Gedanken. Dann sagte sie: »Wir benehmen
uns offenbar nur dann zivilisiert, wenn es uns in den Kram
paßt.«
Da gab es nicht viel zu widersprechen. Ein schwarzer Zuhälter war
tot, und ein weißer Kinderschänder bereitete irgendwo bei einer
Flasche Chivas Regal eine Presseerklärung vor, obwohl der eine
genausoviel Schuld hatte wie der andere.
Menschen wie Paulson würden sich immer hinter ihrer Macht
verstecken können. Vielleicht fielen sie in Ungnade, vielleicht
saßen sie sogar sechs Monate in einem komfortablen Bundesgefängnis
ab und stellten sich der öffentlichen Kritik, doch würden sie
weiterleben. Vielleicht würde Paulson das Ganze relativ unbeschadet
überstehen. Vor ein paar Jahren war ein Kongreßabgeordneter
wiedergewählt worden, der zugegeben hatte, mit einem
fünfzehnjährigen Jungen Geschlechtsverkehr gehabt zu haben. Ich
schätze, für einige Leute ist alles relativ, sogar die
Vergewaltigung von Minderjährigen.
Und Menschen wie Socia kamen eine Zeitlang durch, vielleicht sogar
ganz schön lange. Sie töteten und verstümmelten und machten das
Leben der Menschen um sie herum häßlich und trostlos, doch früher
oder später endeten sie wie Socia selbst; unter einer Schnellstraße
sickerte ihnen das Hirn aus dem Kopf. Sie endeten auf Seite
dreizehn der Lokalzeitung, und die Bullen zuckten mit den Achseln
und strengten sich nicht besonders an, den Mörder zu
finden.
Einer in Ungnade gefallen, einer tot. Einer lebte, einer tot. Einer
weiß, einer tot.
Ich raufte mir das Haar und spürte den Staub und das Öl vom
gestrigen Tag, roch den Müll und Schmutz an meinen Fingern. In dem
Augenblick haßte ich die Welt und alles in ihr.
L.A. brennt, und in vielen anderen Städten schwelt es, alle warten
auf den Schlauch, der Öl in das Feuer gießt, und wir hören auf
Politiker, die unseren Haß und unsere Engstirnigkeit schüren und
uns erzählen, daß wir uns nur aufs Wesentliche besinnen müssen,
während sie in ihren Domizilen am Meer sitzen und der Brandung
lauschen, damit sie die Schreie der Ertrinkenden nicht hören
müssen.
Sie erzählen uns, es ginge um die Hautfarbe, und wir glauben ihnen.
Sie nennen unser System eine Demokratie, und wir nicken mit dem
Kopf, zufrieden mit uns selbst. Wir geben den Socias die Schuld,
hin und wieder verspotten wir die Paulsons, doch wählen wir immer
wieder Leute wie Sterling Mulkern. Und in unseren seltenen klaren
Momenten fragen wir uns, warum uns die Mulkerns dieser Welt
verachten.
Sie verachten uns, weil wir ihre geschändeten Kinder sind. Sie
ficken uns morgens, mittags und abends, doch solange sie uns mit
einem Kuß zu Bett bringen, solange sie uns ins Ohr flüstern: »Daddy
liebt dich, Daddy paßt auf dich auf«, so lange schließen wir die
Augen und schlafen ein, verkaufen unseren Körper, unsere Seele für
die tröstlichen Worte Zivilisation und Sicherheit, für die
verlogenen Idole unseres feuchten Traumes vom zwanzigsten
Jahrhundert.
Und von unserem Glauben an diesen Traum sind die Mulkerns,
Paulsons, Socias, Phils und die Helden dieser Welt abhängig. Das
ist ihr dunkles Geheimnis. So gelangen sie zum Sieg.
Schwach lächelte ich Angie an. »Ich bin müde«, sagte ich.
»Ich auch.« Sie lächelte genauso schwach zurück. »Kaputt.« Sie ging
zur Couch hinüber und breitete die Decke aus, die ich dort
liegengelassen hatte. »Irgendwann sprechen wir das noch mal durch.
Ja?«
»Ja. Irgendwann«, antwortete ich und ging ins Schlafzimmer.
»Klar.«