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Als ich zu Hause ankam, rief ich Angie quer
über die Straße zu: »Schon gehört?«
»Ja.« Ihre Stimme klang schwach und ruhig. »Ich habe Cheswick
Hartman angerufen. Hat er…?«
»Ja. Danke. Paß auf, ich dusche jetzt zuerst mal, ziehe mich um und
esse eine Kleinigkeit. Dann komme ich rüber, ja? Hat jemand
angerufen?«
»Massenweise«, antwortete sie. »Aber die können warten. Patrick,
ist alles in Ordnung?«
»Nein«, gab ich zurück, »aber ich arbeite dran. Bis später, in
einer Stunde ungefähr.«
Die Dusche war heiß, doch ich drehte sie noch heißer, der
Wasserstrahl pochte auf meinen Kopf, kleine Kügelchen hämmerten auf
meinen Schädel. Wenn ich auch in Sünde lebe, bin ich doch immer
noch irgendwie katholisch und reagiere auf Schmerz und Schuld immer
mit Tätigkeiten, die sich mit den Worten »brennen«, »reinigen« und
»glühen« in Verbindung bringen lassen. Eine von mir selbst
aufgestellte theologische Gleichung lautet: Hitze =
Erlösung.
Gut zwanzig Minuten später stieg ich aus der Dusche und trocknete
mich langsam ab; in der Nase hatte ich noch immer den penetranten
Geruch von Blut und das bittere Aroma von Kordit. Irgendwo in
diesem Wasserdampf, sagte ich mir, war die Antwort, die Erlösung,
das Rettungsseil, das notwendig war, um um die nächste Ecke zu
gehen und dies alles hinter sich zu lassen. Aber als sich der Dampf
auflöste, blieb nichts zurück als ich, mein Badezimmer und der
Geruch von etwas Brennendem.
Ich wickelte mir das Handtuch um die Hüfte und ging in die Küche.
Dort stand Angie an meinem Herd und war dabei, ein Steak zu
verbrennen. Angie kocht ungefähr einmal pro Schaltjahr und selbst
dann erfolglos. Wenn es nach ihr ginge, würde sie ihre Küche gegen
einen Schnellimbiß tauschen.
Instinktiv zog ich das Handtuch über meine Narbe, stellte mich
hinter sie, griff ihr um die Taille und schaltete die Flamme aus.
In meinen Armen drehte sie sich um und drückte ihre Brust an meine,
und die Tatsache, daß ich sie losließ und nachsah, ob der Rest des
Herds noch heil war, sagt wohl alles über meinen
Geisteszustand.
Sie fragte: »Was habe ich falsch gemacht?«
»Ich denke, der erste Fehler war, den Herd anzustellen.«
Sie gab mir einen Klaps auf den Hinterkopf. »Für dich koche ich so schnell nicht wieder.«
»Angeblich ist ja auch nur einmal im Jahr Weihnachten.« Ich wandte
mich ihr zu und bemerkte ihren Blick, ungefähr so wie man ein am
Rande des Schwimmbeckens balancierendes Kind ansieht. Ich sagte:
»Aber vielen Dank für den guten Willen. Ehrlich.«
Sie zuckte mit den Achseln und starrte mich immer noch an, ihre
karamelbraunen Augen blickten fragend und waren ein wenig feucht.
»Soll ich dich in den Arm nehmen, Patrick?«
Ich antwortete: »O ja.«
Sie fühlte sich an wie alles, das gut ist. Sie fühlte sich an wie
der erste warme Frühlingswind, wie ein Samstagnachmittag, wenn man
zehn Jahre alt ist, und wie ein frühsommerlicher Abend am Strand,
wenn der Sand kalt ist und die Wellen die Farbe von Scotch
annehmen. Ihre Umarmung war kräftig, ihr Körper üppig und weich,
ihr Herz schlug schnell an meiner nackten Brust. Ich konnte ihr
Shampoo riechen und ihren Nackenflaum an meinem Kinn
spüren.
Ich löste mich zuerst. »Also…«, sagte ich.
Sie lachte. »Also…«, sprach sie mir nach. »Du bist ganz naß,
Scooter. Mein Hemd ist ganz durchweicht.« Sie trat einen Schritt
zurück.
»Kann vorkommen, wenn man geduscht hat.«
Sie machte einen weiteren Schritt nach hinten und sah dabei zu
Boden. »Ja, also…«, fing sie wieder an, »da drüben ist ein Haufen
Nachrichten für dich. Und…«, sie ging an mir vorbei, nahm das Steak
und trug es zum Mülleimer. »Und… und ich kann immer noch nicht
kochen.«
»Angie«, begann ich.
Sie stand immer noch mit dem Rücken zu mir. »Du bist heute morgen
fast gestorben…«
»Ange…«
»Das mit Jenna tut mir wirklich leid, aber du bist fast
gestorben.«
»Ja.«
»Ich wäre nicht…« Die Stimme versagte ihr, ich hörte, daß sie tief
einatmete, bis sie sich wieder unter Kontrolle hatte. »Und ich wäre
nicht besonders gut damit zurechtgekommen, Patrick. Ich denke nicht
gerne darüber nach, es hat mich ein bißchen… umgehauen
jetzt.«
In meinem Kopf hörte ich Jennas Antwort auf meine Bemerkung, daß
Angie mich brauchte. »Dann bleiben Sie besser bei ihr.« Ich ging zu
ihr und legte ihr die Hände auf die Arme.
Sie senkte den Kopf und schmiegte sich an meinen Hals.
Es herrschte absolute Stille in der Küche, ich glaube, keiner von
uns atmete. Wir standen mit geschlossenen Augen da und warteten
darauf, daß uns die Angst verließ.
Tat sie nicht.
Angie löste sich von mir und fing an: »Schluß jetzt damit. Laß uns
arbeiten. Wir haben immer noch einen Auftrag, oder?«
Ich ließ ihre Arme los und antwortete: »Ja, wir haben immer noch
einen Auftrag. Ich ziehe mich eben an, dann können wir
loslegen.«
Ein paar Minuten später kam ich in einem riesigen roten Sweatshirt
und einer Jeans wieder herein.
Angie stand an der Küchentheke und drehte sich um, in der Hand
hielt sie einen Teller mit einem Sandwich. »Ich denke, bei
Aufschnitt bin ich auf der sicheren Seite.«
»Hast aber nicht versucht, ihn zu braten oder so, hm?«
Sie warf mir wieder diesen Blick zu.
Ich verstand und nahm das Sandwich. Sie saß mir gegenüber am Tisch,
während ich aß. Schinken und Käse. Ein bißchen schwer mit dem Senf,
aber sonst in Ordnung. Ich fragte: »Wer hat angerufen?«
»Sterling Mulkerns Büro. Dreimal. Jim Vurnans Büro. Richie Colgan.
Zweimal. Zwölf oder dreizehn Journalisten. Und Bubba hat
angerufen.«
»Was hat er gesagt?«
»Willst du das ehrlich wissen?«
Das will man bei Bubba normalerweise nicht, aber ich war
unkonzentriert und nickte.
»Er sagte, du sollst ihm das nächste Mal Bescheid sagen, wenn du
auf Waschbärenjagd gehst.«
Typisch Bubba. Mit ihm auf seiner Seite hätte Hitler den Krieg
vielleicht gewonnen. Ich fragte: »Wer noch?«
»Keiner. Aber die Sekretärin von Mulkern klang beim dritten Versuch
ganz schön sauer.«
Ich nickte und kaute.
Angie fragte: »Sagst du mir, was hier los ist, oder willst du
weiter den Dorftrottel spielen?«
Ich zuckte mit den Achseln, kaute noch ein bißchen, da nahm sie mir
das Sandwich weg. »Ich glaube, ich wurde bestraft«, bemerkte
ich.
»Dir wird noch ganz was anderes passieren, wenn du jetzt nicht den
Mund aufmachst.«
»Oooh. Knallharte Frau. Mach mich fertig!« Ich hechelte.
Sie sah mich an.
»Gut«, lenkte ich ein, »aber dazu brauchen wir Alkohol.«
Ich goß uns zwei Scotch pur ein. Angie nahm einen Schluck von ihrem
und schüttete ihn, ohne ein Wort zu sagen, in den Ausguß. Dann
holte sie sich ein Bier aus dem Kühlschrank, setzte sich wieder hin
und hob eine Augenbraue.
Ich fing an: »Wir stecken vielleicht schon bis zum Hals in dieser
Sache. Ach was, bis über den Kopf.«
»Das habe ich mir gedacht. Warum?«
»Jenna hat mir gar keine Unterlagen gezeigt. Das war
Quatsch.«
»Was du dir auch schon halb gedacht hattest.«
»Stimmt«, pflichtete ich ihr bei, »aber ich hielt es auch nicht für
vollkommen abwegig. Ich weiß nicht, was ich erwartete, aber das
hier ganz bestimmt nicht.« Ich reichte ihr die Aufnahme von Paulson
in Unterhose.
Sie hob die Augenbrauen. »Gut«, sagte sie langsam, »aber was soll
das? Das Bild ist gut sechs oder acht Jahre alt, und es ist nur ein
halbnackter Paulson drauf. Es ist zwar nicht appetitlich, aber auch
nichts Besonderes. Dafür tötet man doch nicht.«
»Vielleicht«, gab ich zu bedenken. »Guck dir aber mal den Typen
neben Paulson an. Sieht nicht gerade so aus, als verkehrte er in
denselben Kreisen.«
Sie betrachtete den Mann. Er war dünn und trug ein Shirt mit rundem
Halsausschnitt und eine weiße Hose. Um die Arme und den Hals hingen
Massen von Gold, und sein Haar wirkte verfilzt und frisch gefönt
zugleich. Sein Blick war vorwurfsvoll und mürrisch, der Blick eines
unheilbar bösen Menschen. Er mochte ungefähr fünfunddreißig
sein.
»Ja, stimmt«, bestätigte sie. »Kennen wir ihn?«
Ich schüttelte den Kopf. »Könnte Socia sein. Könnte Roland sein.
Oder keiner von beiden. Er sieht jedenfalls nicht wie ein
Staatsdiener aus.«
»Eher wie ein Zuhälter.«
»Und das da…« Ich zeigte auf die billige Kommode und den Spiegel
auf dem Foto. Im Spiegel war ein ungemachtes Bett zu erkennen.
Dahinter der Ausschnitt einer Tür, an der zwei quadratische Zettel
aufgehängt waren. Ich konnte nicht erkennen, was drauf stand, aber
der eine sah aus wie die Geschäftsbedingungen eines Motels, und der
kleinere darunter wie ein Merkzettel für die An- und Abreisezeit.
Ein »Bitte nicht stören«-Schild hing am Türknauf. »Das sieht aus
wie ein…«
»Motel«, ergänzte sie.
»Seeehr gut«, lobte ich. »Du solltest Detektiv werden.«
»Und du solltest aufhören, Detektiv zu spielen«, gab sie zurück und
warf das Foto auf den Tisch. »Also, was bedeutet das alles,
Sherlock?«
»Sag’s mir, Watson.«
Sie zündete sich eine Zigarette an, trank einen Schluck Bier und
dachte nach. »Dieses Foto ist vielleicht nur die Spitze eines
Eisbergs. Vielleicht gibt’s noch mehr davon, und die sind noch viel
schlimmer. Irgend jemand, vielleicht Socia oder Roland oder - darf
ich das sagen? - jemand aus der Politik ließ Jenna eliminieren,
weil er wußte, daß sie alles ausplaudern würde. Meinst du
das?«
»Das meine ich.«
»Na ja«, bemerkte sie, »dann sind entweder diese Leute wirklich
blöd oder du.«
»Warum?«
»Jenna hat die Bilder in ihrem Schließfach aufbewahrt,
stimmt’s?«
Ich nickte.
»Und wenn jemand ermordet wird, geht die Polizei immer gleich vor:
Sie holt sich einen Durchsuchungsbefehl und sieht sich jedes faule
Ei an, das sie bei dem Opfer findet. Und dazu gehört auf jeden Fall
ein Schließfach. Ich nehme an, die haben schon herausbekommen, daß
sie als letztes auf der Bank war, bevor sie…«
»… starb«, ergänzte ich.
»Ja. Deshalb sind sie wahrscheinlich gerade dabei, es zu öffnen,
während wir hier reden. Und jeder mit einem Funken Verstand hätte
das vorhersehen können.«
»Vielleicht glauben sie, daß Jenna alles herausgeholt und mir
gegeben hat.«
»Vielleicht«, stimmte sie zu. »Aber dann überlassen wir ganz schön
viel dem Zufall. Findest du nicht? Es sei denn, sie sind aus
irgendeinem Grund der Meinung, daß sie dort nichts liegenlassen
würde.«
»Woher sollten sie das wissen?«
Sie zuckte mit den Achseln. »Du bist der Ermittler. Ermittle
es!«
»Ich versuch’s ja.«
»Noch was«, fügte sie hinzu, stellte das Bier ab und richtete sich
auf.
»Sag’s mir bitte.«
»Woher wußten die überhaupt, daß du heute morgen dasein
würdest?«
Darüber hatte ich nicht groß nachgedacht. »Blaumütze«, antwortete
ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Blaumütze haben wir gestern abgehängt.
Ich meine, ich weiß nicht, wie du das siehst, aber ich habe ihn
heute morgen nicht auf der Autobahn herumhängen und darauf warten
sehen, daß du in einem Auto vorbeifährst, von dem er nicht mal
weiß, daß es dir gehört. Und dann hat
er dich bis zum Park verfolgt? Nein, das glaube ich
nicht.«
»Nur zwei Personen wußten, wo Jenna und ich heute morgen
hinwollten.«
»Stimmt genau«, antwortete sie, »eine davon bin ich.«