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Wir hatten den halben Weg nach Boston zurückgelegt und dabei jede Unterhaltung über Simone Angeline oder den Vorfall in ihrer Wohnung vermieden, als sich Angie plötzlich aufsetzte und »Aaaarggh« ausstieß oder so etwas Ähnliches. Sie piekste mit dem Zeigefinger so heftig auf den Eject-Knopf meines Autoradios, daß Exile on Main Street wie ein Geschoß an mir vorbeiflog. Die Kassette prallte an der Rückenlehne ab und fiel auf den Boden. Und das auch noch mitten in »Shine a Light«. Ein Sakrileg.
»Heb sie auf!«
Sie tat es und warf sie neben mir auf den Sitz. Dann fragte sie: »Hast du keine neue Musik?« Unter neue Musik versteht Angie die ganzen Bands, die sie sich reinzieht. Sie heißen Depeche Mode oder The Smiths und hören sich in meinen Ohren alle gleich an: wie ein Haufen weißer britischer Trottel auf Thorazin. Als die Stones anfingen, waren sie auch ein Haufen weißer britischer Trottel, aber sie hörten sich nie an, als wären sie auf Thorazin. Selbst wenn sie es waren.
Angie durchforstete meine Kassettensammlung.
Ich schlug vor: »Versuch mal Lou Reed. Ist schon eher dein
Stil.«
Nachdem sie New York eingelegt und ein
paar Minuten gelauscht hatte, bemerkte sie: »Das ist in Ordnung.
Hast du die aus Versehen gekauft?«
Kurz vor der Stadtgrenze hielt ich vor einem Store 24, wo sich
Angie Zigaretten kaufte. Sie erschien mit zwei Spätausgaben der
News, von denen sie mir eine
reichte.
Da wurde mir dann klar, daß ich der zweite Kenzie war, dem durch
die Zeitung eine gewisse Unsterblichkeit zuteil werden sollte. Da
würde ich nun immer sein, am 30. Juni schwarzweiß in Zeit und Raum
für alle die eingefroren, die die Ausgabe auf Mikrofiche betrachten
wollten. Und dieser Augenblick, dieser intime Augenblick, als ich,
Jennas Leiche hinter mir, neben Blaumütze hockte, mir die Ohren
sausten und mein Gehirn versuchte, sich wieder in meinem Schädel zu
verankern, dieser Moment gehörte nicht mehr mir allein. Er war
Hunderttausenden von Menschen, die mich noch nie gesehen hatten,
zum Frühstück ausgespuckt worden. Der für mich wahrscheinlich
intimste Augenblick meines Lebens sollte von jedermann wiedergekäut
und kritisiert werden, vom Kneipengänger in Southie bis zum
Börsianer, der in irgendeinem Wolkenkratzer im Zentrum gerade
Fahrstuhl fuhr. Die Vorstellung vom globalen Dorf in die Praxis
umgesetzt, und sie gefiel mir ganz und gar nicht.
Immerhin erfuhr ich, wie Blaumütze hieß. Curtis Moore. Er war in
kritischem Zustand im Boston City Hospital eingeliefert worden, die
Ärzte arbeiteten angeblich krampfhaft daran, seinen Fuß zu retten.
Er war achtzehn Jahre alt und ein stadtbekanntes Mitglied der Raven
Saints, einer Gang, die sich in den Sozialsiedlungen von Raven
Boulevard in Roxbury gebildet hatte und als Erkennungszeichen
Baseballkappen und Fanartikel der New Orleans Saints favorisierte.
Auf Seite drei war seine Mutter abgebildet, die ein gerahmtes Foto
von ihm in der Hand hielt, auf dem er zehn Jahre alt war. Sie wurde
wie folgt zitiert: »Curtis ist nie in einer Gang gewesen. Hat nie
was Böses getan.« Sie verlangte eine Untersuchung und behauptete,
das Ganze sei »rassistisch motiviert«. Sie besaß sogar die
Frechheit, die Angelegenheit mit dem Charles-Stuart-Fall zu
vergleichen: Damals hatte der Staatsanwalt und so gut wie jeder
andere die Geschichte von Charles Stuart geglaubt, daß ein
Schwarzer seine Frau umgebracht habe. Ein Schwarzer war verhaftet
worden, und wahrscheinlich hätte man ihn auch verurteilt, wenn die
Höhe der Versicherungspolice, die Stuart für seine Frau
abgeschlossen hatte, nicht dafür gesorgt hätte, daß einige Menschen
die Stirn runzelten. Die Sache mit Curtis Moore hatte ebensoviel
mit dem Stuart-Fall gemeinsam wie Howard Beach mit Miami Beach,
aber hier draußen vor einem Store 24 konnte ich nicht viel dagegen
tun.
Angie schnaufte verächtlich, und ich wußte, daß sie den gleichen
Artikel las. Ich sagte: »Laß mich raten - du liest gerade das
rassistisch motivierte«
Sie nickte. »Mann, bist du abgebrüht, daß du dem armen Jungen die
Uzi in die Hand gedrückt hast und ihn gezwungen hast
abzudrücken.«
»Ich weiß wirklich nicht, was manchmal über mich kommt.«
»Du hättest versuchen sollen, mit ihm zu reden, Patrick. Hättest
ihm sagen sollen, daß du für sein entbehrungsreiches Leben
Verständnis hast, das ihm die Pistole in die Hand gedrückt
hat.«
»Ich bin so ein richtiges Arschloch.« Ich warf die Zeitung auf den
Rücksitz, setzte mich hinters Lenkrad und fuhr los in Richtung
Stadt. Angie las im schwachen Licht die Zeitung und atmete schwer
durch die Nase. Schließlich zerknüllte sie sie in der Hand und warf
sie auf den Boden.
Sie rief: »Wie können die sich noch im Spiegel angucken?«
»Wer?«
»Die Leute, die so einen… Scheiß erzählen. Rassistisch motiviert.
Ich bitte dich. ›Curtis ist nie in einer Gang gewesen.‹« Sie
blickte nach unten und sprach mit dem Bild von Curtis’ Mutter. »Er
war ganz bestimmt nicht bis drei Uhr morgens mit den Pfadfindern
unterwegs, Madam.«
Ich klopfte ihr auf die Schulter. »Reg dich ab!«
»So ein Schwachsinn!« rief sie.
»Sie ist eine Mutter«, wandte ich ein. »Sie würde alles behaupten,
um ihr Kind zu schützen. Kann man ihr nicht übelnehmen.«
»Ach nein?« fragte sie. »Und warum muß sie dann von Rasse reden,
wenn sie einfach nur ihr Kind beschützen will? Was passiert als
nächstes? Kommt Reverend Al Sharpton her und hält eine Gedenkwache
für Curtis’ Fuß ab ? Macht den bösen weißen Mann auch für Jennas
Tod verantwortlich?«
Sie konnte nicht mehr aufhören. Die reaktionäre Wut der Weißen. Die
habe ich in letzter Zeit oft erlebt. Ganz schön oft. Ich selber
habe manchmal ähnliches gesagt. Am meisten erlebt man sie bei armen
Menschen und Arbeitern. Man erlebt sie, wenn hirnverbrannte
Soziologen Vorfälle wie den Anschlag im Central Park das Ergebnis
»unkontrollierbarer Impulse« nennen und die Taten einer Gruppe von
Bestien mit dem Argument verteidigen, sie hätten bloß auf
jahrelange Unterdrückung der Weißen reagiert. Und wenn man darauf
hinweist, daß diese netten, wohlerzogenen Bestien, die zufällig
schwarz sind, ihren Puls sehr wohl unter Kontrolle gehalten hätten,
wenn die Joggerin von einer Gruppe Bodyguards bewacht worden wäre,
dann bekommt man den Stempel »Rassist« aufgedrückt. Man erlebt
diese Wut, wenn die Medien die Hautfarbe zum Thema machen. Man
erlebt sie, wenn sich mehrere, eigentlich gutmeinende Weiße zur
Diskussion treffen und schließlich sagen: »Ich bin kein Rassist,
aber…« Man erlebt sie, wenn Richter,
die das Ende der Rassentrennung in öffentlichen Schulen per Dekret
herbeiführen wollen, indem sie die Schüler mit Bussen in andere
Stadtgebiete karren lassen, ihre eigenen Kinder auf Privatschulen
schicken oder wenn, wie kürzlich vorgefallen, ein Richter am
Oberlandesgericht sagt, ihm seien noch nie Beweise vorgelegt
worden, daß Straßengangs gefährlicher seien als
Gewerkschaften.
Am deutlichsten erlebt man diese Wut, wenn Politiker, die in
Hyannis Port, Beacon Hill oder Wellesley leben, Entscheidungen
fällen, die in Dorchester, Roxbury oder Jamaica Plain lebende
Menschen betreffen, sich dann zurückziehen und behaupten, es
herrsche kein Krieg.
Doch es herrscht Krieg. Er herrscht auf Spielplätzen, nicht in
Fitneßclubs. Er wird auf Beton ausgefochten, nicht auf Wiesen. Er
wird mit Crackpfeifen und Flaschen gekämpft, in jüngster Zeit auch
mit Schnellfeuerwaffen. Doch solange er nicht durch die schweren
Eichentüren dringt, hinter denen man mit Privatschulausbildung,
Verschleppungstaktik und Martinis kämpft, wird er nie wirklich
existieren.
South Central L.A. könnte ein Jahrzehnt lang brennen, die meisten
würden den Rauch erst riechen, wenn die Flammen den Rodeo Drive
erreichten.
Ich wollte das klären. Jetzt. Wollte das alles hier im Auto mit
Angie durchkauen, bis unsere Standpunkte in diesem Krieg klar
definiert waren, bis wir genau wußten, welche Einstellung wir
gegenüber jeder Frage hatten, bis wir in unsere Herzen sehen und
mit dem, was wir erblickten, zufrieden sein konnten. Aber so fühle
ich mich ziemlich oft, und am Ende bewege ich mich nur im Kreis,
alles bleibt ungelöst.
Deshalb fragte ich: »Und was willst du dagegen tun, hm?« und parkte
am Straßenrand vor ihrem Haus.
Sie blickte auf die Titelseite der Zeitung, auf Jennas Leiche. Dann
schlug sie vor: »Ich kann Phil sagen, daß wir Überstunden machen
müssen.«
»Mir geht’s gut«, entgegnete ich.
»Geht’s dir nicht.«
Ich lachte halbherzig. »Nein, geht’s mir nicht. Aber du kannst
nicht mit in meine Träume kommen und mich dort beschützen.
Ansonsten komme ich schon damit zurecht.«
Sie stand jetzt neben dem Auto, beugte sich noch einmal vor und
küßte mich auf die Wange. »Mach’s gut, Scooter.«
Ich sah ihr nach, während sie die Stufen zum Hauseingang hochstieg,
mit den Schlüsseln herumklimperte und die Tür aufschloß. Bevor sie
eintrat, ging im Wohnzimmer ein Licht an, und der Vorhang tat sich
einen Spaltbreit auf. Ich winkte Phil zu, worauf der Vorhang
schnell wieder zufiel.
Angie schloß die Tür, machte das Licht im Flur aus, und ich fuhr
davon.
Im Kirchturm brannte Licht. Ich hielt neben dem Bürgersteig vor der Kirche und ging zum Seiteneingang, wobei ich mir der Tatsache schmerzhaft bewußt war, daß sich meine Pistole zur Beweisaufnahme auf dem Polizeirevier befand. Auf dem Boden lag ein Zettel: »Nicht schießen! Zwei Schwarze an einem Tag sind nicht gut für deinen Ruf.«
Richie.
Als ich eintrat, saß er hinter meinem Schreibtisch. Die Füße hatte
er auf den Tisch gelegt, in meinem Ghettoblaster lief eine Kassette
von Peter Gabriel, auf dem Tisch stand eine Flasche Glenlivet, und
in der Hand hielt er ein Glas. Ich fragte: »Ist das meine
Flasche?«
Er sah sie an. »Ich glaube schon, mein Sohn.«
»Dann bedien dich!«
»Danke«, erwiderte er und goß sich noch einen ein. »Du brauchst
Eis.«
Ich fand ein Glas in der Schublade und schenkte mir einen doppelten
ein. Dann hielt ich die Zeitung hoch. »Gesehen?«
»Das Schmutzblatt lese ich nicht«, antwortete er. »Ja. Hab’ ich
gesehen.«
Richie ist keiner von diesen Hollywood-Schwarzen mit weicher,
kaffeebrauner Haut und Augen wie Lionel Richie. Er ist schwarz,
schwarz wie ein Ölteppich, und nicht gerade hübsch. Er hat
Übergewicht, auf seinem Gesicht liegt immer ein Schatten, und seine
Frau kauft für ihn die Klamotten. Oft sehen die Kombinationen aus,
als würde sie wieder mal experimentieren. Heute trug er eine
beigefarbene Baumwollhose, ein hellblaues Hemd und eine
pastellfarbene Krawatte, die aussah, als sei ein Mohnblumenfeld
explodiert und das Feuer mit Rum gelöscht worden. Ich fragte: »War
Sherilynn wieder einkaufen?«
Er warf einen Blick auf seine Krawatte und seufzte: »Sherilynn war
wieder einkaufen.«
Ich fragte: »Wo? In Miami?«
Er hob die Krawatte hoch, um sie genauer zu inspizieren. »Könnte
man meinen, oder?« Dann nahm er einen Schluck Scotch. »Wo ist deine
Kollegin?«
»Bei ihrem Mann.«
Er nickte, und gleichzeitig fügten wir hinzu: »Dem
Arschloch.«
»Wann knallt sie ihn endlich ab?« fragte er.
»Ich drücke ständig die Daumen.«
»Na ja, ruf mich an, wenn’s soweit ist. Bei mir zu Hause wartet
noch eine Flasche Champagner.«
»Bis dann also.« Ich hob mein Glas. Er stieß an. »Prost.« Ich
begann: »Erzähl mir von Curtis Moore.«
»Vom Krüppel?« fragte er. »So wird der alte Curtis im Moment
genannt. Treibt einem die Tränen in die Augen, nicht?« Er streckte
sich auf seinem Stuhl.
»Tragisch«, bemerkte ich.
»Furchtbar«, erwiderte er. »Aber nimm es nicht zu leicht. Curtis’
Freunde könnten dir einen Besuch abstatten, und das sind besonders
fiese Arschlöcher.«
»Wie groß sind die Raven Saints?«
»Verglichen mit L.A. nicht sehr groß«, antwortete er, »aber wir
sind nicht in L.A. Ich würde sagen, sie haben um die fünfundsiebzig
feste Mitglieder und ungefähr sechzig Mitläufer.«
»Das heißt also, ich muß mich vor hundertfünfunddreißig Schwarzen
in acht nehmen.«
Er stellte sein Glas auf den Tisch. »Mach daraus jetzt keine
Schwarzensache, Kenzie.«
»Meine Freunde nennen mich Patrick.«
»Ich bin nicht dein Freund, wenn ich so einen Dünnschiß aus deinem
Mund höre.«
Ich war wütend und verdammt müde, und ich wollte jemandem die
Schuld geben. Meine Nerven lagen blank. Ich war störrisch. »Nenn
mir mal eine weiße Gang, die mit Uzis rumläuft, dann habe ich auch
vor Weißen Angst, Richie. Aber bis dahin…«
Richie schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und was ist dann die
Mafia, verdammt noch mal? Ha?« Er stand auf, die Adern an seinem
Hals schwollen an, hoben sich wahrscheinlich genauso deutlich ab
wie meine. »Die Westies in New York«, fuhr er fort, »diese netten
Jungs, Iren wie du, die sich auf Mord, Folter und Cowboyspiele
spezialisiert haben. Welche Hautfarbe haben die? Willst du hier
sitzen und mir erzählen, meine Brüder hätten das Morden erfunden?
Willst du versuchen, mir diesen Scheiß zu verkaufen,
Kenzie?«
Unsere Stimmen in dem kleinen Raum waren laut und schroff, sie
prallten an den billigen Wänden ab und wurden zurückgeworfen. Ich
bemühte mich, ruhig zu sprechen, doch gehorchte mir meine Stimme
nicht; sie klang barsch und irgendwie fremd. Ich erwiderte:
»Richie, da wird in Howard Beach ein kleiner Junge von einem Auto
überfahren, weil ihn eine Horde geistig zurückgebliebener
Hitlerjungen auf die Straße jagt…«
»Fang bloß nicht mit Howard Beach an.«
»… und das wird zu einer nationalen Tragödie ausgewalzt. Ist ja
auch richtig. Aber«, fuhr ich fort, »wenn in Fenway ein weißes Kind
mit achtzehn Stichen von schwarzen
Kindern erstochen wird, dann verliert darüber niemand ein einziges
Wort. Von Rassenproblemen ist dann nicht die Rede. Schon am
nächsten Tag ist der Fall von der Titelseite verschwunden und wird
als Mord eingestuft. Nicht rassistisch motiviert. Jetzt sag du mir,
Richie, was dieser Scheiß soll.«
Er starrte mich an, hielt sich die Hand nah vors Gesicht, legte sie
in den Nacken, um sich zu massieren, dann auf den Schreibtisch, wo
er sie unsicher betrachtete, als wüßte er nicht, was er mit ihr
anfangen sollte. Er setzte mehrmals zum Sprechen an. Brach ab.
Schließlich fragte er leise, flüsterte fast: »Die drei schwarzen
Kinder, die den kleinen weißen Jungen umgebracht haben, was meinst
du, wandern die in den Knast?«
Jetzt hatte er mich.
»Hm?« fragte er. »Los, sag die Wahrheit!«
Ich antwortete: »Natürlich. Es sei denn, sie bekommen einen guten
Anwalt, sie…«
»Nein. Keinen Anwalt. Keine Spitzfindigkeiten jetzt. Wenn sie vor
Gericht kommen und eine Jury entscheiden muß, werden sie dann
verurteilt? Kriegen sie dann zwanzig Jahre oder lebenslänglich
aufgebrummt, oder vielleicht sogar noch schlimmer?«
»Ja«, gab ich zu. »Ja, bekommen sie.«
»Und wenn ein paar weiße Kinder ein schwarzes Kind umbringen
würden, und es würde nicht, nehmen wir mal an, als rassistisch
motivierter Vorfall eingestuft werden, wenn es nicht zu einer
nationalen Tragödie stilisiert würde, was dann?«
Ich nickte.
»Was dann?«
»Dann haben sie eine größere Chance, davonzukommen.«
»Ganz genau«, bestätigte er und ließ sich auf den Stuhl
zurückfallen.
»Aber, Richie«, wandte ich ein, »diese Logik ist doch viel zu hoch
für den Mann auf der Straße, das weißt du auch. Joe aus Southie
sieht, daß man bei einem toten Schwarzen von einem rassistisch
motivierten Vorfall spricht, aber bei einem toten Weißen von Mord.
Dann sagt er sich: ›Hey, hier stimmt was nicht. Das ist nicht
richtig. Hier wird mit zweierlei Maß gemessene Er hört was über
Tawana Brawley, die eine Gruppe weißer Jungs verleumdete, indem sie
behauptete, sie sei von ihnen vergewaltigt worden; er verliert
seinen Job wegen der Gleichstellungsquote und wird langsam sauer.«
Ich sah ihn an. »Kann man ihm das verübeln?«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. »Ach, Scheiße,
Patrick. Ich weiß es nicht.« Er setzte sich auf. »Nein, okay? Ich
kann es ihm nicht verübeln. Aber was ist die
Alternative?«
Ich schenkte mir noch einen Whisky ein. »Auf jeden Fall nicht
radikale Schwarzenführer wie Louis Farrakhan.«
»Und genausowenig ultrarechte Republikaner wie David Duke«, schoß
er zurück. »Ich meine, was - sollen wir Gleichstellungsquote,
Minderheitenprogramme und den Straftatbestand ›rassistisch
motiviert‹ abschaffen?«
Ich wies mit der Flasche auf ihn, und er beugte sich mit seinem
Glas vor. »Nein«, antwortete ich und goß ihm ein, »aber…« Ich
lehnte mich zurück. »Verflucht, ich weiß es nicht.«
Er lächelte schwach und lehnte sich ebenfalls zurück, wobei er aus
dem Fenster sah. Die Peter-Gabriel-Kassette war zu Ende, und von
der Straße hörte man hin und wieder ein Auto auf dem Asphalt
vorbeisummen. Die durch das Fenster kommende frische Luft hatte
sich abgekühlt, und als sie nun ins Zimmer wehte, merkte ich, daß
die dicke Luft langsam vertrieben wurde. Wenigstens ein
bißchen.
»Weißt du, was typisch amerikanisch ist?« fragte Richie und blickte
mit erhobenem Arm, das Glas auf halbem Weg zum Mund, immer noch aus
dem Fenster.
Ich spürte, daß die Wut im Zimmer begann, sich langsam im Sog des
Alkohols aufzulösen. »Nein, Rich. Was ist typisch
amerikanisch?«
»Jemand anderem die Schuld geben«, antwortete er und nahm einen
Schluck. »Echt. Du bist Bauarbeiter, und dir fällt ein Hammer auf
den Fuß? Was soll’s, verklagen wir die Firma! Der Fuß ist gut und
gerne zehntausend Dollar wert. Du bist weiß und hast keine Arbeit?
Gleichstellungsprogramme sind schuld. Hast keinen Job und bist
schwarz? Die Weißen sind schuld. Oder die Koreaner. Scheißegal, gib
den Japsen die Schuld, machen schließlich alle. Dieses ganze
beschissene Land ist voll von gemeinen, unglücklichen, verwirrten,
abgenervten Leuten, und nicht einer davon hat den Grips, sich
ernsthaft mit seiner Situation
auseinanderzusetzen. Alle reden nur von früher - als es noch kein
Aids gab, kein Crack, keine Banden und keine Massenkommunikation
und Satelliten und Flugzeuge und globale Erwärmung -, als ob man
die Zeit wieder zurückdrehen könnte. Und sie kriegen einfach nicht
raus, warum sie so abgefuckt sind, also suchen sie einen, dem sie
die Schuld geben können. Neger, Juden, Weiße, Chinesen, Araber,
Russen, Abtreibungsbefürworter, Abtreibungsgegner - wen du
willst.«
Ich sagte nichts. Mit der Wahrheit ist schlecht streiten.
Er setzte die Füße auf den Boden und erhob sich, ging auf und ab.
Seine Schritte waren etwas unsicher, als erwarte er einen
Widerstand. »Die Weißen geben Leuten wie mir die Schuld, weil sie
glauben, ich bin nur über die Quote auf meinen Platz gekommen. Die
meisten davon können noch nicht mal lesen, glauben aber, daß sie
meinen Job verdienen. Die Scheißpolitiker sitzen in ihren
Ledersesseln mit Blick auf den Charles und arbeiten daran, ihre
scheißdumme weiße Wählerschaft zu überzeugen, ich sei der Grund für
ihre Wut, weil ich ihren Kindern das Essen stehle. Schwarze, meine
Brüder, behaupten, ich bin keiner von ihnen mehr, weil ich auf
einer weißen Straße in einer ziemlich weißen Gegend wohne. Sie
behaupten, ich würde mich in den Mittelstand schleichen.
Schleichen. Nach dem Motto, ich bin schwarz, ich muß mit Leuten,
die ihre Sozialhilfe in Crack umsetzen, in so einem Loch auf der
Humboldt Avenue wohnen. Schleichen«, wiederholte er. »Verdammte
Scheiße. Heteros hassen Homos, und jetzt wollen die Homos
zurückschlagen, was auch immer sie damit meinen. Lesben hassen
Männer, Männer hassen Frauen, Schwarze hassen Weiße, Weiße hassen
Schwarze, und… jeder sucht einen, dem er die Schuld geben kann. Ich
meine, verflucht noch mal, warum soll man sich selbst im Spiegel
angucken, wenn man von vornherein genau weiß, daß man viel besser
ist als die ganzen Leute da draußen.« Er blickte mich an.
»Verstehst du, was ich meine, oder rede ich Stuß?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Aus irgendeinem Grund braucht jeder
einen zum Hassen.«
»Wir sind alle ganz schön bekloppt«, bemerkte er.
Ich nickte. »Und ganz schön verbittert.«
Er setzte sich wieder. »Verdammt verbittert.«
Ich fragte: »Und wo führt uns das hin, Rich?«
Er hob sein Glas: »Daß wir am Ende wieder hier sitzen und in
unseren Scotch heulen.«
Eine Weile war es still im Zimmer. Wir gössen uns schweigend noch
ein Glas ein und tranken etwas langsamer. Nach fünf Minuten
erkundigte sich Richie: »Was ist mit dem, was heute passiert ist?
Wie geht es dir?«
Das fragten mich alle. Ich antwortete: »Mir geht’s gut.«
»Wirklich?«
»Ja«, wiederholte ich, »denke schon.« Ich blickte ihn an und
wünschte, daß er sie kennengelernt hätte. Ich fing an: »Jenna war
nett. Ein guter Mensch. Sie wollte bloß einmal im Leben nicht unter
den Teppich gekehrt werden.«
Er sah mich an, beugte sich vor und streckte mir das Glas entgegen.
»Du willst dafür sorgen, daß jemand für sie zahlt, Patrick,
stimmt’s?«
Ich beugte mich ebenfalls vor und stieß mit ihm an. Dann nickte
ich. »Da hast du ins Schwarze getroffen«, erwiderte ich und hielt
die Hand hoch. »War nicht so gemeint.«