14_____

Wir hatten den halben Weg nach Boston zurückgelegt und dabei jede Unterhaltung über Simone Angeline oder den Vorfall in ihrer Wohnung vermieden, als sich Angie plötzlich aufsetzte und »Aaaarggh« ausstieß oder so etwas Ähnliches. Sie piekste mit dem Zeigefinger so heftig auf den Eject-Knopf meines Autoradios, daß Exile on Main Street wie ein Geschoß an mir vorbeiflog. Die Kassette prallte an der Rückenlehne ab und fiel auf den Boden. Und das auch noch mitten in »Shine a Light«. Ein Sakrileg.

»Heb sie auf!«

Sie tat es und warf sie neben mir auf den Sitz. Dann fragte sie: »Hast du keine neue Musik?« Unter neue Musik versteht Angie die ganzen Bands, die sie sich reinzieht. Sie heißen Depeche Mode oder The Smiths und hören sich in meinen Ohren alle gleich an: wie ein Haufen weißer britischer Trottel auf Thorazin. Als die Stones anfingen, waren sie auch ein Haufen weißer britischer Trottel, aber sie hörten sich nie an, als wären sie auf Thorazin. Selbst wenn sie es waren.

Angie durchforstete meine Kassettensammlung. Ich schlug vor: »Versuch mal Lou Reed. Ist schon eher dein Stil.«
Nachdem sie New York eingelegt und ein paar Minuten gelauscht hatte, bemerkte sie: »Das ist in Ordnung. Hast du die aus Versehen gekauft?«
Kurz vor der Stadtgrenze hielt ich vor einem Store 24, wo sich Angie Zigaretten kaufte. Sie erschien mit zwei Spätausgaben der News, von denen sie mir eine reichte.
Da wurde mir dann klar, daß ich der zweite Kenzie war, dem durch die Zeitung eine gewisse Unsterblichkeit zuteil werden sollte. Da würde ich nun immer sein, am 30. Juni schwarzweiß in Zeit und Raum für alle die eingefroren, die die Ausgabe auf Mikrofiche betrachten wollten. Und dieser Augenblick, dieser intime Augenblick, als ich, Jennas Leiche hinter mir, neben Blaumütze hockte, mir die Ohren sausten und mein Gehirn versuchte, sich wieder in meinem Schädel zu verankern, dieser Moment gehörte nicht mehr mir allein. Er war Hunderttausenden von Menschen, die mich noch nie gesehen hatten, zum Frühstück ausgespuckt worden. Der für mich wahrscheinlich intimste Augenblick meines Lebens sollte von jedermann wiedergekäut und kritisiert werden, vom Kneipengänger in Southie bis zum Börsianer, der in irgendeinem Wolkenkratzer im Zentrum gerade Fahrstuhl fuhr. Die Vorstellung vom globalen Dorf in die Praxis umgesetzt, und sie gefiel mir ganz und gar nicht.
Immerhin erfuhr ich, wie Blaumütze hieß. Curtis Moore. Er war in kritischem Zustand im Boston City Hospital eingeliefert worden, die Ärzte arbeiteten angeblich krampfhaft daran, seinen Fuß zu retten. Er war achtzehn Jahre alt und ein stadtbekanntes Mitglied der Raven Saints, einer Gang, die sich in den Sozialsiedlungen von Raven Boulevard in Roxbury gebildet hatte und als Erkennungszeichen Baseballkappen und Fanartikel der New Orleans Saints favorisierte. Auf Seite drei war seine Mutter abgebildet, die ein gerahmtes Foto von ihm in der Hand hielt, auf dem er zehn Jahre alt war. Sie wurde wie folgt zitiert: »Curtis ist nie in einer Gang gewesen. Hat nie was Böses getan.« Sie verlangte eine Untersuchung und behauptete, das Ganze sei »rassistisch motiviert«. Sie besaß sogar die Frechheit, die Angelegenheit mit dem Charles-Stuart-Fall zu vergleichen: Damals hatte der Staatsanwalt und so gut wie jeder andere die Geschichte von Charles Stuart geglaubt, daß ein Schwarzer seine Frau umgebracht habe. Ein Schwarzer war verhaftet worden, und wahrscheinlich hätte man ihn auch verurteilt, wenn die Höhe der Versicherungspolice, die Stuart für seine Frau abgeschlossen hatte, nicht dafür gesorgt hätte, daß einige Menschen die Stirn runzelten. Die Sache mit Curtis Moore hatte ebensoviel mit dem Stuart-Fall gemeinsam wie Howard Beach mit Miami Beach, aber hier draußen vor einem Store 24 konnte ich nicht viel dagegen tun.
Angie schnaufte verächtlich, und ich wußte, daß sie den gleichen Artikel las. Ich sagte: »Laß mich raten - du liest gerade das rassistisch motivierte«
Sie nickte. »Mann, bist du abgebrüht, daß du dem armen Jungen die Uzi in die Hand gedrückt hast und ihn gezwungen hast abzudrücken.«
»Ich weiß wirklich nicht, was manchmal über mich kommt.«
»Du hättest versuchen sollen, mit ihm zu reden, Patrick. Hättest ihm sagen sollen, daß du für sein entbehrungsreiches Leben Verständnis hast, das ihm die Pistole in die Hand gedrückt hat.«
»Ich bin so ein richtiges Arschloch.« Ich warf die Zeitung auf den Rücksitz, setzte mich hinters Lenkrad und fuhr los in Richtung Stadt. Angie las im schwachen Licht die Zeitung und atmete schwer durch die Nase. Schließlich zerknüllte sie sie in der Hand und warf sie auf den Boden.
Sie rief: »Wie können die sich noch im Spiegel angucken?«
»Wer?«
»Die Leute, die so einen… Scheiß erzählen. Rassistisch motiviert. Ich bitte dich. ›Curtis ist nie in einer Gang gewesen.‹« Sie blickte nach unten und sprach mit dem Bild von Curtis’ Mutter. »Er war ganz bestimmt nicht bis drei Uhr morgens mit den Pfadfindern unterwegs, Madam.«
Ich klopfte ihr auf die Schulter. »Reg dich ab!«
»So ein Schwachsinn!« rief sie.
»Sie ist eine Mutter«, wandte ich ein. »Sie würde alles behaupten, um ihr Kind zu schützen. Kann man ihr nicht übelnehmen.«
»Ach nein?« fragte sie. »Und warum muß sie dann von Rasse reden, wenn sie einfach nur ihr Kind beschützen will? Was passiert als nächstes? Kommt Reverend Al Sharpton her und hält eine Gedenkwache für Curtis’ Fuß ab ? Macht den bösen weißen Mann auch für Jennas Tod verantwortlich?«
Sie konnte nicht mehr aufhören. Die reaktionäre Wut der Weißen. Die habe ich in letzter Zeit oft erlebt. Ganz schön oft. Ich selber habe manchmal ähnliches gesagt. Am meisten erlebt man sie bei armen Menschen und Arbeitern. Man erlebt sie, wenn hirnverbrannte Soziologen Vorfälle wie den Anschlag im Central Park das Ergebnis »unkontrollierbarer Impulse« nennen und die Taten einer Gruppe von Bestien mit dem Argument verteidigen, sie hätten bloß auf jahrelange Unterdrückung der Weißen reagiert. Und wenn man darauf hinweist, daß diese netten, wohlerzogenen Bestien, die zufällig schwarz sind, ihren Puls sehr wohl unter Kontrolle gehalten hätten, wenn die Joggerin von einer Gruppe Bodyguards bewacht worden wäre, dann bekommt man den Stempel »Rassist« aufgedrückt. Man erlebt diese Wut, wenn die Medien die Hautfarbe zum Thema machen. Man erlebt sie, wenn sich mehrere, eigentlich gutmeinende Weiße zur Diskussion treffen und schließlich sagen: »Ich bin kein Rassist, aber…« Man erlebt sie, wenn Richter, die das Ende der Rassentrennung in öffentlichen Schulen per Dekret herbeiführen wollen, indem sie die Schüler mit Bussen in andere Stadtgebiete karren lassen, ihre eigenen Kinder auf Privatschulen schicken oder wenn, wie kürzlich vorgefallen, ein Richter am Oberlandesgericht sagt, ihm seien noch nie Beweise vorgelegt worden, daß Straßengangs gefährlicher seien als Gewerkschaften.
Am deutlichsten erlebt man diese Wut, wenn Politiker, die in Hyannis Port, Beacon Hill oder Wellesley leben, Entscheidungen fällen, die in Dorchester, Roxbury oder Jamaica Plain lebende Menschen betreffen, sich dann zurückziehen und behaupten, es herrsche kein Krieg.
Doch es herrscht Krieg. Er herrscht auf Spielplätzen, nicht in Fitneßclubs. Er wird auf Beton ausgefochten, nicht auf Wiesen. Er wird mit Crackpfeifen und Flaschen gekämpft, in jüngster Zeit auch mit Schnellfeuerwaffen. Doch solange er nicht durch die schweren Eichentüren dringt, hinter denen man mit Privatschulausbildung, Verschleppungstaktik und Martinis kämpft, wird er nie wirklich existieren.
South Central L.A. könnte ein Jahrzehnt lang brennen, die meisten würden den Rauch erst riechen, wenn die Flammen den Rodeo Drive erreichten.
Ich wollte das klären. Jetzt. Wollte das alles hier im Auto mit Angie durchkauen, bis unsere Standpunkte in diesem Krieg klar definiert waren, bis wir genau wußten, welche Einstellung wir gegenüber jeder Frage hatten, bis wir in unsere Herzen sehen und mit dem, was wir erblickten, zufrieden sein konnten. Aber so fühle ich mich ziemlich oft, und am Ende bewege ich mich nur im Kreis, alles bleibt ungelöst.
Deshalb fragte ich: »Und was willst du dagegen tun, hm?« und parkte am Straßenrand vor ihrem Haus.
Sie blickte auf die Titelseite der Zeitung, auf Jennas Leiche. Dann schlug sie vor: »Ich kann Phil sagen, daß wir Überstunden machen müssen.«
»Mir geht’s gut«, entgegnete ich.
»Geht’s dir nicht.«
Ich lachte halbherzig. »Nein, geht’s mir nicht. Aber du kannst nicht mit in meine Träume kommen und mich dort beschützen. Ansonsten komme ich schon damit zurecht.«
Sie stand jetzt neben dem Auto, beugte sich noch einmal vor und küßte mich auf die Wange. »Mach’s gut, Scooter.«
Ich sah ihr nach, während sie die Stufen zum Hauseingang hochstieg, mit den Schlüsseln herumklimperte und die Tür aufschloß. Bevor sie eintrat, ging im Wohnzimmer ein Licht an, und der Vorhang tat sich einen Spaltbreit auf. Ich winkte Phil zu, worauf der Vorhang schnell wieder zufiel.
Angie schloß die Tür, machte das Licht im Flur aus, und ich fuhr davon.

Im Kirchturm brannte Licht. Ich hielt neben dem Bürgersteig vor der Kirche und ging zum Seiteneingang, wobei ich mir der Tatsache schmerzhaft bewußt war, daß sich meine Pistole zur Beweisaufnahme auf dem Polizeirevier befand. Auf dem Boden lag ein Zettel: »Nicht schießen! Zwei Schwarze an einem Tag sind nicht gut für deinen Ruf.«

Richie.
Als ich eintrat, saß er hinter meinem Schreibtisch. Die Füße hatte er auf den Tisch gelegt, in meinem Ghettoblaster lief eine Kassette von Peter Gabriel, auf dem Tisch stand eine Flasche Glenlivet, und in der Hand hielt er ein Glas. Ich fragte: »Ist das meine Flasche?«
Er sah sie an. »Ich glaube schon, mein Sohn.«
»Dann bedien dich!«
»Danke«, erwiderte er und goß sich noch einen ein. »Du brauchst Eis.«
Ich fand ein Glas in der Schublade und schenkte mir einen doppelten ein. Dann hielt ich die Zeitung hoch. »Gesehen?«
»Das Schmutzblatt lese ich nicht«, antwortete er. »Ja. Hab’ ich gesehen.«
Richie ist keiner von diesen Hollywood-Schwarzen mit weicher, kaffeebrauner Haut und Augen wie Lionel Richie. Er ist schwarz, schwarz wie ein Ölteppich, und nicht gerade hübsch. Er hat Übergewicht, auf seinem Gesicht liegt immer ein Schatten, und seine Frau kauft für ihn die Klamotten. Oft sehen die Kombinationen aus, als würde sie wieder mal experimentieren. Heute trug er eine beigefarbene Baumwollhose, ein hellblaues Hemd und eine pastellfarbene Krawatte, die aussah, als sei ein Mohnblumenfeld explodiert und das Feuer mit Rum gelöscht worden. Ich fragte: »War Sherilynn wieder einkaufen?«
Er warf einen Blick auf seine Krawatte und seufzte: »Sherilynn war wieder einkaufen.«
Ich fragte: »Wo? In Miami?«
Er hob die Krawatte hoch, um sie genauer zu inspizieren. »Könnte man meinen, oder?« Dann nahm er einen Schluck Scotch. »Wo ist deine Kollegin?«
»Bei ihrem Mann.«
Er nickte, und gleichzeitig fügten wir hinzu: »Dem Arschloch.«
»Wann knallt sie ihn endlich ab?« fragte er.
»Ich drücke ständig die Daumen.«
»Na ja, ruf mich an, wenn’s soweit ist. Bei mir zu Hause wartet noch eine Flasche Champagner.«
»Bis dann also.« Ich hob mein Glas. Er stieß an. »Prost.« Ich begann: »Erzähl mir von Curtis Moore.«
»Vom Krüppel?« fragte er. »So wird der alte Curtis im Moment genannt. Treibt einem die Tränen in die Augen, nicht?« Er streckte sich auf seinem Stuhl.
»Tragisch«, bemerkte ich.
»Furchtbar«, erwiderte er. »Aber nimm es nicht zu leicht. Curtis’ Freunde könnten dir einen Besuch abstatten, und das sind besonders fiese Arschlöcher.«
»Wie groß sind die Raven Saints?«
»Verglichen mit L.A. nicht sehr groß«, antwortete er, »aber wir sind nicht in L.A. Ich würde sagen, sie haben um die fünfundsiebzig feste Mitglieder und ungefähr sechzig Mitläufer.«
»Das heißt also, ich muß mich vor hundertfünfunddreißig Schwarzen in acht nehmen.«
Er stellte sein Glas auf den Tisch. »Mach daraus jetzt keine Schwarzensache, Kenzie.«
»Meine Freunde nennen mich Patrick.«
»Ich bin nicht dein Freund, wenn ich so einen Dünnschiß aus deinem Mund höre.«
Ich war wütend und verdammt müde, und ich wollte jemandem die Schuld geben. Meine Nerven lagen blank. Ich war störrisch. »Nenn mir mal eine weiße Gang, die mit Uzis rumläuft, dann habe ich auch vor Weißen Angst, Richie. Aber bis dahin…«
Richie schlug mit der Faust auf den Tisch. »Und was ist dann die Mafia, verdammt noch mal? Ha?« Er stand auf, die Adern an seinem Hals schwollen an, hoben sich wahrscheinlich genauso deutlich ab wie meine. »Die Westies in New York«, fuhr er fort, »diese netten Jungs, Iren wie du, die sich auf Mord, Folter und Cowboyspiele spezialisiert haben. Welche Hautfarbe haben die? Willst du hier sitzen und mir erzählen, meine Brüder hätten das Morden erfunden? Willst du versuchen, mir diesen Scheiß zu verkaufen, Kenzie?«
Unsere Stimmen in dem kleinen Raum waren laut und schroff, sie prallten an den billigen Wänden ab und wurden zurückgeworfen. Ich bemühte mich, ruhig zu sprechen, doch gehorchte mir meine Stimme nicht; sie klang barsch und irgendwie fremd. Ich erwiderte: »Richie, da wird in Howard Beach ein kleiner Junge von einem Auto überfahren, weil ihn eine Horde geistig zurückgebliebener Hitlerjungen auf die Straße jagt…«
»Fang bloß nicht mit Howard Beach an.«
»… und das wird zu einer nationalen Tragödie ausgewalzt. Ist ja auch richtig. Aber«, fuhr ich fort, »wenn in Fenway ein weißes Kind mit achtzehn Stichen von schwarzen Kindern erstochen wird, dann verliert darüber niemand ein einziges Wort. Von Rassenproblemen ist dann nicht die Rede. Schon am nächsten Tag ist der Fall von der Titelseite verschwunden und wird als Mord eingestuft. Nicht rassistisch motiviert. Jetzt sag du mir, Richie, was dieser Scheiß soll.«
Er starrte mich an, hielt sich die Hand nah vors Gesicht, legte sie in den Nacken, um sich zu massieren, dann auf den Schreibtisch, wo er sie unsicher betrachtete, als wüßte er nicht, was er mit ihr anfangen sollte. Er setzte mehrmals zum Sprechen an. Brach ab. Schließlich fragte er leise, flüsterte fast: »Die drei schwarzen Kinder, die den kleinen weißen Jungen umgebracht haben, was meinst du, wandern die in den Knast?«
Jetzt hatte er mich.
»Hm?« fragte er. »Los, sag die Wahrheit!«
Ich antwortete: »Natürlich. Es sei denn, sie bekommen einen guten Anwalt, sie…«
»Nein. Keinen Anwalt. Keine Spitzfindigkeiten jetzt. Wenn sie vor Gericht kommen und eine Jury entscheiden muß, werden sie dann verurteilt? Kriegen sie dann zwanzig Jahre oder lebenslänglich aufgebrummt, oder vielleicht sogar noch schlimmer?«
»Ja«, gab ich zu. »Ja, bekommen sie.«
»Und wenn ein paar weiße Kinder ein schwarzes Kind umbringen würden, und es würde nicht, nehmen wir mal an, als rassistisch motivierter Vorfall eingestuft werden, wenn es nicht zu einer nationalen Tragödie stilisiert würde, was dann?«
Ich nickte.
»Was dann?«
»Dann haben sie eine größere Chance, davonzukommen.«
»Ganz genau«, bestätigte er und ließ sich auf den Stuhl zurückfallen.
»Aber, Richie«, wandte ich ein, »diese Logik ist doch viel zu hoch für den Mann auf der Straße, das weißt du auch. Joe aus Southie sieht, daß man bei einem toten Schwarzen von einem rassistisch motivierten Vorfall spricht, aber bei einem toten Weißen von Mord. Dann sagt er sich: ›Hey, hier stimmt was nicht. Das ist nicht richtig. Hier wird mit zweierlei Maß gemessene Er hört was über Tawana Brawley, die eine Gruppe weißer Jungs verleumdete, indem sie behauptete, sie sei von ihnen vergewaltigt worden; er verliert seinen Job wegen der Gleichstellungsquote und wird langsam sauer.« Ich sah ihn an. »Kann man ihm das verübeln?«
Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar und seufzte. »Ach, Scheiße, Patrick. Ich weiß es nicht.« Er setzte sich auf. »Nein, okay? Ich kann es ihm nicht verübeln. Aber was ist die Alternative?«
Ich schenkte mir noch einen Whisky ein. »Auf jeden Fall nicht radikale Schwarzenführer wie Louis Farrakhan.«
»Und genausowenig ultrarechte Republikaner wie David Duke«, schoß er zurück. »Ich meine, was - sollen wir Gleichstellungsquote, Minderheitenprogramme und den Straftatbestand ›rassistisch motiviert‹ abschaffen?«
Ich wies mit der Flasche auf ihn, und er beugte sich mit seinem Glas vor. »Nein«, antwortete ich und goß ihm ein, »aber…« Ich lehnte mich zurück. »Verflucht, ich weiß es nicht.«
Er lächelte schwach und lehnte sich ebenfalls zurück, wobei er aus dem Fenster sah. Die Peter-Gabriel-Kassette war zu Ende, und von der Straße hörte man hin und wieder ein Auto auf dem Asphalt vorbeisummen. Die durch das Fenster kommende frische Luft hatte sich abgekühlt, und als sie nun ins Zimmer wehte, merkte ich, daß die dicke Luft langsam vertrieben wurde. Wenigstens ein bißchen.
»Weißt du, was typisch amerikanisch ist?« fragte Richie und blickte mit erhobenem Arm, das Glas auf halbem Weg zum Mund, immer noch aus dem Fenster.
Ich spürte, daß die Wut im Zimmer begann, sich langsam im Sog des Alkohols aufzulösen. »Nein, Rich. Was ist typisch amerikanisch?«
»Jemand anderem die Schuld geben«, antwortete er und nahm einen Schluck. »Echt. Du bist Bauarbeiter, und dir fällt ein Hammer auf den Fuß? Was soll’s, verklagen wir die Firma! Der Fuß ist gut und gerne zehntausend Dollar wert. Du bist weiß und hast keine Arbeit? Gleichstellungsprogramme sind schuld. Hast keinen Job und bist schwarz? Die Weißen sind schuld. Oder die Koreaner. Scheißegal, gib den Japsen die Schuld, machen schließlich alle. Dieses ganze beschissene Land ist voll von gemeinen, unglücklichen, verwirrten, abgenervten Leuten, und nicht einer davon hat den Grips, sich ernsthaft mit seiner Situation auseinanderzusetzen. Alle reden nur von früher - als es noch kein Aids gab, kein Crack, keine Banden und keine Massenkommunikation und Satelliten und Flugzeuge und globale Erwärmung -, als ob man die Zeit wieder zurückdrehen könnte. Und sie kriegen einfach nicht raus, warum sie so abgefuckt sind, also suchen sie einen, dem sie die Schuld geben können. Neger, Juden, Weiße, Chinesen, Araber, Russen, Abtreibungsbefürworter, Abtreibungsgegner - wen du willst.«
Ich sagte nichts. Mit der Wahrheit ist schlecht streiten.
Er setzte die Füße auf den Boden und erhob sich, ging auf und ab. Seine Schritte waren etwas unsicher, als erwarte er einen Widerstand. »Die Weißen geben Leuten wie mir die Schuld, weil sie glauben, ich bin nur über die Quote auf meinen Platz gekommen. Die meisten davon können noch nicht mal lesen, glauben aber, daß sie meinen Job verdienen. Die Scheißpolitiker sitzen in ihren Ledersesseln mit Blick auf den Charles und arbeiten daran, ihre scheißdumme weiße Wählerschaft zu überzeugen, ich sei der Grund für ihre Wut, weil ich ihren Kindern das Essen stehle. Schwarze, meine Brüder, behaupten, ich bin keiner von ihnen mehr, weil ich auf einer weißen Straße in einer ziemlich weißen Gegend wohne. Sie behaupten, ich würde mich in den Mittelstand schleichen. Schleichen. Nach dem Motto, ich bin schwarz, ich muß mit Leuten, die ihre Sozialhilfe in Crack umsetzen, in so einem Loch auf der Humboldt Avenue wohnen. Schleichen«, wiederholte er. »Verdammte Scheiße. Heteros hassen Homos, und jetzt wollen die Homos zurückschlagen, was auch immer sie damit meinen. Lesben hassen Männer, Männer hassen Frauen, Schwarze hassen Weiße, Weiße hassen Schwarze, und… jeder sucht einen, dem er die Schuld geben kann. Ich meine, verflucht noch mal, warum soll man sich selbst im Spiegel angucken, wenn man von vornherein genau weiß, daß man viel besser ist als die ganzen Leute da draußen.« Er blickte mich an. »Verstehst du, was ich meine, oder rede ich Stuß?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Aus irgendeinem Grund braucht jeder einen zum Hassen.«
»Wir sind alle ganz schön bekloppt«, bemerkte er.
Ich nickte. »Und ganz schön verbittert.«
Er setzte sich wieder. »Verdammt verbittert.«
Ich fragte: »Und wo führt uns das hin, Rich?«
Er hob sein Glas: »Daß wir am Ende wieder hier sitzen und in unseren Scotch heulen.«
Eine Weile war es still im Zimmer. Wir gössen uns schweigend noch ein Glas ein und tranken etwas langsamer. Nach fünf Minuten erkundigte sich Richie: »Was ist mit dem, was heute passiert ist? Wie geht es dir?«
Das fragten mich alle. Ich antwortete: »Mir geht’s gut.«
»Wirklich?«
»Ja«, wiederholte ich, »denke schon.« Ich blickte ihn an und wünschte, daß er sie kennengelernt hätte. Ich fing an: »Jenna war nett. Ein guter Mensch. Sie wollte bloß einmal im Leben nicht unter den Teppich gekehrt werden.«
Er sah mich an, beugte sich vor und streckte mir das Glas entgegen. »Du willst dafür sorgen, daß jemand für sie zahlt, Patrick, stimmt’s?«
Ich beugte mich ebenfalls vor und stieß mit ihm an. Dann nickte ich. »Da hast du ins Schwarze getroffen«, erwiderte ich und hielt die Hand hoch. »War nicht so gemeint.«