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Der Rest des Tages war Gewäsch.
Wir kehrten zurück ins Büro, ich flirtete mit Angie, sie sagte, ich
solle mich zusammenreißen, das Telefon klingelte nicht, und niemand
schaute zufällig mal vorbei in unserem Glockenturm. Wir bestellten
eine Pizza, tranken ein paar Bier, und ich dachte noch immer daran,
wie sie ausgesehen hatte, als sie hinten im Taxi an ihrem Rock
herumzupfte. Sie blickte mich ein paarmal an, erriet meine Gedanken
und nannte mich einen Perverso. Einen Augenblick kam in mir sogar
ein ganz und gar unschuldiger Gedanke über meine Ferngespräche auf,
aber wenn ich an all die anderen Phantasien denke, war ihre
Beschimpfung wohl gerechtfertigt.
Angie hatte es immer schon mit diesem Fenster hinter ihrem
Schreibtisch. Die Hälfte der Zeit starrt sie nach draußen, beißt
sich auf der Unterlippe herum oder klopft mit dem Bleistift gegen
die Zähne, allein in ihrer eigenen Welt. Aber heute schien es eher
so zu sein, als liefe da irgendwo ein Film, den nur sie sehen
konnte. Viele ihrer Antworten auf meine Kommentare begannen mit
einem »Hm?«, und ich hatte das Gefühl, sie befinde sich auf einem
anderen Planeten. Ich dachte mir, es müsse etwas mit dem Arschloch
zu tun haben, deshalb ließ ich sie in Ruhe.
Meine Pistole lag noch immer auf dem Polizeirevier, und ich hatte
nicht die Absicht, durch die Gegend zu stiefeln und mich allein auf
meinen Schwanz und meinen Optimismus zu verlassen, während mich die
Raven Saints auf der Abschußliste hatten. Ich brauchte eine
vollkommen unberührte Knarre, weil die gesetzlichen Bestimmungen
für nicht registrierte Handfeuerwaffen in Massachusetts äußerst
rigide sind. Für den Fall, daß wir zusammen in etwas verwickelt
würden, brauchte auch Angie eine. Daher rief ich Bubba Rogowski an
und bestellte bei ihm zwei jungfräuliche Teile. Er meinte, kein
Problem, bis fünf Uhr hätte ich sie. Als würde man sich eine Pizza
bestellen.
Als nächstes rief ich Devin Amronklin an. Er gehört jetzt zur neuen
Streetgang-Einsatztruppe des Bürgermeisters. Devin ist klein und
kräftig; Menschen, die ihm weh tun, erregen seinen Zorn. Er besitzt
so lange Narben, daß sie glatt als Straßenmarkierung durchgehen
würden, aber man kann es ziemlich gut mit ihm aushalten, wenn man
sich nicht gerade mit ihm auf einer Cocktailparty in Beacon Hill
befindet.
Er sagte: »Würd’ gerne noch reden, bin aber furchtbar in Eile. Wir
sehen uns morgen bei der Beerdigung. Für Curtis den Krüppel hast du
ein paar Punkte gut, egal, was dieses Arsch Ferry dir erzählt
hat.«
Ich legte auf, und durch meine Brust ging eine kleine warme Welle,
wie wenn man an einem kalten Abend starken Schnaps trinkt und das
Bittere noch nicht schmeckt. In der Nähe von Bubba und Devin fühlte
ich mich sicherer als ein Kondom auf einem Eunuchenkongreß. Doch
dann machte ich mir, wie so oft, klar: Wenn dich jemand umbringen
will, wirklich töten will, dann kann dich nur noch eine Laune des
Schicksals retten. Kein Gott, keine Armee und auf keinen Fall du
selbst. Ich mußte darauf hoffen, daß meine Feinde dumm waren, zum
falschen Zeitpunkt kamen oder ein äußerst schlechtes
Konzentrationsvermögen hatten, wenn der Zeitpunkt der Abrechnung
kam. Die einzigen Dinge, die mich vor dem Grab bewahren
konnten.
Ich sah Angie an: »Was ist los, Süße?«
Sie fragte: »Hm?«
»Ich habe gefragt: Was ist los, Süße?«
Der Bleistift machte klack, klack, klack. Sie kreuzte die Beine auf
der Fensterbank und drehte den Schreibtischstuhl ein Stück in meine
Richtung. »Hey«, begann sie.
»Was?«
»Hör auf damit, okay?«
»Womit?«
Sie wandte sich um und sah mir in die Augen. »Mit diesem ›Hey,
Süße‹. Hör auf damit! Jetzt sofort.«
Ich erwiderte: »Ach komm, Mutti…«
Jetzt drehte sie den Stuhl ganz herum, so daß sie mir gegenübersaß.
»Und mit dem Scheiß hörst du auch auf. Mit diesem ›Ach komm,
Mutti…‹, als ob du überhaupt nichts getan hättest. Du hast was
getan.« Sie sah einen Moment aus dem Fenster und blickte mich dann
wieder an. »Du kannst manchmal ein ganz schönes Arschloch sein,
Patrick. Weißt du das?«
Ich stellte mein Bier auf die Ecke des Schreibtisches. »Was ist
jetzt schon wieder los?«
»Nichts Besonderes«, antwortete sie. »Klar? Es ist nicht gerade
einfach… es ist nicht… Jeden Tag komme ich hierher von meinem
beschissenen… Leben, ich will einfach nur… Scheiße. Und ständig muß
ich mich damit herumschlagen, daß du mich ›Süße‹ nennst und mich
anmachst, als ob das ein Reflex von dir ist, und dann guckst du
mich immer so an, ach, ich will einfach… daß damit Schluß ist.« Sie
rieb sich mit den Händen übers Gesicht, fuhr sich dann durchs Haar
und stöhnte.
Ich versuchte es: »Ange…«
»Und nenn mich nicht Ange, Patrick. Laß das!« Sie trat gegen die
untere Schublade ihres Schreibtisches. »Verstehst du, bei Männern
wie Sterling Mulkern, dem fetten Arschloch, Phil und dir weiß ich
es einfach nicht.«
Es fühlte sich an, als wäre mir etwas im Hals steckengeblieben,
doch ich brachte heraus: »Weißt du was nicht?«
»Alles!« Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen und sah dann
wieder auf. »Ich weiß es einfach nicht mehr.« Sie stand so abrupt
auf, daß ihr Stuhl eine volle Drehung vollführte, und näherte sich
der Tür. »Und ich habe es verdammt satt, immer diese dämlichen
Fragen zu hören.« Sie ging.
Das Geräusch ihrer Absätze hallte wie Gewehrfeuer von den Stufen
wider. Ich verspürte einen starken, stechenden Schmerz hinter den
Augen und war kurz davor loszuheulen.
Das Geräusch ihrer Absätze verstummte. Ich blickte aus dem Fenster,
aber draußen erschien sie nicht. Die zerkratzte beigefarbene
Lackierung auf dem Dach ihres Autos glänzte matt im Licht der
Straßenlaterne.
Im Dunkeln nahm ich jeweils drei Stufen auf einmal, vor mir fiel
die steile, enge Wendeltreppe in ein schwarzes Loch. Sie stand ein
wenig abseits der untersten Stufe gegen den Beichtstuhl gelehnt.
Zwischen ihren Lippen hing eine Zigarette, das Feuerzeug steckte
sie gerade in die Tasche zurück, als ich um die Kurve
bog.
Ich blieb stehen und wartete.
Sie fragte: »Und?«
Ich antwortete: »Und was?«
»Das wird ja ein super Gespräch!«
Ich sagte: »Angie, bitte, laß mir ein bißchen Zeit. Das kommt für
mich, ehrlich gesagt, wie aus heiterem Himmel.« Ich hielt den Atem
an, als sie mich mit verhangenem Blick ansah, ein Blick, der mir
sagte, daß ich herausgefordert wurde und möglichst schnell
herausfinden sollte, worin die Herausforderung bestand. Ich begann:
»Ich weiß, was dir nicht paßt - wegen Mulkern, Phil und mir.
Momentan gibt es eine Menge Scheiß Typen…«
»Jungen«, unterbrach sie mich.
»In Ordnung«, lenkte ich ein. »Eine Menge Scheißjungen in deinem
Leben. Aber ich frage dich, Ange, was stimmt nicht?«
Sie zuckte mit den Achseln und aschte auf den Marmorboden. »Dafür
werde ich wahrscheinlich in der Hölle schmoren.«
Ich wartete.
»Nichts stimmt mehr, Patrick. Nichts. Als ich daran dachte, daß du
gestern fast gestorben wärst, da mußte ich auch an viele andere
Sachen denken. Ich meine, Gott im Himmel, ist das mein Leben? Phil?
Dorchester?« - Sie machte eine ausladende Handbewegung - »Das hier?
Ich gehe zur Arbeit, halte dich auf Abstand, du hast deinen Spaß,
ich gehe nach Hause, werde ein- oder zweimal im Monat
zusammengeschlagen und schlafe manchmal noch in derselben Nacht mit
dem Schwein und… ist das alles? Das soll ich sein?«
»Niemand sagt, daß es so sein muß.«
»Ja, toll, Patrick. Ich werde Gehirnchirurg.«
»Ich kann…«
»Nein.« Sie ließ die Zigarette auf den Marmorboden fallen und trat
sie aus. »Für dich ist das ein Spiel. Du denkst nur: Wie sie wohl
im Bett ist? Und wenn du es dann weißt, bist du weg.« Sie
schüttelte den Kopf. »Das ist mein Leben. Kein Spiel.«
Ich nickte.
Sie lächelte kläglich, und bei dem bißchen Licht, das durch die
grünen Glasfenster rechts von mir schien, konnte ich sehen, daß
ihre Augen feucht waren. Sie fragte: »Weißt du noch, wie ich früher
war?«
Ich nickte erneut. Sie sprach von früher. Früher, als es noch keine
Beschränkungen gab. Früher, als das hier noch ein leicht schäbiger,
melancholischer, romantischer Ort war, nicht die grausame
Wirklichkeit.
Sie fügte hinzu: »Wer hätte das gedacht, hm? Ganz schön komisch,
oder?«
»Nein«, entgegnete ich.