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Das alte Viertel ist die Gegend um den Edward Everett Square in Dorchester. Es ist weniger als fünf Meilen vom Bostoner Stadtzentrum entfernt, das heißt, an guten Tagen schafft man es mit dem Auto in einer halben Stunde.

Mein Büro befindet sich im Glockenturm der St.Bartholomew’s-Kirche. Ich habe nie herausbekommen, was mit der Glocke passiert ist, die mal da hing, und die Nonnen, die nebenan in der Pfarrschule unterrichten, wollen es mir nicht sagen. Die älteren beantworten meine Fragen generell nicht, und die jüngeren finden meine Neugier amüsant. Schwester Helen sagte mir einmal, sie sei »weggewundert« worden. Das waren ihre Worte. Schwester Joyce, die so alt ist wie ich, sagt immer, sie sei »verlegt« worden, und lächelt mich dabei auf eine so verruchte Art an, wie man es bei Nonnen nie für möglich gehalten hätte. Ich bin ein Detektiv, aber Nonnen können so mauern, daß selbst Sam Spade im Irrenhaus landen würde.

Am Tag nachdem ich meinen Zulassungsschein als Detektiv bekommen hatte, fragte mich der Pfarrer, Vater Drummond, ob ich nicht Lust hätte, auf die Kirche aufzupassen. Immer wieder waren Ungläubige eingebrochen, um Kelche und Kerzenleuchter zu stehlen; Pfarrer Drummond meinte dazu: »Dieser Scheiß hört jetzt besser auf.« Mein allererster Fall. Er bot mir täglich drei Mahlzeiten im Pfarrhaus an sowie den Dank Gottes, wenn ich mich in den Glockenturm setzte, um auf den nächsten Einbruch zu warten. Ich sagte ihm, ich sei nicht so billig zu haben, und verlangte, den Turm benutzen zu dürfen, bis ich ein eigenes Büro gefunden hätte. Für einen Priester gab er ziemlich schnell nach. Als ich sah, in welchem Zustand der Raum war (seit neun Jahren ungenutzt), kannte ich auch den Grund.

Es gelang Angie und mir, zwei Schreibtische reinzustellen. Und zwei Stühle. Als wir merkten, daß kein Platz für einen Aktenschrank vorhanden war, karrte ich die ganzen alten Ordner in meine Wohnung. Wir gaben Unsummen für einen Computer aus, speicherten soviel wie möglich auf Disketten und verstauten einige aktuelle Ordner in den Schreibtischen. Beeindruckt die Klienten fast so, daß sie vergessen, wo sie sich befinden. Fast.

Angie saß hinter ihrem Schreibtisch, als ich die oberste Treppenstufe erreichte. Sie war damit beschäftigt, die neuesten Leserbriefe an Ann Landers zu studieren, deshalb trat ich leise ein. Zuerst bemerkte sie mich nicht - Ann mußte es mit einem wirklich schweren Fall zu tun haben -, deshalb hatte ich Gelegenheit, sie in einem seltenen Moment der Ruhe zu beobachten.

Sie hatte die Füße auf den Tisch gelegt, die in schwarzen Peter-Pan-Wildlederstiefeln steckten, den Saum ihrer schwarzen Jeans hatte sie in die Schuhe gestopft. Mein Blick folgte ihren langen Beinen, bis er auf ein weites, weißes Baumwoll-T-Shirt traf. Der Rest von ihr war hinter einer Zeitung versteckt, man konnte nur ein bißchen von ihrem dicken, kräftigen Haar sehen, das die Farbe regennassen Teers besaß und ihr auf die olivbraunen Arme fiel. Hinter der Zeitung befand sich ein schlanker Hals, der bebte, wenn sie das Lachen über meine Witze unterdrücken wollte, ein energisches Kinn mit einem fast unsichtbaren braunen Schönheitsfleck links, eine aristokratische Nase, die überhaupt nicht zu ihrem Charakter paßte, und zwei Augen, die die Farbe von schmelzendem Karamel hatten. Augen, in die man ohne Bedenken eintauchte.

Heute hatte ich aber keine Möglichkeit, ihr in die Augen zu sehen. Sie legte die Zeitung nieder und sah mich durch eine schwarze Wayfarer an. Ich bezweifelte, daß sie die Brille in nächster Zukunft abnehmen würde.

»Hey, Scooter«, grüßte sie mich und nahm eine Zigarette aus der Packung auf ihrem Schreibtisch.
Angie ist die einzige, die mich Scooter nennen darf. Wahrscheinlich, weil sie die einzige ist, die vor dreizehn Jahren nachts mit mir im Auto meines Vaters saß, als ich es um eine Straßenlaterne in Lower Mills wickelte.
»Hey, Süße«, antwortete ich und ließ mich in meinen Stuhl fallen. Ich glaube, ich bin nicht der einzige, der sie »Süße« nennt, aber das ist die Macht der Gewohnheit. Oder die Feststellung einer Tatsache. Kann man sich aussuchen. Ich nickte ihr hinter der Sonnenbrille zu: »Letzte Nacht Spaß gehabt?«
Sie zuckte mit den Achseln und sah aus dem Fenster. »Phil war betrunken.«
Phil ist Angies Mann. Phil ist ein Arschloch.
Das sagte ich ihr.
»Ja, schon…« Sie hob eine Ecke des Vorhangs hoch und spielte mit ihr herum. »Was willst du da machen, hm?«
»Was ich schon mal gemacht habe«, antwortete ich. »Nur zu gerne.«
Sie senkte den Kopf, so daß ihr die Sonnenbrille bis auf den kleinen Höcker auf dem Nasenrücken herunterrutschte und den Blick auf eine dunkle Verfärbung freigab, die sich von ihrem linken Augenwinkel bis zur Schläfe zog. »Und wenn du damit fertig bist«, entgegnete sie, »kommt er nach Hause, und danach sieht das hier wie ein liebevoller Klaps aus. Sie schob die Sonnenbrille wieder vor die Augen. »Sag mir, falls ich mich irre.« Ihre Stimme war klar, aber so kalt wie die Sonne im Winter. Ich haßte diese Stimme.
»Wie du willst«, sagte ich.
»Klar.«
Angie, Phil und ich sind zusammen aufgewachsen. Angie und ich, immer beste Freunde. Angie und Phil, immer die große Liebe. Manchmal ist das so. Nach meinen Erfahrungen nicht immer, Gott sei Dank, aber manchmal. Vor ein paar Jahren kam Angie mit Sonnenbrille ins Büro. Wo vorher ihre Augen waren, befanden sich nun zwei riesige Kugeln. Außerdem hatte sie ein hübsches Sortiment von blauen Flecken auf den Armen und am Hals sowie eine zweieinhalb Zentimeter große Beule am Hinterkopf. Mein Gesicht mußte verraten haben, was ich vorhatte, weil sie nichts weiter sagte als: »Patrick, sei vernünftig.« Nicht, daß es das erste Mal gewesen wäre, nein. Aber es war so schlimm wie nie zuvor, und als ich Phil in Jimmy’s Pub in Uphams Corner aufspürte, wir ein paar anständige Bier zusammen tranken, ein oder zwei anständige Runden Pool-Billard spielten, ich ihn auf das Thema ansprach und er mit »Warum kümmerst du dich nicht um deinen eigenen Scheiß, Patrick?« antwortete, prügelte ich ihm mit einem anständigen Queue fast die Seele aus dem Leib.
Danach war ich einige Tage ganz zufrieden mit mir. Ich erinnere mich zwar nicht, aber es ist möglich, daß ich mich einigen romantischen Phantasien bezüglich Angie und mir hingab. Dann wurde Phil aus dem Krankenhaus entlassen, und Angie kam eine Woche nicht zur Arbeit. Als sie wieder da war, bewegte sie sich sehr vorsichtig und keuchte jedesmal, wenn sie sich hinsetzte oder aufstand. Ihr Gesicht hatte er ausgelassen, aber ihr Körper war schwarz vor Prügel.
Zwei Wochen lang sprach sie nicht mit mir. Ganz schön lange, zwei Wochen.
Jetzt sah ich sie an, während sie aus dem Fenster blickte. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich, warum eine solche Frau
- die sich von keinem etwas sagen ließ, die zwei Salven in einen Dickkopf namens Bobby Royce gepumpt hatte, weil er nicht auf unsere freundlichen Bitten eingehen wollte, zu seinem Kautionsbürgen zurückzukehren -, warum eine solche Frau es zuließ, daß ihr Mann sie wie ein Punchball behandelte. Bobby Royce war nie wieder aufgestanden, und ich fragte mich oft, wann Phil wohl an der Reihe sein würde. Bis jetzt jedenfalls nicht.
Und die Antwort auf meine Frage lag in der weichen, müden Art, in der sie über ihn redete. Sie liebte ihn, ganz einfach. Ein Teil von ihm, den ich schon lange nicht mehr erkennen konnte, offenbarte sich ihr noch in ihren privaten Momenten, er besaß noch irgendeine gute Seite, die wie das Helle in ihren Augen leuchtete. Das mußte es sein, weil nichts anderes in ihrer Beziehung für mich verständlich war, und auch für niemanden sonst.
Sie öffnete das Fenster und schnippte die Zigarette nach draußen. Straßengöre bis ins Mark. Ich wartete darauf, daß eine Sommerschülerin schreien oder eine Nonne die Treppe hochhasten würde, den Zorn Gottes in den Augen, eine brennende Zigarettenkippe in der Hand. Nichts passierte. Angie wandte sich vom offenen Fenster ab, und eine kühle Sommerbrise erfüllte den Raum mit dem Geruch von Auspuffgasen, Freiheit und den Fliederblüten vom Schulhof.
»Also«, sagte sie und lehnte sich gegen die Stuhllehne, »haben wir einen neuen Job?« »Wir haben einen neuen Job.« »Juhu«, gab sie zurück. »Netter Anzug übrigens.« »Da möchtest du sofort auf mich springen, nicht?« Sie schüttelte langsam den Kopf. »Uh, nein.« »Weißt nicht, wo ich gewesen bin, stimmt’s?« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Ich weiß genau, wo du gewesen bist, Scooter, das ist ja eigentlich das Problem.« »Zicke«, sagte ich.
»Schwein.« Sie streckte mir die Zunge raus. »Was ist das für ein Fall?«
Ich zog die Informationen über Jenna Angeline aus meiner Brusttasche und warf sie auf den Schreibtisch. »Finden und anrufen, ganz einfach.«
Sie prüfte die Blätter. »Warum machen die sich Sorgen, wenn eine Putzfrau mittleren Alters verschwindet?«
»Offenbar sind mit ihr ein paar Unterlagen verschwunden. Unterlagen des Parlaments.«
»Die wem gehören?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Du kennst doch diese Politiker. Bis es auf die Tagesordnung kommt, ist alles so geheim wie Los Alamos.«
»Woher wissen sie, daß sie die Unterlagen gestohlen hat?«
»Sieh dir das Bild an.«
»Ach so«, antwortete sie nickend, »sie ist schwarz.«
»Für die meisten Menschen Beweis genug.«
»Sogar für die Liberalen im Senat?«
»Der Vorsitzende der Liberalen im Senat ist auch nur ein Rassist aus Southie, wenn er nicht gerade im Parlament sitzt.«
Ich erzählte ihr von unserem Treffen, von Mulkern und seinem Schoßhund Paulson und von den roboterartigen Angestellten im Ritz.
»Und der Abgeordnete James Vurnan - wie benahm er sich in Gesellschaft von solch wichtigen Männern?«
»Kennst du diese Zeichnung mit einem großen und einem kleinen Hund, wo der kleine Hund immer hechelt, herumspringt und den großen Hund fragt: ›Wo gehen wir hin, Butch? Wo gehen wir hin, Butch?‹«
»Ja.«
»So«, erwiderte ich.
Sie kaute auf einem Bleistift und klopfte sich dann damit gegen die Schneidezähne. »Also, das hätte mir jetzt ein heimlicher Beobachter auch erzählen können. Wie war es wirklich?«
»Das war’s.«
»Vertraust du ihnen?«
»Verdammt, nein!«
»Also steckt mehr dahinter, Detective?«
Ich zuckte mit den Achseln. »Das sind gewählte Leute. Die sagen erst die Wahrheit, wenn es die Nutten umsonst machen.«
Sie lächelte. »Deine Vergleiche sind wie immer unnachahmlich. Du hast wirklich eine tolle Erziehung genossen, echt.« Sie lachte noch breiter, während sie den Blick nicht von mir ließ und mit dem Stift gegen den linken Schneidezahn klopfte, dem eine kleine Ecke fehlte. »Und, wie geht die Geschichte weiter?«
Ich lockerte meine Krawatte so weit, daß ich sie über den Kopf ziehen konnte. »Jetzt hast du mich.«
»Toller Detektiv«, sagte sie.