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Wir verließen die Kneipe ungefähr eine Stunde später. Roys Freunde hatten ihn bereits weggebracht, wahrscheinlich zur Notaufnahme des City Hospital. Sie warfen Angie und mir böse Blicke zu, als sie Roy an uns vorbeizerrten, doch Devins ausdruckslosen Augen wichen sie aus, als sei er der Antichrist persönlich.

Für Tommys verlorenes Geschäft warf Devin einen Zwanziger mehr auf die Theke. Tommy klagte: »Du bist ein echter Wichser, Sarge. Kommst du jetzt jeden Tag rein und gibst mir Geld, wenn sie nicht mehr kommen?«

Devin brummelte vor sich hin: »Yeah, yeah, yeah«, und stolperte betrunken auf den Ausgang zu.
Angie und ich holten ihn auf der Straße wieder ein. Ich schlug vor: »Komm, ich fahr’ dich nach Hause, Dev.«
Devin torkelte auf den Parkplatz von Dunkin’ Donuts zu. Er sagte: »Danke schön, Kenzie, aber ich muß in Übung bleiben.«
»Wofür?« fragte ich.
»Falls ich noch mal trinke und dann fahre. Dann will ich nämlich wissen, wie ich es heute geschafft habe.« Er drehte sich um und ging ein paar Schritte rückwärts. Ich erwartete, daß er umfallen würde.
Er erreichte seinen verrosteten Camaro und zog die Schlüssel aus der Tasche.
Ich versuchte es wieder: »Devin!« mahnte ich, ging auf ihn zu und griff nach seinen Schlüsseln.
Da packte er mich mit der Hand am Hemd, drückte mir seine Handknöchel gegen den Adamsapfel und trug mich ein paar Meter zurück, sein Blick war verschwommen. Er murmelte: »Kenzie, Kenzie«, und warf mich gegen ein Auto. Dann tätschelte er mir mit der anderen Hand die Wange. Devin hat riesige Hände. Wie ein Steak mit Fingern dran. »Kenzie«, wiederholte er mit einem harten Gesichtsausdruck. Langsam wiegte er den Kopf von einer Seite zur anderen. »Ich fahre jetzt. Okay?« Er ließ meinen Kragen los und strich über die Falten, die er in meinem Hemd hinterlassen hatte. Er schenkte mir ein seelenloses Lächeln. »Bist schon in Ordnung«, brummte er. Dann wandte er sich wieder seinem Auto zu und nickte Angie zu. »Paß auf dich auf, Traumfrau!« Er öffnete die Tür seines Wagens und stieg ein. Er mußte den Schlüssel zweimal umdrehen, bis der Motor ansprang, dann schlug der Auspuff auf der Zufahrtsrampe auf, und der Wagen bog auf die Straße. Er reihte sich in den Verkehr ein, schnitt einen Volvo und bog um die Ecke.
Ich hob die Augenbrauen und pfiff leise. Angie zuckte mit den Achseln.
Wir fuhren Richtung Innenstadt und holten den Vobeast vom Parkplatz; für das Parkgeld hätte ich ein Kind bis zur Uni durchbringen können. Angie fuhr meinen alten Wagen; sie folgte mir bis zur Garage, wo ich den Porsche wieder seinem trauten Heim übergab und zurück zu ihr in den Vobeast stieg. Sie rutschte zur Seite, und ich tuckerte mit dem rollenden Schrotthaufen in die Cambridge Street rein.
Wir ließen die Innenstadt hinter uns, passierten die Gegend, wo die Cambridge Street in die Tremont übergeht, fuhren dort vorbei, wo Jenna wie eine weggeworfene Puppe in der Morgensonne gesessen hatte, vorbei an den Überresten des alten Rotlichtbezirks, der, dem Städtebau und dem Videoboom ausgesetzt, langsam, aber sicher verfiel. Warum sollte man sich in einem dreckigen Kino einen runterholen, wenn man sich auch gemütlich zu Hause in der dreckigen Wohnung einen runterholen konnte?
Wir fuhren durch South Boston - Southie für alle, die keine Touristen oder Nachrichtensprecher sind -, vorbei an Straßenzügen heruntergekommener zweistöckiger Häuser, die wie eine Reihe von Toilettenhäuschen bei einem Rockkonzert aufgestellt waren. Southie verblüfft mich. Dieses Viertel ist größtenteils arm, überbevölkert und erbarmungslos vernachlässigt. Die Sozialbauten in der D Street sind genauso schlimm wie in der Bronx: dreckig, schlecht beleuchtet und voller wütender, blutrünstiger Punker mit Bürstenschnitt und Baseballschlägern, die die Straßen unsicher machen. Vor ein paar Jahren kam dort zufällig am St. Patrick’s Day ein sehr irisch aussehender Junge mit einem Kleeblatt auf dem T-Shirt vorbei. Er traf eine Gruppe irischer Kinder, die ebenfalls Kleeblätter auf den T-Shirts hatten. Der einzige Unterschied zwischen ihnen und dem Jungen bestand darin, daß auf seinem T-Shirt in grüner Schrift »Dorchester« über das Kleeblatt geschrieben war und bei ihnen »Southie«. Die Kids aus der D Street lösten das Problem, indem sie den Jungen von einem Dach stießen.
Wir fuhren den Broadway hinauf, vorbei an Kindern mit Lockenwicklern, die Kinder in Kinderwagen schoben, vorbei an Autos, die in zweiter und dritter Reihe parkten, vorbei an dem gesprayten Schriftzug »Nigger bleiben draußen« auf einem Ladengitter. Glassplitter blitzten auf den dreckigen Bürgersteigen, Müll wurde unter die Autos und auf die Straße geweht. Ich überlegte mir, daß ich aussteigen und zwanzig Leute befragen könnte, warum sie die »Nigger« so sehr haßten, und daß mir die Hälfte von ihnen wahrscheinlich antworten würde: »Weil sie verdammt noch mal keinen Stolz besitzen, Mann.« Was also, wenn der Broadway in Southie genau dasselbe war wie die Dudley Street in Roxbury, wenn auch nicht ganz so schlimm?
Wir befanden uns inzwischen in Dorchester, wo wir um den Columbia Park fuhren und dann in Richtung unserer Straße. Ich hielt vor der Kirche an, und als wir die Treppe hochstiegen, konnten wir schon das Telefon klingeln hören. Anstrengender Tag. Nach dem zehnten Klingeln nahm ich ab. »KenzieGennaro«, meldete ich mich.
Angie ließ sich auf ihren Stuhl fallen, und die Stimme am anderen Ende sagte: »Moment. Hier möchte jemand mit Ihnen sprechen.«
Ich ging um den Tisch herum und setzte mich ebenfalls, den Hörer nahm ich mit. Angie sah mich fragend an, doch ich zuckte mit den Achseln.
Dann war eine Stimme in der Leitung. »Mr. Kenzie?«
»Ich glaube schon.«
»Der Patrick Kenzie?« Die Stimme klang irgendwie unsicher, als sei sie es nicht gewohnt, mit ironischen Bemerkungen umzugehen.
»Kommt drauf an«, erwiderte ich. »Wer ist da?«
»Du bist also Kenzie«, sagte die Stimme. »Wie geht’s mit dem Atmen?«
Ich sog hörbar Luft ein, hielt kurz inne und atmete dann langsam wieder aus. Ich antwortete: »Viel besser, seit ich nicht mehr rauche, danke.«
»Ähem«, kam es langsam und zäh aus seinem Mund wie Ahornsirup. »Tja, dann gewöhn dich gar nicht erst dran. Ist sonst zu deprimierend, wenn du es nicht mehr kannst.« Die Ahornsirupstimme klang voll, aber hell.
Ich fragte: »Drückst du dich immer so aus, Socia, oder ergehst du dich nur heute besonders gerne in Andeutungen?«
Angie richtete sich auf und beugte sich vor.
Socia sagte: »Kenzie, der einzige Grund, warum du noch herumläufst, ist, weil wir über was reden müssen. Ich könnte auch einfach einen vorbeischicken, der dir das Rückgrat mit ‘nem Hammer bearbeitet. Ich brauche ja nur deinen Mund.«
Ich setzte mich ebenfalls auf und kratzte mich ein paar Zentimeter über dem Hintern. Ich ging auf ihn ein. »Dann schick doch einen vorbei, Socia. Ich nehme gern noch ein paar Amputationen vor. Dann hast du bald eine ganze Armee von Krüppeln.«
»Du hast gut reden, wo du sicher und behütet in deinem Büro sitzt.«
»Tja, guck mal, Marion, ich muß ja mein Geschäft weiterführen.«
»Sitzt du gerade?« fragte er.
»Ja, klar.«
»Auf dem Stuhl neben dem Ghettoblaster?«
Alles in mir wurde eiskalt, ein Strom zerstoßenen Eises ergoß sich in meine Arterien.
Socia redete weiter: »Falls du auf dem Stuhl sitzt, würde ich jetzt nicht unbedingt aufstehen, es sei denn, du willst sehen, wie dein Arsch an dir vorbei aus dem Fenster fliegt.« Er kicherte. »Nett, dich kennengelernt zu haben, Kenzie.«
Er legte auf. Ich sah Angie an und sagte: »Beweg dich nicht«, obwohl sie es ja ruhig tun konnte.
»Was?« Sie stand auf.
Das Zimmer explodierte nicht, doch fiel ich fast in Ohnmacht. Immerhin war jetzt klar, daß er nicht noch eine Bombe unter ihrem Stuhl angebracht hatte, nur so zum Spaß. Ich erklärte: »Socia sagt, unter meinem Stuhl wär ‘ne Bombe.«
Sie erstarrte mitten im Gehen vor Schreck. Mit dem Wort »Bombe« erreicht man so was. Dann atmete sie tief ein. »Die Sprengstoffexperten von der Feuerwehr anrufen?«
Ich versuchte, nicht zu atmen. Es bestand die Möglichkeit, sagte ich mir, daß das Gewicht des Sauerstoffs in meiner Lunge Druck auf meinen Unterkörper ausüben und die Bombe zur Detonation bringen könnte. Gleichzeitig merkte ich, wie absurd diese Idee war, da die Bombe bestimmt durch Druckabfall zünden würde, nicht durch Erhöhung des Drucks. Deshalb konnte ich jetzt nicht ausatmen. Am besten überhaupt nicht mehr atmen.
Ich preßte hervor: »Ja, ruf die Feuerwehr an.« Es klang lustig, zu reden, während man den Atem anhält, ungefähr wie Donald Duck mit einer Erkältung. Dann schloß ich die Augen und sagte: »Warte. Guck zuerst mal unter dem Stuhl nach.«
Es war ein alter Holzstuhl.
Angie legte das Telefon wieder weg. Sie kniete sich neben mich. Es dauerte ein bißchen. Keiner hat das Gesicht gerne wenige Zentimeter von einem explosiven Stoff entfernt. Sie kroch mit dem Kopf unter den Stuhl, und ich hörte, daß sie laut ausatmete. Sie meldete: »Ich kann nichts sehen.«
Ich atmete wieder, hielt dann aber erneut inne. Womöglich war die Bombe im Holz drin. Ich fragte: »Kannst du sehen, ob jemand am Holz herumgefummelt hat?«
»Was? Ich kann dich nicht verstehen.«
Ich riskierte es und atmete aus, dann wiederholte ich meine Frage.
Mir kam es vor, als würde sie sich sechs oder sieben Stunden dort unten aufhalten, bevor sie antwortete: »Nein.« Sie rutschte unter dem Stuhl hervor und setzte sich auf den Boden. »Unter deinem Stuhl ist keine Bombe, Patrick.«
»Super«, lächelte ich.
»Und?«
»Und was?«
»Stehst du jetzt auf?«
Ich stellte mir vor, daß mein Arsch an mir vorbeiflog. »Wieso, haben wir’s eilig?«
»Nein«, erwiderte sie. »Warum stehst du nicht auf?«
»Vielleicht sitze ich gerne hier.«
»Steh auf!« befahl sie mir und erhob sich selbst. Dann hielt sie mir die Hände hin.
»Ich bereite mich gerade drauf vor.«
»Steh auf«, wiederholte sie. »Komm zu mir, Baby.«
Ich gehorchte. Ich legte die Arme auf den Stuhl und gehorchte. Nur daß ich immer noch saß. Mein Gehirn hatte die Bewegung ausgeführt, aber mein Körper war anderer Meinung. Wie professionell waren Socias Leute? Konnten sie eine Bombe spurlos in einem Holzstuhl verstecken? Natürlich nicht. Ich hab schon von vielen Todesarten gehört, aber noch nicht, daß jemand durch eine vollkommen unsichtbare Bombe in einem dünnen Holzstuhl in die Luft flog. Aber ich konnte natürlich die Ehre haben, der erste zu sein.
»Scooter?«
»Ja?«
»Bist du soweit?«
»Okay, ja, wart mal…«
Sie ergriff meine Hände und riß mich vom Stuhl hoch. Ich prallte gegen sie, und zusammen fielen wir auf den Schreibtisch und gingen nicht in die Luft. Sie lachte, auch so was wie eine Explosion, und mir wurde klar, daß sie selbst nicht ganz sicher gewesen war. Aber trotzdem hatte sie mich hochgezogen. »Du liebe Güte«, stöhnte sie.
Ich fing auch an zu lachen, lachte wie jemand, der seit einer Woche nicht geschlafen hatte, ein hysterisches, besinnungsloses Lachen. Ich hielt sie fest, hatte die Hände um ihre Hüfte gelegt, ihre Brüste hoben und senkten sich an meiner Brust. Beide waren wir schweißgebadet, doch ihre Augen glänzten, die dunklen Pupillen waren groß, trunken vor Freude über diesen Augenblick, der nicht unser letzter auf Erden war.
Da küßte ich sie, und sie erwiderte den Kuß. Einen Moment lang wurde alles verstärkt - der Klang einer Autohupe vier Stockwerke unter uns, der Geruch einer kühlen Sommernacht, vermischt mit Frühjahrsstaub auf der Fensterscheibe, der salzige Hauch frischen Schweißes an unserem Haaransatz, der leichte Schmerz meiner noch geschwollenen Lippen, der Geschmack ihrer Lippen und ihrer Zunge, die noch immer etwas kalt war von dem Bier, das wir vor einer Stunde getrunken hatten.
Dann klingelte das Telefon.
Sie setzte mir die Hände auf die Brust und drückte mich weg, dann schlüpfte sie unter mir hindurch und schob sich am Schreibtisch entlang. Sie lächelte, aber es wirkte, als glaubte sie selbst nicht daran, und ihre Augen nahmen schon wieder den Ausdruck von Bedauern und Angst an. Nur Gott weiß, was in meinen Augen geschrieben stand.
Ich meldete mich mit einem rauhen: »Hallo.«
»Sitzt du immer noch?«
»Nein«, antwortete ich, »ich gucke gerade aus dem Fenster und suche meinen Arsch.«
»Ähem. Tja, vergiß das nicht, Kenzie: Jeder kann jeden erwischen, und jeder kann dich erwischen.«
»Was kann ich für dich tun, Marion?«
»Mich treffen und mit mir reden.«
»Muß ich wohl, ja?«
»Darauf kannst du deinen Arsch wetten.« Er kicherte leise.
»Tja, Marion, ich muß dir leider sagen, daß ich bis Oktober ausgebucht bin. Warum versuchst du’s nicht so um Halloween noch mal?«
Er sagte nur: »Howe Street zweihundertfünf.« Mehr brauchte er nicht sagen. Das war Angies Adresse.
»Wann und wo?«
Er kicherte nochmals leise. Er hatte mich durchschaut und wußte es, und ihm war klar, daß ich es auch wußte. »Wir treffen uns, wo viel los ist, dann kannst du dir einbilden, daß du in Sicherheit bist.«
»Verdammt korrekt von dir.«
»Downtown Crossing«, schlug er vor. »In zwei Stunden. Vor Barnes and Noble. Und du kommst allein, sonst muß ich der Hausnummer einen kleinen Besuch abstatten, von der ich gerade gesprochen habe.«
»Downtown Crossing«, wiederholte ich.
»In zwei Stunden.«
»Damit ich mich sicher fühlen kann.«
Er kicherte abermals. Ich nahm an, es war eine Gewohnheit von ihm. »Yeah«, bestätigte er, »damit du dich sicher fühlen kannst.« Dann legte er auf.
Ich tat dasselbe und blickte Angie an. Das Zimmer war immer noch erfüllt von der Erinnerung an unsere sich berührenden Lippen, an meine Hand in ihrem Haar und an ihre Brüste, die sich gegen meinen Oberkörper preßten.
Sie saß auf ihrem Stuhl und sah aus dem Fenster. Sie drehte sich nicht um. »Ich will nicht sagen, daß es nicht schön war, denn es war schön. Und ich gebe dir auch nicht die Schuld daran, weil ich genausoviel Schuld habe. Aber ich will sagen, daß es nicht noch mal passieren wird.«
Klang so, als ob sie sich kein Hintertürchen offenhalten wollte.