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Es war halb zwei in der Nacht zum fünften Juli, als wir Sterling Mulkern und Jim Vurnan in der Bar des Hyatt Regency in Cambridge trafen. Sie befindet sich in einem dieser Drehtürme, und während wir uns langsam im Kreis drehten, glitzerte die Stadt unter uns, und die roten Steinbrücken über dem Charles wirkten schön und alt; selbst der efeubewachsene Backstein von Harvard ärgerte mich heute nicht.
Mulkern trug einen grauen Anzug mit einem weißen Hemd, keine Krawatte. Jim steckte in einem rund ausgeschnittenen Angorapullover und einer braunen Baumwollhose. Beide sahen nicht gerade erfreut aus.
Angie und ich waren wie immer angezogen, wir
machten uns keine Gedanken darüber.
Mulkern begrüßte uns: »Ich hoffe, du hast einen guten Grund dafür,
uns zu so einer Zeit rauszurufen, Junge.«
»Sicher«, antwortete ich. »Bitte wiederholen Sie noch mal unsere
Abmachung, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
»Also komm«, mahnte Mulkern. »Was soll das?«
»Wiederholen Sie die Vertragsbedingungen«, sagte ich.
Mulkern warf Jim einen Blick zu und zuckte mit den Achseln. Jim
bemerkte: »Patrick, du weißt verdammt gut, daß wir uns auf euren
Tagessatz plus Spesen geeinigt haben.«
»Plus?«
»Plus einer Zulage von siebentausend Dollar, wenn ihr die
Unterlagen vorlegt, die Jenna Angeline gestohlen hat.« Jim war
gereizt; vielleicht nötigte ihn seine blonde Frau mit dem Diplom
von Vassar und der aparten Kurzhaarfrisur wieder dazu, auf der
Couch zu schlafen. Oder ich hatte sie bei ihrem alle zwei Monate
stattfindenden Stelldichein unterbrochen.
Ich erklärte: »Sie haben mir zweitausend Dollar Vorschuß gegeben.
Ich habe sieben Tage an dem Fall gearbeitet. Wenn ich kleinlich
wäre, ist dies sogar der Morgen des achten Tages, aber ich will mal
nicht so sein. Hier ist die Rechnung.« Ich reichte sie
Mulkern.
Er sah sie kaum an. »Grotesk überzogener Preis, aber wir haben dich
angeheuert, weil du angeblich dein Geld wert bist.«
»Wer hat Curtis Moore auf mich angesetzt? Sie oder
Paulson?«
Jim warf ein: »Was redest du da für eine Scheiße? Curtis Moore hat
für Socia gearbeitet.«
»Aber er hat es geschafft, sich gut fünf Minuten nach unserem
ersten Treffen an mich zu hängen.« Ich sah Mulkern an. »Wie
praktisch!«
Mulkerns Blick ließ nichts erkennen; er war die Art von Mann, an
dem noch so viele Mutmaßungen, wie logisch sie auch sein mochten,
einfach abprallten, solange sie nicht durch Beweise gestützt
wurden. Und wenn es Beweise gab, konnte er immer noch sagen: »Ich
kann mich nicht erinnern.«
Ich nippte am Bier. »Wie gut haben Sie meinen Vater
gekannt?«
»Ich habe deinen Vater gut gekannt, Junge, und jetzt mach weiter.«
Er sah auf die Uhr.
»Sie wußten, daß er seine Frau schlug und seine Kinder
mißhandelte.«
Mulkern zuckte mit den Achseln. »Geht mich nichts an.«
»Patrick«, mischte sich Jim ein, »dein Privatleben tut hier nichts
zur Sache.«
»Irgend jemand muß es doch was angehen«, erwiderte ich. Ich sah
Mulkern an. »Wenn Sie das von meinem Vater wußten, Senator, von
einem Beamten, warum haben Sie nichts dagegen
unternommen?«
»Ich hab’s dir gerade gesagt, Junge, es geht mich nichts
an.«
»Und was geht Sie was an,
Senator?«
»Die Unterlagen, Pat.«
»Was geht Sie was an, Senator?« wiederholte ich.
»Das Gemeinwohl natürlich.« Er kicherte. »Ich würde mich gerne
hinsetzen und dir die Grundsätze des Utilitarismus darlegen, Pat,
aber ich habe leider keine Zeit. Ein paar Schläge von deinem Alten
auf den Hinterkopf sind kein Grund, sich einzumischen,
Junge.«
Ein paar Schläge. Zwei Krankenhausaufenthalte in den ersten zwölf
Jahren meines Lebens.
Ich fragte: »Wußten Sie das von Paulson? Alles, meine
ich?«
»Jetzt komm schon, Junge. Erfüll deinen Teil des Vertrags, und dann
gehen wir wieder getrennte Wege.« Dicke Schweißperlen standen ihm
auf der Oberlippe.
»Wieviel wußten Sie? Wußten Sie, daß er kleine Jungen
fickt?«
»Es besteht hier kein Anlaß für eine solche Ausdrucksweise«, sagte
Mulkern und sah sich lächelnd im Raum um.
Angie erkundigte sich: »Dann sagen Sie uns bitte, welche Sprache
Sie für angemessen halten, und wir sehen, ob man sie auf
Kindesmißbrauch, Prostitution, Erpressung und Mord anwenden
kann.«
»Wovon redet ihr jetzt schon wieder?« rief Mulkern. »Ich höre hier
nur Schwachsinn. Schwachsinn. Gib mir die Unterlagen,
Pat.«
»Senator?«
»Ja, Pat?«
»Nennen Sie mich nicht Pat. So nennt man einen Hund, keinen
Menschen.«
Mulkern lehnte sich zurück und verdrehte die Augen. Offensichtlich
kam ich nicht an ihn heran. Er stöhnte: »Junge, du…«
»Wieviel wußten Sie, Senator? Wieviel? Ihr Schoßhund bumst kleine
Jungen, und überall kratzen die Leute ab, weil er und Socia ein
paar Filme fürs Heimkino gedreht haben und die Sache aus dem Ruder
lief. Stimmt’s? Warum hat Socia Paulson erpreßt? Damit er wegen der
Gesetzesvorlage zum Straßenterrorismus einen Rückzieher macht? Und
Paulson, hat er sich die Bilder seiner verlorenen Unschuld
angeguckt und dabei ein bißchen zuviel getrunken, und Jenna fand
sie? Fand die Fotos von ihrem Sohn, der von dem Mann mißbraucht
wurde, für den sie arbeitete? Den sie vielleicht sogar gewählt
hatte? Wieviel wußten Sie, Senator?«
Er glotzte mich an.
»Und ich war der Köder«, fuhr ich fort. »Stimmt das?« Ich sah Jim
an, der verdutzt zurückstarrte. »Ich sollte Socia und Paulson zu
Jenna führen, damit sie die Schweinerei aus der Welt schaffen
konnten. War das so, Senator?«
Er bemerkte meine Wut und Empörung und lachte. Er wußte, daß ich
nichts gegen ihn in der Hand hatte, nur Fragen und Anschuldigungen.
Er wußte, daß ihm niemand irgendwas nachweisen konnte, und sein
siegessicherer Blick verfinsterte sich. Je mehr ich fragte, desto
weniger würde ich bekommen. So war das nun mal.
Er befahl: »Gib mir die Unterlagen, Pat!«
Ich erwiderte: »Zeig mir den Scheck, Sterl!«
Er hielt die Hand hin, und Jim legte den Scheck hinein. Jim sah
mich an, als hätten wir jahrelang zusammen das gleiche Spiel
gespielt, und er stellte erst jetzt fest, daß ich keinen Schimmer
von den Regeln hatte. Langsam schüttelte er den Kopf, wie eine von
ihrem Sohn enttäuschte Mutter.
Mulkern füllte das Feld für »Empfänger« aus, setzte aber keine
Summe ein. »Die Unterlagen, Pat«, sagte er abermals.
Ich griff unter den Stuhl und reichte ihm den Umschlag. Er öffnete
ihn, nahm die Fotos heraus und legte sie auf den Schoß. »Diesmal
keine Kopien? Ich bin stolz auf dich, Pat.« »Unterschreiben Sie den
Scheck, Senator«, erwiderte ich.
Er blätterte die restlichen Fotos durch, lächelte traurig über eins
und steckte sie in den Umschlag zurück. Dann nahm er wieder den
Stift zur Hand und klopfte damit leicht auf die Tischfläche. Wieder
wandte er sich an mich: »Pat, ich finde, du brauchst eine
erzieherische Maßnahme. Ja. Deshalb halbiere ich den Zuschlag. Wie
wär’ das?«
»Ich habe Kopien gemacht.«
»Die nützen nichts vor Gericht.«
»Können aber trotzdem einen ganz schönen Wirbel
verursachen.«
Er sah mich an, taxierte mich kurz und schüttelte den Kopf. Dann
beugte er sich über den Scheck.
»Rufen Sie Paulson an«, schlug ich vor. »Fragen Sie ihn, welches
fehlt.«
Der Stift hielt inne. »Fehlt?« fragte er.
»Fehlt?« fragte Jim.
»Fehlt?« wiederholte Angie, um die beiden zu ärgern.
Ich nickte. »Welches fehlt. Paulson wird Ihnen sagen, daß es
insgesamt zweiundzwanzig waren. In dem Umschlag sind aber nur
einundzwanzig.«
»Und wo soll das sein?« fragte Mulkern.
»Unterschreiben Sie den Scheck und suchen Sie’s selbst,
Wichser.«
Ich glaube nicht, daß Mulkern in seinem ganzen Leben schon mal
»Wichser« genannt worden war. Schien ihm auch nicht besonders gut
zu gefallen, aber vielleicht gewöhnte er sich ja dran. »Gib es
mir!« befahl er.
»Unterschreiben Sie den Scheck, sparen Sie sich Ihre erzieherischen
Maßnahmen, dann zeige ich Ihnen, wo es ist.«
»Unterschreiben Sie nicht, Senator«, riet Jim.
»Halt’s Maul, Jim!« erwiderte Mulkern.
»Genau, Jim, halt’s Maul!« stimmte ich zu. »Hol dem Senator einen
Knochen oder so.«
Mulkern starrte mich an. Das schien seine Einschüchterungstaktik zu
sein, doch wirkte sie nicht bei einem Menschen, auf den die letzten
Tage in einem fort geschossen worden war. Er brauchte ein paar
Minuten, aber dann sah er es wohl ein. »Egal, was passiert, ich
mach’ dich fertig!« drohte er mir, unterzeichnete aber den Scheck
mit der richtigen Summe und überreichte ihn mir.
»Versprochen«, entgegnete ich.
»Jetzt gib mir das Foto!«
»Ich habe gesagt, daß ich Ihnen verrate, wo es ist, Senator. Ich
habe nie gesagt, daß ich es Ihnen gebe.«
Mulkern schloß kurz die Augen und atmete schwer durch die Nase.
»Gut. Wo ist es?«
»Da drüben«, antwortete Angie und zeigte auf die andere Seite der
Bar.
Dort steckte Richie Colgan seinen Kopf hinter einem Farn hervor. Er
winkte uns zu, sah dann Mulkern an und grinste. Ein breites
Grinsen. Die Mundwinkel reichten fast bis an die
Augenlider.
»Nein«, stieß Mulkern aus.
»Ja«, verbesserte Angie und klopfte ihm auf den Arm.
Ich sagte: »Sieh es mal von der guten Seite, Sterl: Du mußt Richie
keinen Scheck ausstellen. Er macht dich umsonst fertig.« Wir
erhoben uns vom Tisch.
Mulkern drohte uns: »Ihr seid erledigt in Boston. Ihr bekommt nicht
mal mehr Sozialhilfe.«
»Wirklich? Dann kann ich ja genausogut zu Richie gehen und ihm
erzählen, Sie hätten mir diesen Scheck gegeben, damit ich Ihren
Part in dieser Affäre verschweige.«
»Und was hättest du davon?« fragte Mulkern.
»Dann wären Sie in derselben Situation, in die Sie mich bringen
möchten. Und darauf können Sie wetten, das würde mich bestimmt
glücklich machen.« Ich nahm mein Bier und trank es aus. »Und,
wollen Sie mich immer noch fertigmachen, Sterl?«
Mulkern hielt den Umschlag in der Hand. »Brian Paulson ist ein
guter Mensch. Ein guter Politiker. Diese Fotos sind fast sieben
Jahre alt. Warum soll das jetzt ausgegraben werden? Das ist doch
längst vorbei.«
Ich grinste und zitierte ihn: »Alles jenseits von gestern ist jung,
Senator.« Dann stieß ich Jim mit dem Ellenbogen an. »Ist es nicht
immer so?«