7_____

Billy bemerkte: »Sieht eher aus, als hättest du dich mit einem Lkw geprügelt«, und sah Angie an.
Die kicherte leise, und ich wußte nicht, wen ich lieber aus dem Fenster geworfen hätte.
»Hast du die Sache für uns überprüft, Billy?«
»Klar, Mann. Klar. Dafür bist du mir ganz schön was schuldig, das sage ich dir.«
Ich hob die Augenbrauen. »Billy, vergiß nicht, mit wem du hier sprichst.«
Billy dachte drüber nach. Dachte an die zehn Jahre, die er jetzt in Walpole absitzen würde, wo er seinem Freund, Rolf das Tier, Zigaretten holen müßte, wenn wir ihn nicht gerettet hätten. Seine gelbe Haut wurde merklich weißer, und er antwortete: »Sorry, Mann. Du hast recht. Wo du recht hast, hast du recht.« Er griff in die Gesäßtasche seiner Jeans und warf mir ein leicht fettiges und stark zerknittertes Blatt Papier auf den Schreibtisch.
»Was liegt da vor mir, Billy?«
»Jenna Angelines Bankreferenzen«, erklärte er. »Von unserer Zweigstelle in Jamaica Plain geklaut. Dort hat sie Dienstag einen Scheck eingelöst.«
Es war fettig, es war zerknittert, aber es war Gold wert. Jenna hatte vier Referenzen angegeben, allesamt privat. Unter »Arbeitgeber« hatte sie in kleiner, vogelähnlicher Schrift »selbständig« geschrieben. Bei den privaten Referenzen hatte sie vier Schwestern genannt. Drei lebten in Alabama, in der Gegend von Mobile. Eine wohnte in Wickham, Massachusetts. Simone Angeline, Merrimack Avenue, Hausnummer 1254.
Billy reichte mir ein weiteres Blatt Papier - die Kopie des Schecks, den sich Jenna hatte bar auszahlen lassen. Der Scheck war von Simone Angeline unterschrieben. Wenn Billy nicht so ein schleimig aussehender Penner gewesen wäre, hätte ich ihn geküßt.
Nachdem Billy gegangen war, faßte ich mir endlich ein Herz und sah in den Spiegel. Das hatte ich die ganze Nacht und den ganzen Morgen erfolgreich vermieden. Mein Haar ist so kurz, daß ich es mit den Fingern kämmen kann, deshalb beschränkte ich mich nach meiner morgendlichen Dusche darauf. Das Rasieren hatte ich mir auch gespart, und wenn ich ein paar Bartstoppeln hatte, so war das cool, sehr hip, sagte ich mir.
Ich durchquerte das Büro und betrat den winzigen Würfel, den mal jemand Badezimmer genannt hatte. Eine Toilette ist zwar drin, aber selbst die ist in Miniatur, und ich fühle mich immer wie ein in der Grundschule eingesperrter Erwachsener, wenn ich mit den Knien unterm Kinn auf dem Klo hocke. Ich schloß die Tür hinter mir und blickte vom winzigen Waschbecken zum Spiegel hoch.
Wenn ich es nicht gewußt hätte, daß ich es war, hätte ich mein Gesicht nicht erkannt. Meine Lippen waren auf doppelte Größe angeschwollen und sahen aus, als hätte ich einem Rasenmäher einen Zungenkuß gegeben. Mein linkes Auge war von einem dicken, dunkelbraunen Strang umrandet, die Netzhaut von hellroten Blutäderchen durchzogen. Die Haut an meiner Schläfe war da, wo mich Blaumütze mit dem Kolben der Uzi getroffen hatte, aufgeplatzt, und während ich schlief, hatte sich das Blut mit meinem Haar verklumpt. Die rechte Seite meiner Stirn, mit der ich offensichtlich gegen die Hauswand der Schule geprallt war, war abgeschürft. Ich hätte heulen können, aber ich war ja ein tapfere Detektiv.
Eitelkeit ist eine Schwäche. Ich weiß das. Es ist die oberflächliche Abhängigkeit von Äußerlichkeiten, vom eigenen Aussehen anstatt vom eigenen Sein. Das weiß ich gut. Aber ich besitze schon eine Narbe von der Größe und vom Aussehen einer Qualle auf meinem Bauch, und man wundert sich, wie sich das Selbstwertgefühl ändert, wenn man am Strand nicht das Hemd ausziehen kann. Wenn ich alleine bin, ziehe ich manchmal mein Hemd hoch, betrachte die Narbe und sage mir, es ist doch egal; aber jedesmal, wenn eine Frau sie spät in der Nacht mit der Hand erfühlt, sich auf dem Kopfkissen abstützt und mich danach fragt, habe ich schnell meine Erklärung zur Hand, schließe die Türen zu meiner Vergangenheit so schnell, wie sie sich geöffnet haben, und habe kein einziges Mal, nicht mal als Angie mich fragte, die Wahrheit gesagt. Eitelkeit und Unehrlichkeit sind vielleicht schlechte Eigenschaften, doch waren sie für mich auch die ersten Formen des Selbstschutzes, die ich kennenlernte.
Der Held schlug mir immer auf den Kopf, wenn er mich dabei erwischte, wie ich in den Spiegel schaute. »Diese Dinger wurden von Männern erfunden, damit Frauen etwas zu tun haben«, sagte er immer. Der Held. Der Philosoph. Mein Vater, der Renaissancemensch.
Als ich sechzehn war, hatte ich dunkelblaue Augen und ein hübsches Lächeln, ansonsten aber nichts, worauf ich stolz sein konnte, und ich hing in der Nähe des Helden herum. Wenn ich noch immer sechzehn wäre, in den Spiegel gucken würde, mir Mut machen und sagen würde, heute nacht würde ich mich endlich gegen den Helden zur Wehr setzen, dann wüßte ich sicherlich nicht mehr weiter.
Aber jetzt hatte ich, verdammt noch mal, einen richtigen Fall zu lösen, mußte Jenna Angeline finden, auf der anderen Seite der Tür wartete eine ungeduldige Kollegin, in meinem Halfter steckte eine Pistole, in meiner Brieftasche eine Detektivlizenz, und mein Gesicht sah aus, als sei es einem Buch von Flannery O’Connor entsprungen. Ach, die Eitelkeit.

Als ich die Tür öffnete, wühlte Angie gerade in ihrer Handtasche herum, suchte wahrscheinlich eine verlorengegangene Mikrowelle oder ein altes Auto. Sie blickte auf. »Fertig?«

»Ich bin fertig.«

Sie holte eine Betäubungspistole aus der Tasche. »Wie sieht dieser Typ noch mal aus?«
Ich erwiderte: »Gestern abend trug er eine blaue Mütze und eine durchgehende Sonnenbrille. Aber ich weiß nicht, ob es seine normale Verkleidung ist oder so.« Ich öffnete die Tür. »Ange, du brauchst die Pistole nicht. Wenn du ihn siehst, halt dich zurück. Wir wollen herausfinden, ob er uns immer noch verfolgt.«
Angie sah die Pistole an. »Die ist nicht für ihn, sondern für mich. Falls ich in dem Kuhdorf etwas brauche, das mich wach hält.«
Wickham ist hundert Kilometer von Boston entfernt, deshalb glaubt Angie, es gäbe dort noch kein Telefon.
Ich sagte: »Man bekommt das Mädel nur aus der Stadt…«
»… wenn man sie vorher erschießt«, ergänzte sie und ging auf die Treppe zu.
Sie gab mir eine Minute Vorsprung und blieb solange in der Kirche, von wo sie die Straße durch die untere Öffnung eines Bleiglasfensters beobachtete.
Ich überquerte die Straße zu meinem sogenannten Firmenwagen. Es ist ein dunkelgrüner Volare Baujahr 1979. Der Vobeast. Er sieht scheiße aus, hört sich scheiße an, läßt sich scheiße fahren und paßt meistens zu den Orten, an denen ich zu arbeiten habe. Ich öffnete die Tür, erwartete fast, hinter mir auf der Straße das Rennen von Füßen zu hören, gefolgt vom Aufprall einer Waffe, die mich am Hinterkopf trifft. Das ist das schlimme daran, Opfer zu sein: Man redet sich langsam ein, so was würde jeden Tag passieren. Plötzlich sieht alles verdächtig aus, und jedes Licht, das man in den Tagen davor gesehen haben mochte, war von der Dunkelheit verschluckt worden. Und die Dunkelheit war überall. Man muß mit seiner eigenen Verletzlichkeit leben, das macht einen fertig.
Diesmal passierte jedoch nichts. Ich konnte Blaumütze nicht im Rückspiegel erkennen, als ich wendete und in Richtung Schnellstraße fuhr. Aber selbst wenn ihm unser Zusammentreffen in der letzten Nacht so gut gefallen hatte, glaubte ich nicht, daß ich ihn noch einmal sehen würde; ich sollte bloß immer denken, er sei in der Nähe. Ich lenkte den Vobeast die Straße hinunter, bog dann auf die nördliche Auffahrt zur I-93 und fuhr in Richtung Innenstadt.
Zwanzig Minuten später hatte ich den Storrow Drive erreicht, zu meiner Rechten blitzte kupferfarben der Charles River auf. Ein paar Krankenschwestern vom Massachusetts General picknickten auf der Wiese; ein Mann mit einem gigantischen, schokoladenbraunen Chow-Chow lief über eine der Fußgängerbrücken. Einen Moment lang überlegte ich, mir auch so einen zuzulegen. Wäre bestimmt um Längen besser darin, mich zu beschützen als Harold der Panda. Aber eigentlich brauchte ich keinen Kampfhund; ich hatte ja Bubba. Neben dem Bootshaus sah ich eine Gruppe von Studenten, die über den Sommer in der Stadt geblieben waren; sie reichten eine Weinflasche herum. Verrückte Kinder. Wahrscheinlich hatten sie auch etwas Brie und Cracker in den Rucksäcken.
Ich bog in die Beacon Street ein, drehte nochmals auf der Nebenstraße und bog dann sofort wieder nach rechts ab in die Revere Street, auf deren Kopfsteinpflaster ich die Charles Street überquerte und Beacon Hill hochfuhr. Niemand hinter mir.
Dann bog ich in die Myrtle Street ab, die nicht breiter ist als ein Streifen Zahnseide, links und rechts hohe Kolonialhäuser. Es ist nicht möglich, in Beacon Hill jemandem zu folgen, ohne bemerkt zu werden. Die Straßen waren vor der Erfindung des Autos gebaut worden, wahrscheinlich auch bevor es dicke oder große Menschen gab.
Als Boston noch diese wundervolle, mythische Stadt voller zwergengroßer Menschen war, die wie Aerobictrainer aussahen, muß Beacon Hill weitläufig gewirkt haben. Aber jetzt ist es verstopft und eng und hat eine Menge gemein mit einer alten französischen Provinzstadt - schön anzusehen, aber unter praktischen Gesichtspunkten ein Desaster. Ein zum Entladen abgestellter Laster kann den Verkehr auf eine Meile stauen. Viele Straßen verlaufen als Einbahnstraßen zwei oder drei Häuserblöcke lang nach Norden, dann wechseln sie irgendwann die Richtung und führen wieder nach Süden. Man ist gezwungen, in die nächste enge Straße einzubiegen, in der sich das gleiche Problem stellt, und ehe man es sich versieht, ist man wieder auf der Cambridge, Charles oder Beacon Street und fragt sich, wie zum Teufel man wieder da unten landen konnte, und hat dabei das bestimmte, wenn auch idiotische Gefühl, der Hügel selbst habe einen abgeschüttelt.
Für einen Snob ist es eine herrliche Gegend. Die Häuser sind aus wunderschönem rotem Backstein. Die Parkplätze werden von der Bostoner Polizei bewacht. Die kleinen Cafes und Geschäfte werden von gebieterischen Inhabern geführt, die schnell die Türen zuschließen, wenn jemand Unbekanntes aussieht, als wolle er eintreten. Und wenn man seinem Gast nicht persönlich eine Wegbeschreibung gemalt hat, findet er einen nie.
Ich blickte in den Rückspiegel, als ich über die Kuppe des Hügels fuhr: Hinter mir schaute die goldene Kuppel des State House zwischen der schmiedeeisernen Umzäunung eines Dachgartens hervor. Zwei Häuserblöcke hinter mir fuhr ein Auto im Schrittempo; der Kopf des Fahrers wandte sich nach links und rechts, als suche er nach einer Adresse.
Ich bog links in die Joy Street ein und rollte die vier Blöcke bis zur Cambridge Street hinunter. Als die Ampel Grün zeigte und ich die Kreuzung überquerte, sah ich, daß das Auto hinter mir den Hügel herunterkam. Am Ende der Joy Street erschien ein weiteres Auto - ein Kombi mit kaputter Gepäckhalterung auf dem Dach. Ich konnte den Fahrer nicht sehen, wußte aber, daß es Angie war. Sie hatte den Dachgepäckträger eines Morgens mit einem Hammer traktiert und sich dabei vorgestellt, das dünne Metall wäre Phil.
Ich bog links ab in die Cambridge Street und fuhr ein paar Blöcke weiter bis zur Charles Plaza. Dort fuhr ich auf einen Parkplatz, zog mir an der Schranke ein Parkticket - nur drei Dollar für eine halbe Stunde, ein Schnäppchen! - und kurvte über den Parkplatz, bis ich vor dem Holiday Inn stand. Ich betrat das Hotel, als hätte ich dort zu tun, ging rechts an der Rezeption vorbei und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Ich ging den Flur hinunter, bis ich ein Fenster fand, aus dem ich auf den Parkplatz gucken konnte.
Blaumütze trug heute keine blaue Mütze. Er hatte eine weiße Fahrradkappe auf, deren Schirm hochgestellt war. Die durchgehende Sonnenbrille trug er noch immer, dazu ein weißes T-Shirt und eine schwarze Jogginghose. Er stand neben seinem Auto, einem weißen Nissan Pulsar mit schwarzen Rallyestreifen, und stützte sich auf die geöffnete Tür, während er sich überlegte, ob er mir folgen sollte oder nicht. Aus diesem Winkel und dieser Entfernung konnte ich das Autokennzeichen nicht entziffern und sein Alter nur schätzen, aber ich würde sagen, er war zwischen zwanzig und fünfundzwanzig. Er war groß, eins fünfundachtzig ungefähr, und sah aus, als könnte er mit einem Heimtrainer umgehen.
Auf der Cambridge Street wartete Angies Auto in zweiter Reihe.
Ich sah wieder zu Blaumütze hinüber. Länger brauchte ich nicht zu warten. Entweder folgte er mir ins Hotel oder nicht. So oder so machte es keinen großen Unterschied.
Ich ging die Treppen hinunter in den Keller, öffnete eine Tür zur Lieferantenzufahrt, auf der es nach Auspuffgasen roch, und sprang von der Rampe. Dann ging ich an einem Abfallcontainer vorbei, aus dem der Geruch von langsam verderbendem Obst quoll, und lief bis zur Blossom Street. Ich ließ mir Zeit, doch bevor ich mich versah, war ich schon wieder auf der Cambridge Street.
Überall in Boston, an Orten, wo man es nie vermuten würde, gibt es Garagen. Das entschädigt zwar nicht für eine Stadt, die genausowenig Parkplätze hat wie Moskau Toilettenpapier, aber wenigstens sind die Mieten exorbitant. Ich betrat eine Garage zwischen einem Frisör und einem Blumenladen, ging zur Parkbucht Nummer 18 und nahm den Schonbezug von meinem Baby.
Jeder Junge braucht ein Spielzeug. Meins ist ein Porsche Roadster Cabrio von 1959. Er ist königsblau und hat ein Lenkrad aus Holz und ein doppelt verschaltes Cockpit. Stimmt, das Wort Cockpit benutzt man eigentlich nur im Zusammenhang mit Flugzeugen, aber wenn ich die Maschine auf zweihundertzwanzig oder so hochjage, habe ich das Gefühl, daß ich jeden Augenblick abhebe. Die Innenausstattung ist aus wertvollem weißem Leder. Der Kupplungshebel glänzt wie poliertes Zinn. Auf der Hupe prangt ein sich aufbäumendes Pferd. Ich werkle mehr an dem Auto herum, als daß ich es fahre, am Wochenende verhätschele ich es, indem ich es poliere und Teile auswechsle. Ich bin stolz darauf, daß ich noch nicht soweit bin, ihm einen Namen zu geben, aber Angie sagt, das liegt nur daran, weil ich sowenig Phantasie habe.
Bei der ersten Drehung des Schlüssels sprang er mit dem Brüllen einer Wildkatze an. Ich holte eine Baseballkappe unter dem Sitz hervor, zog meine Jacke aus, rückte die Sonnenbrille zurecht und fuhr aus der Garage.
Angie parkte immer noch in zweiter Reihe vor dem Plaza, was bedeutete, daß Blaumütze noch da war. Ich winkte ihr zu und fuhr auf die Cambridge Street in Richtung Fluß. Als ich den Storrow Drive erreichte, war sie noch immer hinter mir, aber als ich an der I-93 ankam, hatte ich sie in einer Staubwolke zurückgelassen, denn das konnte ich. Aber vielleicht bin ich auch einfach nur unreif. Eins von beiden.