3
Sie wachte mit leichten Kopfschmerzen auf und fuhr eine Stunde früher ins Büro, weil sie so viel wie möglich noch erledigen wollte, bevor sie ihren Urlaub beantragte.
Wie meistens war sie die Erste. Hastig ging Claire ihre Post durch und begann mit dem Protokoll der letzten Sitzung.
Aber was würde sie tun, wenn Pessoa ihr keinen Urlaub gab? Zum Beispiel aus dienstlichen Gründen?
Sie zwang sich zur Ruhe und legte sich Argumente zurecht. Sie würde sagen, ihr Bruder sei ins Krankenhaus gekommen und sie müsse sofort zu ihm. Da konnte er ihr den Urlaub eigentlich nicht verweigern.
Sie speicherte die fertiggestellte Datei im allgemeinen Ordner ab, auf den jeder in der Abteilung Zugriff hatte. Wenn Pessoa ihr den Urlaub verweigerte, würde sie einfach sagen, er läge auf der Intensivstation und es ginge ihm sehr schlecht.
Sie öffnete ein neues Dokument für die schriftliche Übergabe.
Und wenn er sich dann immer noch sperrte? Ihr linkes Auge zuckte. Notfalls würde sie anfangen zu weinen. Da wurden die meisten Männer schwach.
Nervös machte sie die letzte Statistik fertig, verrechnete sich zweimal und speicherte auch diese ab.
Patricia kam mit der üblichen Verspätung von dreißig Minuten. Anfangs waren es nur fünfzehn Minuten gewesen, sie schien sich ihrer Sache sehr sicher zu sein.
Eine weitere Stunde später kam Conrad Pessoa, der ihr und Patricia nur stumm zunickte und in seinem Büro verschwand. Nach fünf Minuten ging Patricia zu ihm, mit einem selbstgefälligen Lächeln auf dem Gesicht. Aber höchstens eine Minute später kam sie wieder mit nach unten gezogenen Mundwinkeln hinaus.
Claire wartete noch zehn Minuten, dann atmete sie einmal tief durch, ging an der Sekretärin vorbei und klopfte an seine Tür. Ein mürrisches »Herein.« Er saß hinter seinem Schreibtisch, den Blick auf den Bildschirm gerichtet.
»Was gibt es?«, fragte er kurz.
»Ich wollte um Urlaub bitten«, begann sie. »Aus familiären Gründen.«
Sie musste wieder an ihre Eltern denken, die kurz nach Tims achtzehntem Geburtstag nach Kanada auswanderten, um sich dort etwas aufzubauen, wie sie es nannten. Von einem Tag auf den anderen gaben sie jede Verantwortung für ihre Kinder ab.
»Was heißt das? Familiäre Gründe?«, fragte er, ohne aufzusehen.
In seinem Haar befand sich noch ein Klecks Gel, den er nicht richtig verrieben hatte.
»Es geht um meinen Bruder. Er ist krank und ich muss zu ihm. Wenn es geht, schon morgen.«
Tim brauchte sie wirklich.
»Was hat er denn?«
Er sah endlich hoch.
Sie musste darauf nicht antworten, es ging ihn schließlich nichts an. Aber wenn er ihr den Urlaub nicht genehmigte, konnte sie nicht fahren.
»Er ist krank«, sie überlegte fieberhaft. »Tuberkulose. Ich muss sofort zu ihm. Wahrscheinlich muss ich ihn wieder in die Schweiz bringen. Wie beim letzten Mal.«
Es hörte sich unglaublich an. Aber sie hatte noch nie gut lügen können.
»In die Schweiz?«, er verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück.
»Das ist aber ganz schön teuer.«
Das sagte ausgerechnet er, der selbst ein teures Coupé fuhr.
»Nun, vielleicht muss er wieder ins Sanatorium, das weiß ich aber noch nicht. Ich muss zuerst mit seinem Arzt sprechen. Bekomme ich den Urlaub?«
Er zögerte einen Moment und sie dachte, dass sie notfalls kündigen könne. Aber dann nickte er gnädig.
»Von mir aus. Aber Sie müssen mit Patricia eine Übergabe machen.«
»Ja, natürlich. Ich möchte meinen Resturlaub nehmen, drei Wochen. Ist das in Ordnung?«
»Drei Wochen? So viel Urlaub haben Sie noch?«, fragte er.
Wieso wusste er das nicht? Er kontrollierte doch so gerne die Zeitkonten der Mitarbeiter.
»Ja, und ich möchte ihn komplett antreten. Dann kann ich auch alles erledigen, was nötig ist.«
Er musterte sie und sie hielt seinem Blick stand.
»Na, gut. Patricia kann Sie vertreten. So viel ist es ja nicht.«
Er wollte sie beleidigen. Sie sah das übliche spöttische Funkeln in seinen Augen. Aber sie sah auch seine Hand auf Patricias Hinterteil und unterdrückte ein Grinsen. Sie würde ihn nie wieder ernst nehmen können.
Sie gab Patricia das Übergabeprotokoll, das diese nur unwillig annahm. Dann bat sie sie, für sie einen Flug zu reservieren, was sie ebenso widerwillig tat. Kurz nach Mittag verließ sie das Büro. Sie hatte sich von Pessoa noch verabschieden wollen, aber er saß bei einem der Abteilungsleiter und wollte nicht gestört werden.
Als sie auf die Straße trat, musste sie an ihren früheren Chef denken. Dick Rogers war so ganz anders gewesen. Er hatte sie gemocht und ihr das auch gesagt. Als sie einmal nach längerer Krankheit wieder ihren Dienst antrat, hatte er sie herzlich begrüßt und gesagt, sie solle es langsam angehen. Er war charismatisch und stets über alle Vorgänge informiert. Er ließ ihr viele Freiheiten und verstand es trotz seines stressigen Jobs, das Leben zu genießen. Am meisten schätzte sie seine lockere und manchmal sehr witzige Art. Er war ein fröhlicher Mensch, in dessen Gegenwart sich jeder wohlfühlte. Sie vermisste ihn.
Auf dem Weg nach Hause ließ sie sich Zeit. Die Sonne lugte kurz hinter einem Wolkenberg hervor. Sie setzte ihre Sonnenbrille auf und begann, sich auf die Zeit in Irland zu freuen.
Claire starrte auf ihre geöffnete Reisetasche und dann auf den Stapel, der noch auf dem Bett lag. Vielleicht war ein Koffer doch besser. Aber Koffer waren so sperrig. Sie packte die Tasche wieder aus und legte ein Kleid, einen schwarzen Hosenanzug und zwei Kostüme weg. Die Sachen würde sie vielleicht gar nicht brauchen, außerdem waren sie zu elegant. Dafür packte sie einen sportlichen Hosenanzug aus knitterfreiem Stoff, zwei Jeans, einige T-Shirts und drei Pullover ein.
Das war schon besser. Was sonst noch? Dicke Socken, am besten mehrere Paare. Wahrscheinlich war es im Wohnhaus kalt und zugig. Und eine Regenjacke, schließlich regnete es in Irland bekanntermaßen oft.
Reichte das? Sie blickte in den geöffneten Kleiderschrank. Das pflegeleichte schwarze Kleid mit halbem Ärmel, das konnte auch mit. Es war extra für Urlaubsreisen gedacht.
Nur mit Mühe konnte sie alles verstauen und war froh, als die Reisetasche verschlossen vor ihr stand.
Viktor hatte noch nicht angerufen. Psychologisch geschickt, wie er wahrscheinlich meinte. Erst ein- oder zweimal darüber schlafen, damit alle Beteiligten wieder ruhig wurden. In der Zwischenzeit sich die richtigen Argumente zurechtlegen. Und dann erst das Gespräch, in dem er ganz souverän auftrat und sie wieder beruhigt war. Weil sie doch eingesehen hatte, dass er nur das Beste wollte.
Aber diesmal hatte er Pech gehabt. Seine Argumente nutzten ihm nichts. Er würde sie so schnell nicht finden.
Sie verbrühte sich fast an dem Kaffee und balancierte den Becher vorsichtig zu ihrem Platz. Noch eine halbe Stunde. Eine Familie mit zwei kleinen Kindern, die ausgelassen herumtollten, wartete ebenfalls. Und ein älteres Ehepaar, das ein wenig ängstlich wirkte. Der Mann sah immer wieder auf seine Uhr und nickte dann seiner Frau beruhigend zu. Der junge Mann ihr gegenüber war sicherlich geschäftlich unterwegs. Zumindest wirkte er so. Er trug eine Aktentasche, den obligatorischen dunklen Anzug und eine Wirtschaftszeitung, die er nun schon dreimal weggelegt hatte, als langweile ihn die Lektüre, die zu lesen er sich zwang.
Eine Frau, ungefähr in ihrem Alter, in einem extravaganten roten Kostüm, erwartete offensichtlich jemanden. Sicher den Ehemann oder Freund. Sie zog jetzt zum zweiten Mal schon ihren Taschenspiegel hervor. Ein älterer Mann mit Bierbauch schien zu schlafen. Seine Augen waren geschlossen und er gab leise Schnarchgeräusche von sich.
Sie nippte wieder an ihrem Kaffee, der bitter und immer noch heiß war. Die Frau im Kostüm stand plötzlich auf, ihr Gesicht erhellte sich. Claire drehte den Kopf und sah statt eines Mannes eine schlanke attraktive Blondine, die mit großen Schritten auf die Frau im Kostüm zueilte und sie auf den Mund küsste und umarmte.
Der Schnarcher wachte mit einem Laut auf, sah sich um und setzte sich auf. Und dann ertönte die Lautsprecherstimme, die den Flug aufrief. Sie reihte sich in die Warteschlange ein und ärgerte sich, als sie neben den Schnarcher zu sitzen kam.
Dieser schlief nach dem Start sofort wieder ein und schnarchte weiter. Unruhig blätterte sie in einem Buch, konnte sich aber nicht konzentrieren. Nina wollte ihr nicht aus dem Kopf. Was mochte passiert sein?
Als die beiden damals in Irland den Hof fanden, rief Tim an und bat sie, zu kommen und sich alles anzusehen. Die Verbindung war schlecht, sie verstand nicht alles, was er sagte. Nur dass zu dem Anwesen ein großes Haus, Ländereien und einige Pferde gehörten. Sie konnte damals keinen Urlaub nehmen und bat ihn, nichts zu überstürzen. Aber das nächste Telefonat eine Woche später ergab, dass er den Hof bereits gekauft hatte. Die beiden kamen begeistert zurück und kündigten ihren Job, und Tim schilderte ihr den Hof in den schönsten Farben. Nina, die an seinen Lippen hing, bestätigte alles. Sie ahnte, dass die Pferde beim Kauf den Ausschlag gegeben hatten, und warf sich vor, nicht doch zu ihm geflogen zu sein. Aber sie bezweifelte, dass sie es über das Herz gebracht hätte, ihn von dem Projekt abzuhalten.
Sie klappte das Buch zu und verstaute es wieder in der Handtasche.
Ob noch Geld aus der Erbschaft übrig geblieben war? Tim und sie hatten von einer Tante eine große Geldsumme geerbt. Während sie ihr Geld in Wertpapieren anlegte, wollte Tim aus seinem Beruf aussteigen. Er und Nina arbeiteten beide beim Finanzamt. Sie saßen sogar in einem Büro, wollten aber etwas anderes machen. Etwas mit Pferden.
Tim konnte eigentlich nicht mit Geld umgehen. Und Nina hatte sowieso keinen Cent.
Sie musste gähnen. Am besten würde es sein, den Hof zu verkaufen. Und das so schnell wie möglich. Drei Wochen würden natürlich nicht reichen, aber sie konnte einen Makler beauftragen und alles auf den Weg bringen. Tim konnte zuerst bei ihr wohnen. Im Gästezimmer. Er störte sie nicht. Natürlich würde sie ihm dabei helfen, wieder einen Job zu finden. Vielleicht konnte er sogar wieder beim Finanzamt anfangen. Mal sehen.
Die Stewardess kam mit dem Getränkewagen und bot Tee und Kaffee an. Aber sie wollte nichts trinken.
Tim war pflegeleicht. Er würde sicher noch eine Weile trauern. Um Nina und den Hof und die Pferde. Vielleicht konnten sie einige der Pferde mit nach Deutschland nehmen, überlegte sie. Sofern die Quarantänebedingungen das zuließen.
Der Schnarcher gab ein Grunzen von sich.
Claire dachte an Tims Anwesen und hoffte, dass es nicht ganz so schlimm war, wie sie befürchtete. Sie sah marode Stallungen vor sich, alles dunkel und feucht und viel zu klein. Und dann die Pferde. Es würden kaum ausgebildete Turnierpferde sein, denn die waren teuer, das wusste sie. Vielleicht waren es Ponys, alte Ponys oder kranke, die keiner mehr haben wollte. Und Tim ließ sich in seiner Gutmütigkeit alles andrehen. Einmal verliebte er sich in ein Pferd, weil es immer wieherte, wenn es ihn sah. Das Tier war aber krank und wurde kurz darauf eingeschläfert. Hätte Tim damals Geld gehabt, er hätte das Tier sicherlich gekauft. Sie seufzte. So war er eben.
Und dann das Haus. Sicher war es auch alt, vielleicht sogar baufällig mit abgeplatzter Fassade und vermodertem Reetdach. Vielleicht regnete es sogar hinein.
Ein Arbeitskollege von Viktor hatte sich vor einigen Monaten auch für ein Haus mit Reetdach entschieden, worüber Viktor noch gelästert hatte, weil er fand, es passe nicht in die Landschaft. Und in der Tat war der Kollege alles andere als zufrieden. Das Haus stand ziemlich dicht an einigen Bäumen, wodurch sich auf dem Dach schnell Moos bildete. Und die Lage des Hauses war ungünstig, da es starken Winden ausgesetzt war. Viktor meine damals, sein Kollege habe auf niemanden hören und alles besser wissen wollen und jetzt die Rechnung bekommen.
Wahrscheinlich waren die Wege voller Pfützen und nur mit Stiefeln zu begehen. Stiefel. Die würde sie sich unbedingt kaufen müssen. Daran hatte sie in der Eile nicht gedacht.
Wieder gähnte sie. Die gedämpfte Beleuchtung machte sie schläfrig.
Vielleicht konnte sie Tim mit einigen netten jungen Frauen zusammenbringen. Aber Tim war nicht der Typ, auf den junge Frauen standen. Er sah immer noch aus wie ein großer Junge. Er war hager, sommersprossig, trug eine altmodische Brille und hatte eine breite Zahnlücke. Er hatte sich noch nie für eine andere Frau als Nina interessiert und soviel sie wusste, hatte es auch nie eine andere gegeben. Sie musste an Patricia denken und grinste bei der Vorstellung, ihren Bruder mit Patricia zusammenbringen zu wollen. Patricia war auf eine gute Partie aus und würde in Tim nur einen armen Schlucker sehen. Dabei war er das nicht. Es sei denn, es war wirklich nichts mehr von dem Geld übrig geblieben.
Dann fiel ihr ihre Arbeit ein, die ihr keinen Spaß mehr machte. Statt mit Menschen zu arbeiten, verwaltete sie nur Vorgänge und Zahlen. Und ihr Chef mochte sie nicht. Warum auch immer.
Als Dick Rogers starb, schaffte es der stellvertretende Direktor des Konzerns, seinen Neffen auf die freie Position zu hieven. Da sie eigentlich mit einer Beförderung gerechnet hatte, beschwerte sie sich nach Pessoas Arbeitsantritt beim Betriebsrat und nannte ihn einen unerfahrenen Neuling ohne jede Praxis. Er musste davon erfahren haben, denn er lehnte sie von Anfang an ab. Unmissverständlich. Er ließ ihr nicht alle Informationen zukommen, nahm sie nicht sofort in seinen Verteiler auf und besprach sich nicht mit ihr. Patricia war meistens besser informiert als sie, was diese ihr auch gerne demonstrierte. Die Dinge liefen einfach nicht gut, dachte sie und schloss einen Moment die Augen.
Erst als die Stimme der Stewardess sie zum Anschnallen aufforderte, merkte sie, dass sie eingeschlafen war. Sie reckte sich. Es war dunkel, fast zehn Uhr. Auch der Schnarcher war aufgewacht und kramte hektisch in seiner Tasche herum.
Während der Landung versuchte sie einen Blick aus dem Fenster zu erhaschen, sah aber außer der erleuchteten Landebahn nur vereinzelte Lichter.
Sie musste fast eine halbe Stunde auf ihren Koffer warten und beobachtete die beiden Frauen, sie dicht nebeneinander standen und leise miteinander sprachen. Sie berührten sich immer wieder kurz und schienen sehr ineinander verliebt zu sein.
Warum mochten sie sich nicht für das andere Geschlecht interessieren, überlegte sie flüchtig.
Dann begann das Kofferband zu laufen und sie spähte nach ihrer Reisetasche. Sie war natürlich die letzte auf dem Band. Müde zog sie sie hinunter, packte den Griff fest und marschierte los.
Sie sah Tim sofort. Er hatte abgenommen. Bestimmt fünf Kilo. Sein Gesicht war schmaler, als sie es in Erinnerung hatte, und er war blass. Sein Haar war offenbar längere Zeit nicht mehr geschnitten worden. Er lächelte sie zaghaft an.