9
Lautes Getöse kam aus dem Stall, dann hörte Claire Tims Stimme. Rasch lief sie auf den Hof. Die Türen von Alex' Lieferwagen standen offen. Die Männer kamen aus dem Stall. Tim wischte sich den Schweiß von der Stirn.
»Wenn das mal gut geht«, sagte er zweifelnd. Dann bemerkte er sie.
»Wir wollen sie auf die Weide bringen. Alex hat ihr wieder eine Beruhigungsspritze gegeben. Aber das war fast lebensgefährlich.«
Er schüttelte den Kopf.
»Sie muss unbedingt raus oder bewegt werden, sonst wird sie krank. Es ist zum Kotzen.«
Tim fluchte. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn jemals fluchen gehört zu haben. Das war etwas ganz Neues.
Alex zog sich die dünnen Handschuhe aus, die er immer trug, wenn er Tiere behandelte.
»Das Problem ist«, begann er, »dass ihr sie auch wieder reinholen müsst. Und das, wenn die Wirkung der Spritze nachgelassen hat. Ihr werdet sie mit einem Lasso einfangen müssen«, ulkte er.
Dann sah er auf seine Uhr. »Lass uns mal sehen.«
Die Männer gingen wieder in den Stall und Claire folgte ihnen, blieb aber etwas weiter zurück. Lautes Schnauben war zu hören. Alex und Tim blieben vor der Box stehen und besprachen sich leise. Ihre Körper versperrten den Blick auf die Stute. Sie sah sich um und schlüpfte dann in die leer stehende Nachbarbox. Durch die Gitterstäbe konnte sie das Tier nun sehen. Die Stute zitterte am ganzen Körper und drängte sich in die Ecke.
»Claire pass auf, geh besser weg da. Sie kann nach dir ausschlagen und mit dem Huf durch die Stäbe kommen und dich treffen«, warnte Tim.
»Ja, das habe ich einmal erlebt«, sagte Alex. »Das Tier hing fest und musste anschließend eingeschläfert werden, weil es einen komplizierten Beinbruch hatte.«
Claire ging dennoch etwas näher und musterte das Tier, das bereits schweißnass war. Der Schweif schlug unruhig hin und her, die Einstreu war zerwühlt, der blanke Boden war zu sehen. Plötzlich blickte die Stute zu ihr hin und wieherte laut und schrill.
»Es hat keinen Zweck«, sagte Alex. »Sie kippt uns noch um. Die Spritze schlägt bei ihr nicht an. Wahrscheinlich durch den Stress.«
Tim zuckte mit den Schultern.
»Jetzt verstehe ich auch, warum der Verkäufer nicht lange mit mir gehandelt hat.«
»Tja, im Moment weiß ich nicht, wie ich dir weiterhelfen kann. Vielleicht wird es ja mit der Zeit besser.«
Die Männer gingen hinaus. Claire blieb in der Box stehen und beobachtete das Tier. Hals und Flanken waren nass, ein Zittern lief über die Haut. Mit weit geöffneten Nüstern wirkte die Stute, als habe sie den Teufel gesehen.
Was mochte mit ihr passiert sein, dass sie solch panische Angst hatte? Sie verstand nichts von Pferden, sah aber, dass die Stute hübsch war mit ihrem kleinen ausdrucksvollen Kopf, den Tim ›trocken‹ genannt hatte, und einem halbmondförmigen Abzeichen auf der Stirn. Ansonsten gab es keine weiteren weißen Stellen. Das Fell war das Schönste an ihr. Ein warmer Goldton, eher braun als rot. Die Mähne war lang und nicht frisiert. Der Schweif reichte fast bis zum Boden und war ziemlich dünn. Tim meinte, er müsse unbedingt geschnitten werden. Wieder sah sie zum Kopf des Tieres hin. Die Stute fixierte sie, als warte sie auf etwas. Wieder berührte sie das Tier und die Angst, die sie fast körperlich zu spüren glaubte. Man musste ihr doch irgendwie helfen können. Irgendwas war mit ihr passiert und hatte sie zu dem gemacht, was sie war. Leise verließ sie die Box und hatte den Eindruck, die Stute sehe ihr hinterher.
Alex war noch da, als sie hinauskam. Er und Tim fachsimpelten gerade über ein Springpferd.
Als sie zu ihnen trat, lächelte Alex und sie fragte: »Reiten Sie auch?«
»Ja, so oft ich kann. Und Sie? Mögen Sie auch Pferde?«
»Ja«, sagte Claire zögernd. »Aber ich kann nicht reiten. Ich habe mich irgendwie nie so richtig getraut. Im Gegensatz zu Tim.«
Ihr Bruder legte seinen Arm um sie und sagte: »Alex, wenn du sie dazu bringst, auf ein Pferd zu steigen, ziehe ich meinen Hut. Aber ich glaube, das schaffst nicht einmal du.«
Alex lachte und sagte: »Mal sehen. Wird schon nicht so schwer sein.«
»Das glaube ich schon«, entgegnete Tim. »Sie kann sehr stur sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie auf dich hören wird.«
»Ach, tatsächlich?«
Claire mischte sich ein: »Hallo, ich bin auch noch da.«
Die Männer lachten.
»Wie wäre es denn?«, fragte Alex.
»Nein, keine Chance,« winkte sie ab. »Der innere Schweinehund ist einfach zu groß.«
Sie wollte sich schon abwenden, als ihr etwas einfiel: »Wissen Sie vielleicht zufällig, wer der Besitzer des schmalen Grundstücks direkt hinter dem Steinhaus ist?«
»Nein, aber ein Freund von mir weiß es sicher. Er ist Architekt und kennt viele Leute hier.«
Ihr Herz klopfte ein paar Takte schneller.
»Sie möchten ein Hotel eröffnen, nicht wahr?«
»Ja, genau.«
»Ich finde die Idee gut. Es wäre eine passende Ergänzung zu den Pferden. Und dann die Umgebung hier. Einfach perfekt.«
Sie freute sich. »Ja, das denke ich auch. Aber ich brauche unbedingt das Land, weil wir einiges ändern müssen.«
»Ich werde meinen Freund fragen und anrufen, sobald ich etwas herausgefunden habe.«
»Das wäre nett von Ihnen. Tausend Dank.«
Noch am gleichen Abend rief Alex an und nannte ihr den Namen und die Adresse des Eigentümers.
»Allerdings will der Eigentümer nicht verkaufen. Mein Freund meint, Sie hätten keine Aussichten, das Grundstück zu bekommen. Vielleicht sollten Sie sich eine Alternative überlegen, falls es nicht klappt.«
Eine Alternative? Sie wusste keine. Woher wollte der Freund das so genau wissen? Sie beschloss, sich nicht entmutigen zu lassen und einfach zu ihm zu fahren. Ohne Anmeldung oder vorherigen Telefonanruf. Angriff war immer noch die beste Verteidigung.
McConell wohnte in einem weißen Cottage mit reetgedecktem Dach. Sie parkte vor dem einladenden, offen stehenden Tor und ging über hellen Kies zur Haustür, vorbei an wuchtigen Rhododendrenbüschen, deren kompakte, grüne Knospen für das nächste Jahr schon zu sehen waren. Es gab auch zwei hohe Hortensienbüsche mit verblassten, vertrockneten Blüten, die sehr gepflegt wirkten. Sie musste sich unbedingt nach Dünger erkundigen, schoss ihr durch den Kopf. Tim hatte sich um die Pflanzen nicht sonderlich gekümmert.
Zwei flache, sehr elegante Marmorstufen führten zur Haustür. Sie klingelte und wartete und erschrak fast, als sich die Tür unvermittelt öffnete und sie in das Gesicht eines älteren Mannes mit ergrauten Schläfen und sympathischen Augen blickte.
»Hallo, ich bin Claire Sammers«, begann sie.
»Ich wusste, dass Sie kommen«, unterbrach er sie freundlich.
»Ben hat Sie schon angekündigt. Kommen Sie doch hinein.«
Sie hatte keine Ahnung, wer Ben war.
Er führte sie durch den hellen Flur in ein Zimmer, das von einem riesigen Kamin dominiert wurde, der offensichtlich auch genutzt wurde. Holzscheite waren säuberlich an der Wand aufeinandergeschichtet und unter dem Rost war Asche zu sehen.
»Setzen Sie sich, möchten Sie einen Tee?«
Sie schüttelte den Kopf und sah sich neugierig um.
Der Raum gefiel ihr. Es gab eine ganze Wand voller Bücher, behagliche tiefe Sessel und bunte Aquarelle an der Wand. Den Boden bedeckten Teppiche in leuchtenden Farben mit langem Flor. Und es roch angenehm. Sie schnupperte.
»Das ist der Tabak«, McConell hob seine Hand, in der er eine glänzende Pfeife hielt. Seine Hände waren ausgesprochen schön. Wie die eines Künstlers.
Sie setzte sich und wollte nicht gleich zur Sache kommen.
»Darf ich Sie etwas fragen?«, begann sie.
»Aber ja.«
»Sind Sie mit Ihrem Dach zufrieden?«
»Oh, Sie interessieren sich für Reetdächer?«, fragte er überrascht.
»Ja, ein wenig. Ich finde sie wunderschön, weiß aber nicht richtig, was ich davon halten soll.«
»Nun«, setzte er an, »sie müssen gepflegt werden. Ich lasse in regelmäßigen Abständen einen Fachmann zum Auskämmen kommen.«
»Kann man denn sehen, ob Schäden entstanden sind?«
»Ja, sicher. Anzeichen für Verfall sind starker Bewuchs mit Flechten und Moosen, das Dach verfärbt sich, wird dunkler und ähnelt dann Torf. Aber wenn man darauf achtet, ist Reet ein guter Baustoff mit guter Wärme- und Schalldämmung. Und es ist atmungsaktiv.«
Er zog an seiner Pfeife und sah sie abwartend an. Sie kam endlich auf das Grundstück zu sprechen und fragte sich gleichzeitig, warum zum Teufel Tim eigentlich nicht dabei war. Es war doch sein Land. Sie erzählte ihm, dass sie ein Hotel plane und das Grundstück brauche, um die Terrasse zu vergrößern und mehr Garten zu bekommen. McConell hörte ihr schweigend zu, nickte und nahm wieder einen Zug aus seiner Pfeife.
Als sie schwieg, sagte er: »Noch nie hat einer meiner Vorfahren ein Stück Land verkauft.«
Ihr Herz sank.
»Hinzu kommt«, er zog noch einmal an der Pfeife, blickte unwillig auf den Pfeifenkopf und stand auf.
»Es gibt eine Vereinbarung zwischen meinem und Henk Mulreadys Vater. Die beiden waren Brüder.«
Er rührte mit einem Pfeifenreiniger im Pfeifenkopf und legte die Pfeife dann sacht in einen Ständer. Mit seiner dunkelgrünen Strickjacke, dem markanten Gesicht und den feinen Händen sah er so aus, wie sie sich einen Schriftsteller vorstellte.
»Die Geschichte ist etwas kompliziert und ich will Sie nicht damit langweilen. Aber eigentlich bin ich verpflichtet, das Stück vor einem Verkauf Henk anzubieten.«
Verflixt.
»Andererseits«, er setzte sich wieder, »habe ich es ihm vor über zehn Jahren angeboten und da wollte er es nicht. Insoweit habe ich meine Verpflichtung eigentlich erfüllt.«
Sie sah ihn erwartungsvoll an und McConell erzählte, dass Mulready das Grundstück dann doch haben wollte, als er erfuhr, dass der vorherige Besitzer des Hofes daran Interesse zeigte. Er vermutete damals, Mulready wollte den Leuten nur Steine in den Weg legen. Deshalb habe er es erst einmal behalten.
Sie atmete aus.
»Henk ist immer unzufrieden und hat mich erst kürzlich beleidigt und einen Weiberhelden genannt.«
Er grinste und ein klein wenig Stolz schwang in seiner Stimme mit, als er sagte: »Das ist natürlich Blödsinn. Aber er lebt fast schon asketisch, seit er alleine ist. Jemand wie ich, der das Leben liebt, ist in seinen Augen ein reiner Genussmensch.«
Ja, das konnte sie sich vorstellen.
Er nahm einen Schluck von seinem Tee, der sicher kalt sein musste.
»Aber ich bin noch ein wenig unschlüssig und nicht ganz sicher, was ich tun soll. Einerseits will ich mein Land nicht verkaufen, weil ich nicht zu den Leuten gehöre, die alles veräußern, um sich ein angenehmes Leben zu machen. Andererseits brauche ich es nicht und habe keine Kinder. Irgendwann werden mich Nichten oder Neffen beerben. Und weiß der Teufel, was die dann tun. Verstehen Sie meinen Konflikt?«
»Das Leben ist kein Ponyhof«, sagte Claire zu ihrem eigenen Entsetzen.
Er lachte.
»Sie sind eine energische Frau. Das gefällt mir.«
Gott sei Dank, er war nicht böse.
»Womit könnte ich Sie denn zum Verkauf überreden?«, fragte sie. »Ein eigenes Hotel war immer schon mein Wunschtraum. Und die Stelle ist ideal. Irland ist überhaupt wunderschön«, fügte sie schnell hinzu, obwohl sie noch nichts davon gesehen hatte.
Er lächelte.
»Ich würde gerne mehr über ihren Wunschtraum wissen. Was halten Sie davon, wenn wir Samstag essen gehen, und Sie erzählen mir alles ganz genau?«
»Ja, gerne«, sagte sie, nun froh, dass Tim nicht dabei war.
Als sie sich wenig später verabschiedete, sagte sie: »Sie sehen aus wie ein Schriftsteller. Die Pfeife, die Jacke, die vielen Bücher.«
Er schmunzelte. »Das bin ich auch.«
»Ach, wirklich? Wie interessant.«
Erleichtert fuhr Claire wieder zurück. Der Spruch mit dem Ponyhof stammte von Nina. Wahrscheinlich hatten ihre Eltern das einmal zu ihr gesagt, weil sie mit Tim reiten ging. Das passte ihnen damals nicht, obwohl sie keinen Pfennig dafür zahlen mussten.
Einmal, es war an einem Geburtstag, wahrscheinlich Tims, waren entfernte Verwandte eingeladen, Cousins der Mutter, die sich unbedingt revanchieren wollte, weil sie Monate zuvor auch eine Einladung bekommen hatte. Die Stimmung war gedämpft, weil die Erwachsenen sich nicht viel zu sagen hatten und die jungen Leute sich beobachtet fühlten. Einer der Männer, ein Onkel, witzelte eine Weile über Tim, über dessen altmodische Brille, die ihn wie Jerry Lewis aussehen lasse. Tim sagte nichts, aber Nina wurde zunehmend wütend. Schließlich erzählte der Onkel, dass er sich mit einem Kollegen zerstritten habe, der ihm nun das Leben schwer mache. Er, dieser Kollege, schwärze ihn bei allen anderen an und verbreite Gerüchte über ihn. Manchmal würde er gerne alles hinwerfen und er lebe nur noch für das Wochenende. Er sah sich daraufhin beifallheischend in der Runde um, aber niemand sagte ein Wort. Mitten in die Stille platzte Nina heraus und sagte: »Das Leben ist nun mal kein Ponyhof.«
Abends klingelte das Telefon im Büro, als Claire gerade das Abendbrot zubereitete. Tim war noch im Stall. Sie nahm ab und meldete sich.
Eine noch jung klingende Stimme fragte auf Deutsch: »Jetzt sagen Sie bloß nicht, dass Sie Nina sind.«
Claire schwieg einen Moment verdutzt und fragte dann: »Mit wem spreche ich denn?«
»Entschuldigung«, die Stimme stotterte ein wenig. »Ich bin Jennifer. Kann ich mit Tim sprechen?«
»Ja, ich hole ihn. Und ich bin nicht Nina«, sagte Claire konsterniert. Dann ging sie in den Stall und sagte Tim, er werde am Telefon verlangt.
»Eine Jennifer.«
Tim stellte die Mistgabel sofort ab und stürmte ins Haus. Claire hinter ihm her.
Noch bevor sie ihn fragen konnte, war er am Telefon.
»Jennifer? Hast du was herausgefunden?«
Dann schwieg er, nickte hin und wieder und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. Sein eben noch hoffnungsfroher Gesichtsausdruck verdüsterte sich wieder.
»Ja, gut«, sagte er schließlich. »Danke trotzdem. Und wenn du reiten möchtest, kannst du jederzeit kommen.«
Dann legte er auf.
»Jetzt erzähl aber mal«, Claire brannte darauf, mehr zu erfahren. »Wer ist diese Jennifer?«
Tim spitzte die Lippen und sagte zögernd: »Bestimmt lachst du mich aus.«
»Nein, tue ich nicht. Jetzt sag schon.«
»Jennifer ist Privatdetektivin. Ich habe Sie angeheuert, damit sie Nina findet. Aber sie hatte bis jetzt keinen Erfolg und ich glaube auch nicht mehr, dass sie sie finden wird.«
Claire hielt ihre Gesichtsmuskeln eisern fest.
»Ich lernte sie in dem Reitgeschäft kennen. Sie wollte sich eine Reithose kaufen, hatte aber zu wenig Geld. Sie wollte die Ladenbesitzerin überreden, das restliche Geld durch Putzen abzuarbeiten. Aber diese verstand sie nicht. Ich half ihr dann aus und wir kamen ins Gespräch.«
Claire konnte sich nicht mehr zurückhalten und begann zu lachen. Tim stimmte zögernd ein. Dann erzählte er weiter: »Sie ist eigentlich Anwältin und wollte hier in Irland Fuß fassen. Aber ihr Studium wird hier nicht anerkannt, deshalb kam sie auf die Idee, als Privatermittlerin zu arbeiten. Aber bis jetzt bin ich ihr einziger Kunde.«
Er wurde wieder ernst.
»Sie hat jetzt herausgefunden, dass die Gruppe weitergezogen ist. Aber wohin, konnte sie nicht herausbringen. Wo steckt Nina bloß?«
Zwei Tage später holte McConell sie ab. Sie war bereits fertig und wartete nervös. Tim hielt nichts davon, mit ihm auszugehen. Er meinte, sie solle sich auf keine Spielchen einlassen, nur um an das Grundstück zu kommen.
»Zur Not geht es auch ohne«, sagte er selbstsicher.
»Keine Sorge, es gibt keine Spielchen«, beruhigte sie ihn, wusste aber nicht genau, was sie damit eigentlich meinte.
Als der Wagen in die Einfahrt bog, ging sie hinaus.
McConell war jünger, als sie dachte. Sie schätzte ihn auf fünfzig oder etwas mehr. Sie begrüßten sich und er sah zum Steinhaus hin.
»Ich kannte die Vorbesitzer. Nette Leute, die aber mit unmöglichen Kindern gesegnet waren. Als die beiden kurz nacheinander starben, haben die Kinder alles verkauft. Es ist wirklich eine Schande.«
Tim kam nun auch auf den Hof und sie nutzte die Gelegenheit, die beiden Männer einander vorzustellen. Tim beäugte McConell misstrauisch, sagte aber nichts. Dann fuhren sie.
McConells Austin war das neueste Modell, wie sie vermutete. Der Motor schnurrte sanft wie eine Katze und sie begann, sich auf den Abend zu freuen. Leise Musik erklang aus dem Radio, es dämmerte bereits. Auf den Straßen war nicht viel los.
Sie fuhren nach Salthill, das westlich von Galway lag und nach langer Unabhängigkeit nun als Vorort dieser Stadt angegliedert war. McConell erklärte, dass der malerische Küstenort Tag und Nacht sehenswert sei. Der Sandstrand mit der breiten Uferpromenade fände bei Touristen und auch den Bewohnern großen Anklang.
»Hier ist eigentlich immer viel los. Salthill gilt auch als Vergnügungsviertel, wobei ich dazu sagen muss, dass in Irland Tanzlokale, deren Ausschanklizenz nicht mit der für Pubs üblichen Sperrstunde endet, als Nachtclubs gelten.«
Er grinste.
»Ich hoffe es stört Sie nicht, dass wir uns gleich in unmittelbarer Nähe von Spielhallen und Nachtbars befinden. In dem Lokal kann man vorzüglich essen.«
»Natürlich nicht.«
Wenig später kamen sie an. Sofort erschien ein Lakai und öffnete ihr die Tür. Wie damals bei Viktor, dachte sie und musste ein Kichern unterdrücken.
Das Lokal war wirklich nobel, besser noch als das ›Xantos‹. Sie war froh, dass sie das schwarze Kleid mitgebracht hatte. Jetzt konnte sie es gut gebrauchen. Sie musste überhaupt darauf achten, dass sie nicht total verrohte. Es hatte ihr Spaß gemacht, sich endlich wieder einmal zu schminken und ihre Haare hochzustecken.
McConell war ein angenehmer Begleiter. Er erzählte von sich und seiner Leidenschaft für das Schreiben.
»Mittlerweile sind die Verkäufe ganz gut, sodass ich davon leben kann. Aber zur Not habe ich immer noch Reserven.«
»Bringen Sie jedes Jahr ein neues Buch heraus?«, fragte sie und überlegte, wie sie das Thema auf das Grundstück lenken konnte.
»Nein, nur jedes zweite Jahr. Manchmal dauert es sogar drei Jahre, bis eine Geschichte fertig ist. Ich schreibe ausgesprochen langsam. Mein Verleger liegt mir ständig in den Ohren, ich solle etwas schneller arbeiten.«
Der Kellner kam mit zwei Männern an ihrem Tisch vorbei. Einer davon, groß, braunes Haar, warf zuerst ihr und dann ihrem Begleiter einen kurzen Blick zu. Die beiden setzten sich an einen Nachbartisch und vertieften sich in ein Gespräch.
»Jetzt erzählen Sie mal von ihrem Hotelprojekt«, sagte er endlich und Claire sprudelte begeistert los: »Das Anwesen meines Bruders ist einfach ideal. Ich komme aus der Branche, ich habe in einer Hotelkette gearbeitet und weiß, worauf es ankommt. Ich traue mir ein solches Projekt zu.«
Die letzten Worte waren an den nicht anwesenden Viktor gerichtet.
Er lachte und legte seine Hand kurz auf ihre.
»Sie bleiben am Ball. Das gefällt mir.«
»Es ist wirklich mein Wunschtraum«, sagte sie. »Und mein Bruder kann weiter mit seinen Pferden arbeiten. Es wäre die perfekte Ergänzung.«
Das Essen war vorzüglich, der Wein, den McConell ausgesucht hatte, exzellent. Sie wurden von einem noch jungen Kellner bedient, der sehr unsicher wirkte. Als er die Käseplatte brachte, überlegte Claire kurz und wollte sich dann ein Stück Camembert nehmen. Aber der Kellner hatte ihr Zögern falsch verstanden und die Platte wieder fortgezogen, sodass der Käse in ihren Schoß fiel. Der junge Mann wurde blass und begann zu stottern. Sofort erschien der Maître und wollte ihn mit einem geflüsterten Befehl fortschicken. Aber Claire stand auf und hielt den jungen Kellner fest und überzeugte den Maître davon, dass es ihr Fehler war.
Die beiden Männer am Nachbartisch blickten zu ihr hin. Rasch setzte sie sich wieder.
»Das finde ich ganz großartig, dass Sie die Sache bagatellisiert haben«, sagte McConell. »Mir ist als junger Kerl etwas Ähnliches passiert. Ich habe auf einem Kreuzer gelernt und bin einer Dame auf den Saum ihres Kleides getreten, der natürlich sofort riss.« Er spielte mit seinem Glas. »Ich bekam vom Oberkellner eine Ohrfeige, aber die Dame nahm mich in Schutz. Nur deshalb verlor ich die Stelle nicht.«
Kurz vor elf Uhr wurde Claire schlagartig müde. McConell erhob sich und holte ihre Jacke. Sie musste zugeben, dass sie einen angenehmen Abend verbracht hatte. Als sie am Nachbartisch vorbeikamen, sahen beide Männer zu ihr hin. McConell hatte seinen Arm um sie gelegt und sie fühlte sich einen Moment unbehaglich.
Sie schwiegen während der kurzen Fahrt. Als sie aber ankamen und er ihr die Tür öffnete, fragte sie vorsichtig: »Wann, glauben Sie, können Sie mir etwas sagen?«
Er nahm ihre Hand.
»Ich habe mich schon entschieden. Ich verkaufe Ihnen das Land.«
Sie sah seinem Wagen hinterher, als er vom Hof fuhr, und blickte zum Steinhaus. Sie hatte es geschafft. Sie würde ein eigenes kleines Hotel haben, das nur ihr und Tim gehören würde. Ein Hotel, das sie nach ihren Vorstellungen einrichten und leiten konnte und das nicht so war wie andere. Ihres sollte etwas ganz Besonderes sein.
Tim saß im Wohnzimmer am Schreibtisch, als sie eintrat. Erleichtert blickte er sie an und sagte: »Gott sei Dank. Ich hatte ein ungutes Gefühl. Wie ist es denn gelaufen?«
Sie sagte ihm, dass McConell ihnen das Land geben würde.
»Dann kündigst du jetzt?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Ja, ich versuche für übermorgen einen Flug zu bekommen und möchte alles an einem Tag erledigen. Ich muss morgen noch einige Telefonate machen. Und wenn ich wieder da bin, gehen wir zum Notar und setzen den Kaufvertrag auf. Da musst du aber natürlich dabei sein.«
Er lachte und wurde dann ernst.
»Nina hätte sich genauso gefreut wie ich, wenn sie wüsste, dass du hier bist und einsteigst.«
Ja, das wusste sie. Nina war für sie immer wie eine jüngere Schwester gewesen.
Sie sah auf die Uhr. Es würde noch ungefähr zwei Stunden dauern, bis Tim zurück war, und Piet würde erst gegen sechs Uhr kommen, um die Pferde zu füttern.
Sie überlegte, ob es zu gefährlich war, wahrscheinlich schon. Niemand war da, der ihr notfalls helfen konnte. Sie konnte verletzt werden und noch schlimmer. Andererseits würde Tim es nie zulassen, wenn sie ihn vorher fragte, ganz abgesehen davon, dass er ihr so etwas auch nicht zutrauen würde.
Nein, sie würde es besser nicht tun, dachte sie, lief aber hoch und zog sich eine bequeme Jeans, eine Strickjacke und Turnschuhe an. Dann steckte sie ein Taschenbuch in den Hosenbund, füllte ihre Tasche mit Brotkrumen und ging hinaus.
Im Stall war es ruhig. Sie ließ die Tür einen Spaltbreit auf und ging leise nach hinten durch. Die Stute hob sofort den Kopf und wich zurück. Sie zögerte einen Moment, ging dann in die leere Nachbarbox und kletterte auf den Mauervorsprung, in den der Futtertrog eingelassen war. Sie wartete, aber die Stute hatte sie bemerkt, denn sie schnaubte laut mit hoch erhobenem Kopf. Rasch kletterte sie über die Boxenwand und hockte sich wieder hin. Auch in der Box der Stute gab es den Mauervorsprung. Die Stute machte einen Satz, drängte sich gegen die Tür und begann zu zittern. Claire wartete und setzte sich dann langsam mit angezogenen Beinen neben den leeren Trog. Vorsichtig zog sie das Buch unter der Strickjacke hervor und schlug es auf. Die Stute blieb unverändert an die Tür gedrängt stehen. Ihre Muskulatur war angespannt, die Ohren leicht nach hinten angelegt, ihre Augen angstvoll geweitet.
Claire begann zu lesen, warf dem Tier aber immer wieder einen Blick zu.
Nach zehn Minuten schien das Tier etwas ruhiger zu werden. Die Ohren schnellten vor und zurück, als wolle es die Lage peilen. Dann senkte es den Kopf und raschelte im Stroh.
Claire begann zu summen, blieb aber unbeweglich sitzen.
Die Stute hob den Kopf, sah aber nicht in ihre Richtung.
»Na, komm doch«, summte sie.
Das Tier blieb reglos stehen. Fünf Minuten. Zehn Minuten. Dann scharrte die Stute einmal mit einem Fuß. Claire summte weiter. Wieder senkte sich die Nase zu Boden, um aber gleich wieder hochzukommen. Und dann ließ das Tier ein leises, zögerndes Schnauben hören. Und sah zu ihr hin.
Claire blieb ruhig sitzen und sagte wieder: »Na, komm schon.«
Wieder schnaubte das Tier, aber es hörte sich jetzt nicht mehr so ängstlich an. Nach weiteren zehn Minuten machte die Stute einen zaghaften Schritt in ihre Richtung, die Ohren spielten vor und zurück, die Nüstern immer noch gebläht. Sie reckte den Hals, als wolle sie ihre Witterung aufnehmen, und Claire war froh, dass sie kein Parfum benutzte.
Sie rührte sich nicht und wartete. Die Stute machte einen weiteren Schritt auf sie zu, hob den Kopf, schaute zu ihr hin und kam noch einen Schritt vor.
Claire dachte an Tim, der staunen würde. Hoffentlich blieb er noch eine Weile fort. Die Stute wieherte leise, aber nicht ängstlich, eher neugierig. Und dann kam sie Schritt für Schritt in ihre Richtung, beschnüffelte zaghaft ihren Arm, ihre Schulter und ihre Knie.
Sie hatte gewonnen.
Tim war wütend. Zum ersten Mal erlebte sie ihn richtig aufgebracht.
»Wie konntest du nur?«, fragte er und sprach gleich weiter: »Sie hätte dich zu Tode trampeln können. Du musst von allen Geistern verlassen sein. Ich verstehe dich nicht. Du hast doch Angst vor Pferden.«
»Ja, ich weiß, dass ich dir besser Bescheid gesagt hätte«, versuchte sie ihn zu beruhigen. »Aber du hättest es mir niemals erlaubt.«
»Genau. Was ist bloß in dich gefahren?«
Er war früher als erwartet zurückgekommen und als er sie nicht im Haus fand, ging er zum Stall, weil er sah, dass die Tür offen stand. Und dann hörte er ihre leise Stimme. Als er sie rief, antwortete sie schnell, er solle stehen bleiben und warten. Das tat er beunruhigt. Sie rutschte vorsichtig von dem Vorsprung, sprach dabei die ganze Zeit mit der Stute und ging ganz langsam zur Boxentür. Das Tier kam hinter ihr her. So leise wie möglich schob sie den Riegel zurück, drückte die Tür auf und drehte sich dann zur Stute um, die vor ihr stand und ganz ruhig wirkte. Sacht gab sie ihr ein Stück trockenes Brot und ging dann langsam aus der Box. Erst als sie den Riegel wieder vorschob, kam Tim.
»Claire …«
Sie unterbrach ihn leise.
»Bleib da.«
Die Stute stand vor der Boxentür, als warte sie auf etwas. Sie gab ihr durch die Gitterstäbe noch ein Stück Brot und ging dann langsam fort.
Tim war kreidebleich geworden. Als sie auf den Hof hinaustraten, begann er zu schimpfen. Claire versuchte ihn zu beschwichtigen, aber er hörte ihr nicht zu, nannte sie leichtsinnig und verantwortungslos und konnte sich nicht beruhigen. Sie wartete, bis er sein Pulver verschossen hatte und versuchte dann eine Erklärung.
»Sie hat mich vor ein paar Tagen so angesehen. Ich hatte den Eindruck, sie suche Hilfe. Und dann bin ich in ihre Box geklettert.«
Tim schüttelte den Kopf und fragte sie, was sie sich dabei bloß gedacht hatte.
»Ich habe vor einigen Wochen ein Buch über Tierpsychologie gelesen.«
»Tierpsychologie?«
»Ja, Viktor hatte es mir gekauft, weil er der Meinung ist, ich hasse seine Katze.«
»Was, Viktor hat eine Katze?«, fragte Tim verwundert. »Kann ich mir von ihm gar nicht vorstellen.«
»Doch, er hat einen Kater. Ascot, ein intrigantes hochnäsiges Tier.«
In Tims Lachen spielte Erleichterung mit.
»Jedenfalls«, fuhr sie fort, »ich habe das Buch gelesen, weil Viktor immer nachhört, wie mir ein Geschenk gefallen hat.«
»Und jetzt liebst du seinen Kater, was?«, spottete Tim.
»Nein, er ist immer noch intrigant und hochnäsig.«
»Und wie äußert sich das?«
Sie warf ihm einen genervten Blick zu.
»Er beachtet mich nicht und wenn er auf Viktors Schoß sitzt, sieht er mich schadenfroh an.«
Tim grinste.
»Wahrscheinlich denkt Viktor, dass du auf das Tier eifersüchtig bist«, mutmaßte er.
»Eifersüchtig?« Der Gedanke war ihr noch nie gekommen. »Nein, ich mag das Tier einfach nicht.«
»Und was hast du in diesem Buch nun über Pferde gelesen?«
»Es ging in diesem Buch nicht um Pferde, sondern um ein Zebra.«
»Ein Zebra?«
Sie erzählte ihm von einem Tierpfleger in einem Zoo, der ein Zebra zutraulich machte, indem er es einfach ignorierte.
Tim schüttelte den Kopf. »Und das hat funktioniert?«
»Ja, das Tier ließ sich später sogar striegeln.«
»Und das hast du mit der Stute auch gemacht?«
»Ja, und es hat geholfen.«
Tim schüttelte wieder den Kopf.
»Du bist wirklich manchmal unberechenbar«, sagte er. »Aber es ist ja Gott sei Dank nichts passiert. Du musst mir versprechen, dass du das nie wieder tust,« bat er.
Claire sah ihn nur stumm an.
»Claire, ich will nicht, dass du zu dem Tier gehst.«
»Ach, Tim. Ich glaube, ich kann sie an mich gewöhnen. Und es wäre doch gut, wenn jemand mit ihr zurechtkommt.«
»Aber nicht du«, sagte er entschieden.
»Aber sonst ist keiner hier«, argumentierte sie. »Das Tier hat etwas Schlimmes erlebt, wovon es sich nicht erholt hat. Vielleicht gelingt es mir, ihr dabei zu helfen.«
Dann fiel ihr etwas ein: »Wie heißt sie eigentlich?«
»Samira«, sagte Tim. »Der Name passt überhaupt nicht zu ihr.«
»Doch«, widersprach sie. »Er passt supergut.«
»Lenk nicht ab.«
Sie grinste und versprach, ihm das nächste Mal rechtzeitig Bescheid zu geben, damit er im Stall bleiben konnte.
Ihm blieb nichts übrig, als nachzugeben.
Dass Viktor eine Katze hielt, hatte sie damals auch gewundert. Sie wäre nie im Traum auf die Idee gekommen, dass er Tiere in seiner sterilen Wohnung duldete. Er hatte auch keine wirkliche Beziehung dazu. Hunde waren für ihn ›Köter‹, vor Fischen im Teich oder Aquarium ekelte er sich. Meerschweinchen ordnete er Ratten zu und Pferde sah er nur als Teil der Nahrungskette. Aber Ascot war ein reinrassiger heller Siamkater. Viktor bekam ihn als noch junges Tier vom Züchter, weil er von seiner Mutter nicht angenommen wurde. Der Züchter wollte nicht einmal Geld dafür. Er nahm ihn mit und päppelte ihn auf. Der Kater gedieh und sah aus wie ein Windhund mit langen, dünnen Beinen und schmalem Rumpf.
Ascot mochte keine Frauen, wie Viktor ihr sagte. Bei Frauen reagiere er kühl und manchmal sogar aggressiv. Claire hatte keine Angst vor dem Tier, ärgerte sich aber, weil Ascot sie entweder ignorierte oder stundenlang nicht aus den Augen ließ und fixierte. Wenn sie bei Viktor übernachtete, konnte es sein, dass das Tier plötzlich aus einer dunklen Ecke auftauchte und sie anfauchte. Einmal saß sie in Viktors Badewanne, als Ascot plötzlich mit einem Satz aus der Dusche sprang und zur Tür hinauslief. Sie erschreckte sich fast zu Tode.
Manchmal lag Ascot auch am Fußende auf Viktors Füßen, was sie störte, Viktor aber als ein Zeichen großer Zuneigung deutete.
Claire dachte insgeheim, dass Viktor nur Ascots reinrassige Herkunft schätzte. Und Ascot umgekehrt Viktors Affenliebe.