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Am nächsten Morgen gingen sie nach dem Frühstück zusammen los. Sie drehte sich noch einmal um. Nein, das Steinhaus war vom Hof aus durch die hohen Hortensienbüsche nicht ohne Weiteres auszumachen. Nur wenn man genauer hinsah, konnte man die Dachschindeln erkennen.

»Was suchst du?«, fragte Tim.

»Ach, ich wollte nur sehen, wieso mir das Steinhaus nicht sofort aufgefallen ist.«

»Ja, die Sträucher müssen unbedingt weg«, sagte Tim.

»Auf keinen Fall«, fiel Claire ihm ins Wort. »Ich liebe Hortensien.«

»Okay, dann bleiben sie«, sagte Tim unkompliziert. Sie hielten kurz an der ersten Weide, auf der nun Fever stand, und Tim erzählte, dass er lieber eine große statt vier kleine Weiden hätte.

»Aber das ist nun mal nicht zu ändern. Und andererseits ist es ganz günstig. Princess zum Beispiel muss alleine stehen.«

Leichter Tau lag noch auf den Grashalmen. Es war frisch, der Himmel bewölkt. Fever kam langsam mit schlendernden Schritten an den Zaun und stupste Tim an. Claire blieb etwas zurück.

Sie dachte an die schlammverkrusteten Wege, mit denen sie gerechnet hatte und sah in Gedanken Gäste über den weißen Kies gehen, einen kleinen Jungen, der sein widerspenstiges Pony hinter sich herzog, um auszureiten, ein älteres Paar, das von einem Ausritt zurückkam. Im Hotel würde ein ständiges Kommen und Gehen sein, die Tür sollte immer offen bleiben und die Kinder sollten jederzeit hineinlaufen dürfen, um sich ein Brot oder eine Limo zu holen. Auch das Foyer musste unbedingt familienfreundlich sein mit einer Spielecke für Kinder, vielleicht etwas abgetrennt vom Rest der Halle, aber so, dass die Eltern ihre Sprösslinge beobachten konnten.

Tims Stimme riss sie aus ihren Tagträumen. Er erzählte, dass Princess erst kürzlich Piet gebissen habe.

»Einfach so, ohne jeden Anlass. Pferde sind eben unberechenbar.«

Sie gingen weiter, umrundeten die Weide und kamen zur Rückseite der Stallungen. Die Geräusche der Pferde drangen bis nach draußen, eines der Tiere trank gerade. Die Stallungen lagen etwas nach vorne versetzt, sodass ein kleines Stück Weide an der Rückseite übrig geblieben war. Sie war nicht eingezäunt und wurde nicht genutzt.

Claire trat in die Lücke.

»Hier habe ich gestanden«, sagte sie. »Ist das nicht ein toller Anblick?«

»Ja«, Tim nickte. Ein wehmütiger Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

»Nina hat immer gesagt, die ganze Anlage sei wie eine Märchenkulisse, alles verwinkelt und verhuscht. Es würden nur noch der Prinz und die Prinzessin fehlen.«

Dabei war Tim sicher für Nina der Prinz gewesen. Sie ging zu ihm, legte ihm den Arm um die Schultern und sagte spontan: »Ich könnte mir denken, dass sie eines Tages wieder vor der Tür steht.«

»Meinst du?«, fragte er hoffnungsvoll.

Sie wusste es nicht, nicht einmal, ob sie das tatsächlich glaubte, nickte aber.

Zwischen Scheune und Halle war ebenfalls ein schmaler Zwischenraum, in dem sich eine alte Hundehütte befand. Von einem Hund war aber nichts zu sehen.

»Hast du einen Hund?«, fragte sie.

»Nein. Die Vorgänger hatten einen. Beziehungsweise die Leute davor. Einen riesigen Dalmatiner. Und einer meiner Nachbarn muss auch einen haben. Ich höre ihn manchmal morgens.«

Sie gingen weiter und umrundeten die Halle, den Sandplatz und die Weide. Dann steuerte Claire zielstrebig das Steinhaus an, das durch die aufgehende Sonne eine rötliche Färbung angenommen hatte. Es war wirklich wie im Märchen. Es fehlte nur noch der sich bewegende Vorhang, hinter dem sich jemand versteckte, der sie heimlich beobachtete. Aber die Vorhänge bewegten sich nicht, sie hingen schief und waren grau vor Staub. Die Fenster waren stumpf und sicher lange nicht mehr geputzt worden.

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Sie betraten das Haus und Tim sah sich so neugierig darin um, als kenne er es noch gar nicht.

»Es ist viel zu groß«, sagte er nun. »Nina fand es ungemütlich. Sie sagte sofort, wir sollten lieber in das Gesindehaus einziehen.«

»Gesindehaus?«, sie starrte ihn erstaunt an. Viktors Worte.

»Ja, früher, also ganz früher, waren dort die Dienstboten untergebracht. Das wusste die Maklerin noch. Deshalb wurde das kleine Haus Gesindehaus genannt. Sie meinte, man könne nicht darin wohnen, weil es zu klein sei. Als wir damals den Hof besichtigten, hat sie uns nur das große Haus gezeigt.«

Die Treppe nach oben mündete in eine Galerie. Claire stieg die Holzstufen hoch und blieb oben stehen. Tim stellte sich neben sie und stützte sich mit den Armen am Geländer ab. Wieder musterte sie den Boden und das Spiel der Farben darauf. Irgendjemand hatte hier einmal gewohnt und das Haus geliebt.

»Was weißt du eigentlich von den früheren Besitzern?«, wollte sie wissen.

»Nicht viel«, Tim zuckte mit den Schultern. »Breitner, der Eigentümer, war gestorben, und seine Kinder stritten um das Erbe und haben dann alles verkauft. Soviel ich weiß, wollte er gerne eine Art Kinderheim daraus machen. Oder etwas in der Art. Aber dazu kam es nicht mehr. Er starb kurz nach seiner Frau.«

Sie gingen durch alle Zimmer, die ungelüftet rochen und dringend eine Renovierung benötigten. Die Tapeten waren vergilbt und lösten sich teilweise, die Bodendielen waren fleckig und an einigen Stellen fast schwarz von Schimmel. Nur zwei Räume waren ganz leer, in den anderen standen vereinzelte Möbelstücke, die etwas verloren wirkten. In einem fand sie sogar einen Ständer mit Frauenkleidern. In fast allen Räumen befanden sich Wasserhähne, wie sie erleichtert feststellte. Also lagen dort auch entsprechende Leitungen.

Ganz hinten gab es noch einen sehr breiten Raum, der ungemütlich aussah, von dem man aber einen wunderschönen Blick auf den See hatte. Links davon lag der Nachbarhof. Das an den Garten angrenzende längliche Grundstück würden sie brauchen, um den Garten zu vergrößern. Die Terrasse musste ganz neu angelegt werden und sollte auch etwas großzügiger sein. Schon alleine deshalb mussten sie das Grundstück mit einbeziehen. Als Begrenzung konnte sie sich hohe Stauden und verschiedene Ziergewächse vorstellen.

»Man kann etwas daraus machen«, sagte sie. »Ich habe verschiedene Ideen. Ich denke an mediterrane Fliesen und romantische Gartenmöbel. Vielleicht sogar einen Wintergarten. Aber das ist eine Kostenfrage.«

Tim blieb stumm.

»Wir werden das schmale Grundstück mit einbeziehen«, sagte sie sinnend. »Alles soll großzügig wirken, die Kinder sollen herumtollen können. Vielleicht können wir eine Rutsche und eine Schaukel hinstellen. Und einige Bänke, auf denen die Mütter sitzen können, während die Kinder spielen.«

»Welches Grundstück?«

»Das mit dem Stacheldraht. Es ist ideal für unsere Zwecke.«

»Du, Claire«, begann Tim, wurde aber von einem lauten Wiehern unterbrochen.

»Das ist Esquire«, sagte er sofort. »Ich finde, sie hat ein unnachahmliches Wiehern, findest du nicht?«

Claire lachte.

»Für mich hört sich jedes Wiehern gleich an«, gestand sie.

»Nein«, Tim schüttelte den Kopf und erklärte ernsthaft, auch Pferde hätten ihre eigenen Stimmen und Cora habe sogar ein Timbre.

Claire stupste ihn an und überlegte, ob man aus dem Raum nicht eine Loggia machen sollte.

»Im Keller sind übrigens auch noch Möbel«, sagte Tim. »Du solltest sie dir bei Gelegenheit ansehen.«

»Oh, Tim, es wird ganz wunderbar werden«, sagte Claire und klatschte in die Hände. »Ich sehe dich schon von einem Ausritt zurückkommen, in deinem Gefolge vier Reiter, denen man die Begeisterung am Gesicht ablesen kann. Und ich stehe an der Rezeption und spreche mit einem Gast, der gerne reiten möchte. Es ist einfach perfekt.«

Tim lächelte.

»Manchmal denke ich, das müssten jetzt unsere Eltern sehen. Was sie wohl dazu sagen würden?«

Claire winkte ab.

»Du kennst sie ja. Sie interessieren sich nur für sich selbst. Sie wissen nicht, dass ich hier bin.«

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Tim verschwand wieder in den Stallungen und Claire blieb nachdenklich vor den Fliederbäumen stehen. Sie mussten geschnitten werden. Zumindest die verblühten Rispen mussten entfernt werden, denn sie nahmen dem Baum zu viel Kraft weg. Sie hatte einmal irgendwo gelesen, dass das mittlere Aufblühdatum für den Flieder Mitte Mai war. Nach der Fliederblüte war der Winter endgültig vorbei. Sie liebte den Duft des Flieders, der für sie ein Symbol für den Frühsommer war. Aber jetzt war schon Herbst, bald würde der Winter kommen. Und Weihnachten. Bei dem Gedanken wurde ihr ganz warm ums Herz. Sie liebte Weihnachten, die festliche Atmosphäre, die Geschenke, die erwartungsvolle Haltung, die sie von ihrer Kindheit mit hinüber in das Erwachsenenalter genommen hatte.

Viktor hatte das nicht verstanden. Weihnachten bedeutete ihm nichts, wie ihr jetzt erst aufging. Vielleicht, weil er ein schwieriges Elternhaus gehabt hatte, überlegte sie. Vielleicht wurde bei ihnen nicht gefeiert und er konnte so ihre Freude nicht verstehen. Einen Moment tat er ihr leid. Mittlerweile musste er herausgefunden haben, dass sie weg war. Was er wohl dachte?

Nachmittags fuhren sie nach Galway. Tim erzählte ihr einiges über die Stadt, die an der Westküste lag und durch zwei Universitäten als jugendlichste Stadt Irlands galt.

»Sie wird auch die City of the Tribes genannt, die Stadt der Stämme, da sie im Mittelalter von über einem Dutzend reichen Clans regiert wurde. Du musst Galway im Sommer sehen«, fuhr er fort. »Hier gibt es unendlich viele Festivals, es ist immer etwas los.«

Ja, das konnte sie sich vorstellen. Die lässige Lebenseinstellung der Iren, dazu die Attitüden der Künstler.

Tim parkte in einer schmalen, bunten Seitenstraße im absoluten Halteverbot in der Nähe des Eyre Square. Sie überquerten den Platz, der von vielen Geschäften, Hotels und Pubs umgeben war und wichen drei Jugendlichen aus, die wie Raketen auf ihren Skateboards hin- und herrasten.

Tim ging schnell, sie versuchte, mit ihm Schritt zu halten. Es war wie früher. Wenn er es nicht erwarten konnte, irgendwo hinzukommen, hatte er ein ziemliches Tempo drauf. Sie liefen durch mittelalterlich anmutende Straßen und sie nahm sich vor, einmal ganz alleine durch Galway zu gehen, um sich in Ruhe alles anzusehen. Tim blieb schließlich vor der Auslage eines Reitsportgeschäfts stehen.

»Hier ist es. Es gibt noch ein zweites Geschäft, aber das Personal ist ein wenig arrogant, deshalb gehe ich lieber hierhin.«

Helles Glockengeläut kündigte ihren Eintritt an. Claire umfing der intensive Geruch nach Leder, der sie spontan an Tims früheres Zimmer erinnerte. Weil ihre Mutter den Geruch von Leder nicht mochte, musste Tim seine Stiefel immer in seinem Zimmer lassen.

Spontan ärgerte sie sich darüber. Das hatte sie sicher bewusst getan, weil sie sein Hobby ablehnte und ihm das auf diese Weise bedeuten wollte. Wie kleinkariert ihre Eltern doch gewesen waren.

Die Verkäuferin schien Tim zu kennen, denn sie lächelte freundlich und sagte etwas zu ihm, was Claire nicht verstand. Tim antwortete, ebenfalls auf Irisch.

Sie sah sich um. An einer Wand hingen Dutzende von Sätteln, darunter etliche Trensen und weiteres Zaumzeug. Die Sättel waren unterteilt in Dressur-, Spring- und Vielseitigkeitssättel, wie weiße Schilder oberhalb angaben. Aber für sie sahen alle gleich aus. An den Trensen blinkten Mundstücke in allen Größen. Ein drehbarer Ständer bot Zügel in unterschiedlicher Ausführung an und Lederstücke mit Schnallen, deren Verwendung ihr schleierhaft war.

Weiter hinten hingen Reithosen in einem geöffneten Einbauschrank. Daneben Blusen und Pullover. Ein Wühltisch bot Seidenschals mit Pferdemotiven an.

Sie stöberte ein wenig bei den Reithosen, die es in nahezu allen Farben gab, manche mit Lederbesatz am Gesäß und der Innenseite der Beine, manche ohne. Dann wandte sie sich den Reitstiefeln zu, die es ebenfalls in verschiedenen Ausführungen gab. Gummi, Leder, mit Reißverschluss, ohne. Alle glänzten, manche fühlten sich härter, andere weicher an.

»Diese hier sind gut«, Tim deutete auf ein Paar. »Nina hat sie auch.«

Claire lachte.

»Ich brauche keine. Du weißt doch, was für ein Angsthase ich bin.« Dann sah sie, dass er eine Trense in der Hand hielt.

»Hast du dir etwas ausgesucht?«

Das Leder war schwarz und schmal, aber nicht rundgenäht.

»Das liegt besser auf als rundes Leder«, erklärte Tim. »Und das Gebiss ist genau richtig. Ich brauche sie gar nicht erst auseinanderzunehmen.«

Claire bezahlte und bekam von der Verkäuferin einen Schlüsselanhänger in Form eines Hufeisens geschenkt.

Wieder auf der Straße schlug sie vor, etwas essen zu gehen. Tim warf einen Blick auf seine Uhr.

»Dann müssen wir uns aber beeilen. Piet wusste nicht, ob er früh genug zurückkommt. Er muss etwas erledigen. Spätestens um sechs muss gefüttert werden.«

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Sie gingen in ein nahegelegenes Pub, das genauso aussah, wie sie sich ein Pub vorstellte. Rustikales Mobiliar, schimmerndes Messing, gedämpftes Licht und plüschige Sitzbänke. Sie nahm die Speisekarte, kannte aber keines der angebotenen Gerichte.

»Was sollen wir nehmen?«, fragte sie.

»Hier gibt es ein leckeres Kartoffelgericht, ein typisch irisches Gericht. Colcannon. Es wird dir garantiert schmecken.«

Sie stimmte zu. Tim bestellte ein Glas Wein für Claire und Wasser für sich. Sie beobachteten die anderen Gäste und kicherten über einen übergewichtigen Mann, der sich nicht traute, alleine von seinem Barhocker herunterzurutschen. Der Kellner half ihm schließlich. Dann kam eine Gruppe junger Leute hinein, holte sich Getränke und ließ sich ganz in ihrer Nähe nieder. Sie sprachen Deutsch, Englisch und Holländisch und schienen keine Sprachbarrieren zu kennen. Einer der jungen Männer flirtete ungeniert mit zwei Mädchen gleichzeitig, was beide nicht zu stören schien. Sie wollte Tim gerade darauf aufmerksam machen, als sie sah, dass er dem Treiben mit gerunzelter Stirn zusah. Offensichtlich gefiel ihm nicht, was er da sah.

Das Essen war lecker. Sie beschloss, sich bei nächster Gelegenheit ein Kochbuch über die irische Küche zu kaufen. Sie trank ihr Glas so schnell leer, dass Tim ihr noch ein zweites holte. Er selbst blieb beim Wasser.

Dann fragte er sie nach ihrer Arbeit aus und sie erzählte, dass sie keine Lust mehr habe und ihr Chef sie nicht leiden könne. Dass die Sekretärin dümmlich sei und sie boykottierte und sie sich noch kurz vor ihrer Reise nach Irland auf eine andere Stelle beworben habe. Tim nickte nur, stellte aber keine weiteren Fragen.

Dann fuhren sie zurück.

Sie fühlte sich wohl wie lange nicht mehr. Tim begann von den Pferden zu sprechen, von der Zuchtstute, von der er gehört habe und die er sich am nächsten Tag ansehen wolle, und von Piet, der im nächsten Frühjahr Urgroßvater werden würde. Claire merkte, dass sie einen kleinen Schwips hatte und musste an Zoe denken, die immer sagte, »sie habe sich einen Schwips eingefangen«, als könne sie nichts dafür. Sie begann zu kichern und Tim fragte: »Was ist? Zu viel Wein?«

»Nein«, stritt sie ab und versuchte, einen Schluckauf in Schach zu halten. Tim grinste und bog in die Einfahrt ein.

»Was ist das denn?«, fragte er.

Ein silberner Wagen stand vor dem Wohnhaus. Und vor der Haustür eine hochgewachsene Gestalt im hellgrauen Anzug. Die Arme vor der Brust verschränkt, der Blick finster.

»Mein Gott«, sagte Tim vergnügt. »Was ist das denn für ein Lackaffe?«

Sie atmete tief durch, um den Schluckauf zu unterdrücken. Was ihr aber nicht gelang.

»Falsche Krawatte«, sagte sie.

Er war es tatsächlich. Aber er trug nicht die Krawatte mit den blinkenden roten Herzen. Wäre auch albern gewesen.

»Das ist Viktor, mein Freund.«