11
Sie saßen beim gemeinsamen Frühstück. Tim hatte die Tiere schon versorgt und war dann in die Küche gekommen. Er sprach von Cora, die allmählich unruhig wurde, da ihr die Bewegung fehlte, und kam dann auf das Wohnhaus zu sprechen.
»Vielleicht sollten wir hier anbauen, damit du etwas mehr Platz hast«, schlug er vor.
»Keine schlechte Idee«, stimmte sie vorsichtig zu. Aber sie musste die Kosten im Auge behalten und die erste Zeit überbrücken, in der sie noch nicht viele Gäste haben würden.
Als habe er ihre Gedanken erraten, sagte Tim: »Anfangs werden wir wohl kein allzu großes Einkommen haben. Aber im Laufe der Zeit wird sich das bestimmt ändern. Alex sagte kürzlich, es sei gut, dass wir kein Fremdkapital brauchen.«
Sie runzelte die Stirn und hoffte, dass Tim Dritten gegenüber nicht allzu freimütig über ihre finanzielle Situation sprach.
»Wie sieht es denn mit deinem bisherigen Einkommen aus?«, fragte sie.
»Oh, gar nicht so schlecht«, sagte er gut gelaunt. »Ich konnte immer zwischendurch Pferde für Ausritte ausleihen. Und bis vor Kurzem hatte ich sogar zwei Privatpferde unterstehen. Aber die Besitzer sind wieder zurück nach Deutschland gegangen und haben die Pferde verkauft. Manchmal habe ich auch Unterricht gegeben. Alles in allem habe ich mein restliches Kapital nicht anrühren müssen.«
Sie lächelte erleichtert.
»Alex hat mir übrigens einen Architekten empfohlen«, fiel Tim ein. »Ben Hastings. Das ist derjenige, der wusste, wem das Grundstück gehört. Die Telefonnummer habe ich auf den Block gekritzelt.«
Zufrieden legte sie den Hörer auf und blickte auf ihre Uhr. Es war noch genug Zeit, um sich zurechtzumachen und auf das Gespräch vorzubereiten.
Tim wusste noch von Alex, dass Ben Hastings aus England stammte und in Deutschland studiert hatte. Erst seit zwei Jahren lebte er wieder in Irland. Wahrscheinlich hatte er noch nicht viele Kunden und konnte daher kurzfristig ihren Auftrag übernehmen, überlegte sie.
Claire stand lange vor dem Kleiderschrank und entschied sich für ein helles Kostüm und passende Schuhe. Sie wollte ganz geschäftsmäßig auftreten, wie eine Frau, die genau wusste, was sie tat. Ihre Haare steckte sie zu einem kleinen Knoten zusammen und schminkte sich dezent. Dann stopfte sie die Lagepläne und ihre handschriftlichen Notizen in eine Aktentasche, die sie im Büro gefunden hatte, und machte sich auf den Weg.
Sie hatte etwas Mühe mit dem Linksverkehr und fuhr langsamer als gewöhnlich. Der Autofahrer hinter ihr hupte einmal, aber sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Erleichtert stellte sie den Wagen schließlich auf dem Parkplatz ab, den Tim ihr beschrieben hatte.
Bevor sie losfuhr, hätte sie beinahe einen Streit vom Zaun gebrochen, weil Tim nicht mitkommen wollte. Er meinte, sie käme auch alleine klar und habe doch alles im Kopf. Sie sagte ihm, dass es ihr gemeinsames Projekt sei und er sich nicht nur auf die Pferde konzentrieren könne. Sofort zog er den Kopf ein und machte ein schuldbewusstes Gesicht.
»Schon gut, lass nur. Es ist ja nur das erste Gespräch«, schwächte sie ab und war erleichtert, als er wieder grinste. Das Architekturbüro war in einem dreistöckigen Haus untergebracht. Auch hier sorgten bepflanzte Blumenkästen für Farbe. Die Haustür war dunkelgrün und mit einem blanken Messingklopfer verziert, der auch benutzt wurde, wie sie an der stumpfen Stelle unter dem Klopfer sehen konnte. Sie war etwas zu früh dran und sah sich um. Auf der gegenüberliegenden Seite lag ein kleines Café. Ein Kaffee wäre jetzt nicht schlecht.
Sie betrat das Café in der Erwartung von Teehausstühlen und kleinen runden Tischen. Stattdessen verlief eine gepolsterte Bank an den Wänden entlang mit kleinen Tischen, die sich die Gäste heranziehen konnten. Sie setzte sich und sah sich um. Außer ihr waren noch drei weitere Gäste anwesend, die bei ihrem Eintritt flüchtig hochgesehen hatten.
Sie bestellte Kaffee bei einem mürrisch dreinblickenden jungen Mädchen und hing ihren Gedanken nach.
Sie würde vorerst keinen Anbau an das Gesindehaus planen. Das konnten sie immer noch in Angriff nehmen. Einstweilen mussten sie sich eben mit weniger Platz begnügen. Und Tim war sowieso froh, wenn sie in unmittelbarer Nähe blieb. Auch als Kind schon kam er oft nachts zu ihr, weil er sich im Dunkeln fürchtete. Eine ganze Zeit lang hatte er sogar mit in ihrem Zimmer geschlafen auf einem behelfsmäßig hergerichteten Gästebett. Und es musste immer ein Licht anbleiben.
Tim schien erst in Irland seine Kindheit hinter sich gelassen zu haben. Wie würde es sein, wenn er einmal eine neue Freundin hatte? Wenn er überhaupt eine Frau fand. Sie unterdrückte ein Seufzen.
Tim tat sich schwer mit Frauen. Ob er jemals mit einer anderen Frau als Nina zusammenkommen würde, bezweifelte sie ernsthaft. Irgendwie konnte sie sich auch keine andere Frau an seiner Seite vorstellen. Manchmal befürchtete sie, dass er alleine bleiben würde. Er trauerte immer noch um Nina. Oft, wenn er sich unbeobachtet glaubte, machte sich ein trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht breit.
Sie sah auf ihre Uhr und erschrak. Es war schon nach drei. Rasch bezahlte sie und verließ das Café. Mit leichtem Herzklopfen, das sie einfach albern fand, überquerte sie die Straße und drückte auf die Klingel. Sie tastete nach ihrem Haarknoten, als sich die Tür schon öffnete. Das Gesicht des Mannes kam ihr vage bekannt vor, sie wusste aber nicht, woher. Weil er nichts sagte, ergriff sie das Wort: »Hallo, ich bin Claire Sammers.«
Der Mann sah mit seiner verblichenen Jeans und dem karierten Hemd wie ein Bauarbeiter aus. Sein Gesichtsausdruck gefiel ihr nicht. Es kam ihr so vor, als sehe er sie abschätzig an, und sie dachte mit Unbehagen an ihr Kostüm, das jetzt plötzlich nicht mehr passte. Angesichts seines legeren Aussehens kam sie sich viel zu gestylt vor.
»Das dachte ich mir schon. Ich bin Ben Hastings«, er trat zur Seite und bat sie mit einer Geste einzutreten.
Er führte sie in ein kleines, völlig überfülltes Büro, in dem sich Berge von Unterlagen befanden. Auch der Schreibtisch war überladen. Auf dem einzigen Stuhl lagen Aktenordner so schief aufeinander, dass sie jeden Moment herunterzufallen drohten. Zwei Wände waren mit riesigen Plänen tapeziert.
Ein zweiter Schreibtisch sah nicht viel besser aus, wirkte aber durch eine kleine goldene Standuhr und eine blühende Topfpflanze feminin.
»Sind Sie gerade erst eingezogen?«, fragte sie, um die Situation etwas aufzulockern.
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte er und nahm die Akten vom Stuhl.
»Nun«, verlegen suchte sie nach Worten.
»Schon gut. Setzen Sie sich.«
Gehorsam nahm Claire Platz, als eine Blondine aus dem Nebenraum auftauchte. Sie sah aus, als sei sie gerade aus dem Bett gekommen. Claire hatte keine Vorurteile, aber das Mädchen war eine so typische Blondine, dass sie sich nur mit Mühe das Lachen verkneifen konnte. Sie kaute Kaugummi und trug ein T-Shirt, unter dem sich ihre prallen, hochgedrückten Brüste abzeichneten. Die Spitze des Büstenhalters guckte neugierig unter dem Ausschnitt hervor. Ihr Rock war superkurz und zeigte kräftige Oberschenkel, die früher oder später mit Cellulitis zu kämpfen haben würden. Ihre Sandalen waren hochhackig und sicher unbequem, die Zehennägel schwarz lackiert. Am dicken Zeh trug sie einen Ring.
Sie warf Claire einen flüchtigen Blick zu und sagte zu Hastings in einem verwaschenen Englisch, sie würde die Ablage gerne auf den nächsten Tag verschieben, sie habe jetzt einen Termin. Aber Hastings schüttelte den Kopf und sagte, er habe keinen Überblick mehr, sie müsse sich schon jetzt darum kümmern.
Sie müsse zum Arzt, beharrte sie. Und es sei dringend. Aber er ließ sich nicht erweichen und sagte nur, sie habe zugesagt, bei ihm mitzuarbeiten und könne nicht jeden Tag früher gehen. Missmutig wollte sie wissen, wie lange sie denn bleiben müsste.
Bis sie fertig sei.
Er ist konsequent, dachte Claire.
Er würde auch länger arbeiten und sie müsse noch ein Schreiben für ihn machen.
Aufgebracht wollte sie wissen, ob das nicht Zeit bis zum nächsten Tag habe.
Claire sah sich um. An den Wandplänen klebten kleine Zettel mit unleserlichen Notizen. Interessiert betrachtete sie den großen Plan. Sie konnte nicht erkennen, was die Linien darstellen sollten. Vielleicht ein riesiges Einkaufszentrum. Ein Computer der neuesten Generation stand auf einem kleinen Tisch und summte gelangweilt. Eine elektrische Rechenmaschine blinkte. Verschiedene Radiergummis zeigten unterschiedliche Abnutzungsgrade. Rote und schwarze Textmarker lagen mit geöffneter Spitze neben einem überfüllten Aschenbecher. Sie werden austrocknen, dachte sie flüchtig.
Die Blondine war etwas lauter geworden und wollte wissen, wann er ihr das Schreiben denn diktieren wolle, und Hastings sagte geduldig, sobald die Besprechung mit der Kundin erledigt sei. Wie lange er denn brauche, wollte das Mädchen wissen und warf Claire einen wütenden Blick zu. Sie solle doch einfach mit der Ablage anfangen, sonst dauere es noch länger, sagte Hastings abschließend. Maulend verzog sie sich.
Claire hatte noch zwei Kartons entdeckt, die vor dem anderen Schreibtisch standen. Einer davon war offen. Zusammengerollte Pläne schauten heraus, weitere Pläne lagen auf dem Boden, so als habe jemand hektisch nach etwas gesucht.
»Genug gesehen?«, fragte er ironisch. Irritiert sah sie ihn an. Wie zum Teufel sprach er denn mit ihr? Sie war doch eine potenzielle Kundin, die Geld in seinen Betrieb bringen würde. Am liebsten wäre sie aufgestanden. Die ganze Situation behagte ihr plötzlich nicht mehr. Aber sie wusste nicht, wo sie so schnell einen anderen Architekten finden sollte und sagte daher nur: »Ich überlege gerade, ob ich von Ihrem Büro auf Ihre Arbeitsweise schließen sollte.«
Dann blickte sie wieder auf den großen Plan. Es konnte auch eine Art Galerie sein mit verschiedenen kleineren Geschäften in unterschiedlichen Geschossen.
»Eine Kirche«, sagte er.
»Was?«
»Das ist eine Kirche.«
»Sie bauen auch Kirchen?«, wunderte sie sich.
»In erster Linie entwerfe ich sie.«
Er schwieg und musterte sie und wieder irritierte sie seine Art, sie anzusehen. Er mochte sie offensichtlich nicht. Sie hatte einmal gehört, dass es so etwas gab. Abneigung auf den ersten Blick.
»Wollen Sie mir nicht erzählen, was Sie zu mir führt?«, insistierte er.
Wieso kam sie sich in seiner Gegenwart nicht wie eine Geschäftsfrau, sondern wie eine dumme kleine Angestellte vor? Die Chemie zwischen ihnen stimmte jedenfalls nicht. Vielleicht sollte sie sich wirklich einen anderen Architekten suchen.
»Es geht um den Sammershof, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie zögernd. Alex hatte ihn immerhin empfohlen, dem musste sie jetzt einfach vertrauen. »Wir planen den Umbau eines Hauses in ein Hotel mit ungefähr acht bis zehn Zimmern.«
»Das sagte mir Alex schon. Ich muss mir natürlich zuerst ein Bild von der Örtlichkeit machen.«
»Ich habe den Lageplan mitgebracht«, sagte sie. »Wenn Sie ihn sich ansehen möchten.«
Sie reichte ihm den Plan. Er warf nur einen kurzen Blick darauf und gab ihn ihr zurück: »Der ist veraltet und hilft mir nicht. Ich schlage vor, dass wir einen Ortstermin machen mit anschließender Besprechung.«
Vielleicht hatte er ja doch viel zu tun. Und in diesem Fall würde der Umbau für ihn nur ein kleiner Auftrag sein. Sie zögerte einen Moment und sagte dann langsam: »Wir planen auch einen Anbau an das Gesindehaus, aber wahrscheinlich erst später.«
»Gesindehaus?«, fragte er mit einem süffisanten Unterton.
Sie ärgerte sich schon wieder.
»Das kleinere Wohnhaus. Im Vertrag wird es ›Gesindehaus‹ genannt. Sie können es sich ja mal ansehen. Wann können Sie denn kommen?«
Er griff nach einem Terminkalender und blätterte darin herum. Sein dichtes Haar zeigte bereits vereinzelte graue Strähnen. Die gebräunte Haut ließ darauf schließen, dass er sich viel im Freien aufhielt.
»Übermorgen Nachmittag. Gegen drei Uhr.«
»Okay«, sie nickte. Ben Hastings klappte den Terminkalender wieder zu.
»Ich habe vor Jahren zwei nebenstehende Häuser in ein Hotel umgebaut. Ich habe Aufnahmen davon, die ich Ihnen mitbringen kann, wenn Sie möchten.«
»Ja, gerne«, sagte sie und war bereit, die Friedenspfeife zu rauchen.
»Dieses Hotel war nach einem Jahr heruntergewirtschaftet«, fuhr er ungerührt fort. »Neben dem Direktor gab es einen Assistenten, einen Maître, vier Kellner und sogar einen Sommelier. Und in der Küche hantierte ein Sternekoch.«
So etwas passierte häufig, das wusste sie nur zu gut. Aber an ein solches Hotel hatte sie auch nicht gedacht. Hastings schien auf eine Reaktion ihrerseits zu warten und musterte sie mit zusammengekniffenen Augen. Und dann fiel es ihr ein. Sie hatte ihn in dem Lokal gesehen, in dem sie mit McConell über das Grundstück gesprochen hatte. Er saß mit einem anderen Mann am Nachbartisch.
»Glauben Sie, dass Sie das Richtige tun?«, fragte er unvermittelt.
»Wie bitte?« Perplex starrte sie ihn an. »Wie meinen Sie das?«
Er runzelte die Stirn.
»Über Sie wird geredet.«
»Über mich?«
»Ja. Und über Ihr Hotelprojekt. Es heißt, Sie wollten hier ein Luxushotel aufmachen. Etwas für vermögende Leute mit allem Drum und Dran. Und in Ihnen sieht man eine eiskalte Geschäftsfrau, die sich einen Teufel um andere kümmert.«
Es verschlug ihr die Sprache.
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, stotterte sie. »Wer sagt denn so etwas von mir? Mich kennt hier doch keiner.«
»Offensichtlich doch. Ihr Ruf scheint Ihnen vorausgeeilt zu sein.«
Ihr Herz klopfte immer noch heftig, als sie den Wagen aufschloss. Der Blick in den Innenspiegel zeigte ihre geröteten Wangen. Und sie hatte einen trockenen Mund. Eine eiskalte Geschäftsfrau, ausgerechnet sie. Wer konnte so etwas gesagt haben? Sie glaubte ihm nicht. Wahrscheinlich hatte er das einfach nur so behauptet, um sie zu kränken. Sollte er doch denken, was er wollte. Vielleicht hatte ihn ihr Kostüm gestört. Eine Geschäftsfrau, das passte wohl nicht in sein Weltbild. Waren die Iren nicht ziemlich konventionell? Hinter der Zeit? Wohl noch nie etwas von Emanzipation gehört!
Sie steckte den Schlüssel in die Zündung. Eiskalte Geschäftsfrau. Einfach lächerlich. Das passte überhaupt nicht zu ihr. Und zu Tim noch viel weniger. Sie atmete tief durch und beruhigte sich wieder. Sie würde Tim nichts davon sagen.
Morgens war das Steinhaus am schönsten. Wenn die Sonne dahinter langsam am Himmel aufstieg und die Schindeln verfärbte, war es, als erwache das Haus aus tiefem Schlaf. Es schien müde die Augen aufzuschlagen und verwirrt um sich zu sehen, als brauche es Orientierung und wisse nicht recht, wo es sich befinde. Aber dann schien es unmerklich zu lächeln und sich zu recken, bereit für den neuen Tag.
Es war wirklich das Haus, das sie immer schon gesucht hatte, ohne bewusst danach Ausschau zu halten. Sie hatte es eher gefunden als gesucht und sofort gewusst, dass sie am Ziel war. Welch ein Glücksfall war es doch, dass alles so gekommen war.
Am nächsten Tag ging Alex mit Scabri ins Gelände, um mit dem Wallach ein paar Sprünge zu nehmen. Als er zurückkam, verließ Claire gerade das Haus. Sie wollte eigentlich in das Steinhaus gehen und die Räume ausmessen. Sie blieb in der Tür stehen und sah zu ihm hin.
Er machte zu Pferd eine wirklich gute Figur. Und mit dem gewölbten Hals und den weiten Nüstern wirkte der Wallach sehr edel. Er hat Rasse, dachte sie. Ob er ein Vollblut war?
»Hallo«, er ritt auf sie zu und sprang mit einem Satz hinunter.
»Wie gehts?«
»Gut. Ich war bei Hastings und habe mit ihm einen Ortstermin vereinbart.«
»Sehr schön.« Alex klopfte kurz den schweißnassen Hals und zog sich die Handschuhe aus.
»Ich habe auch seine Mitarbeiterin gesehen,« fuhr sie fort. »Kennen Sie sie?«
»Ich wusste gar nicht, dass er eine hat. Wie sieht sie denn aus?«
»Nun, jung, blond, blöd und nicht sonderlich arbeitswillig.«
Alex lachte und schüttelte den Kopf. Dann stemmte er die Arme in die Seite und fragte: »Wie wäre es mit zehn Minuten?«
»Wie, zehn Minuten?«, stotterte sie.
»Sie könnten ihn trocken reiten. Na los, steigen Sie schon auf. Ich helfe Ihnen.«
»Was? Ich?«, fragte sie entsetzt.
Das Tier wirkte jetzt nur noch groß und gefährlich.
»Ja, sicher, wir gehen drüben in die Bahn. Ich nehme Sie zehn Minuten an die Longe.«
Longe?
»Nein, lieber nicht«, sagte sie.
»Sie müssen reiten können, wenn Sie Reitsport anbieten wollen«, sagte Alex vernünftig. »Also, mit der linken Schulter ans Pferd treten, die linke Hand greift hier vorne an den Riemen, das ist der Anfängerriemen. Die rechte Hand an den hinteren Rand des Sattels.«
Sie blickte ihn mit offenem Mund an. Er kam einen Schritt auf sie zu.
»Stellen Sie sich einmal vor, einer Ihrer Gäste kommt mit Ihnen ins Gespräch und sagt zum Beispiel, er habe Probleme mit ganzen Paraden und ob Sie ihm einen Tipp geben könnten. Was sagen Sie dann?«
Paraden?
Tim erschien und schlenderte auf sie zu.
»Aber ich muss doch kein Fachmann sein, wenn ich ein Sporthotel führe«, entgegnete sie unsicher.
Alex grinste.
»Ganze Paraden lernen Reiter schon in der ersten Stunde.«
Tim mischte sich ein.
»Das kannst du vergessen«, sagte er. »Ich habe es auch schon versucht.«
»Nein, nein, ich schätze sie als einen Profi ein. Sie weiß, dass ich recht habe. Auf Dauer kommt sie ums Reiten nicht herum.«
Was er sagte, stimmte. Es wäre für ihre Gäste wirklich seltsam, wenn sie mit Pferden nichts zu schaffen hätte.
Claire schluckte. Scabri war riesengroß. Wenn sie herunterfiel, konnte sie sich sonst was brechen. Und reiten lernen wollte sie sowieso nicht. Dazu würde sie in Zukunft auch gar keine Zeit haben. Reichte es denn nicht, wenn sie die Tiere auseinanderhalten konnte? Und wenn sie wusste, wie sie so waren?
»Niemals«, sagte Tim und lachte. »Sie ist total unsportlich.«
Das stimmte einfach nicht. Sie war eine Zeit lang gelaufen und als Kind war sie immer gerne geschwommen. Dass sie im Moment keinen Sport trieb, hatte eben seine Gründe. Zeitmangel und so.
»Sie ist einfach nicht der Typ. Oder kannst du sie dir in verschwitzten Reithosen und schlammverkrusteten Stiefeln vorstellen?«
Das reichte. Was hieß hier, sie sei nicht der Typ? Entschlossen stellte sie sich neben das Pferd, setzte zaghaft ihren Fuß in den Steigbügel, griff mit der rechten Hand an die Sattelkante und stieß sich mit Schwung ab. Mit zu viel Schwung, um ein Haar wäre sie auf der anderen Seite wieder hinuntergefallen. Aber sie blieb oben und rutschte in den Sattel. Der Blick nach vorne, auf den unendlich langen Hals des Tieres, machte sie wieder unsicher. Krampfhaft griff sie nach den Zügeln.
»Alle Achtung«, murmelte Tim.
»So, jetzt die Füße in die Steigbügel.«
Alex hielt ihr die Steigbügel hin, aber sie waren viel zu lang. Er passte sie an und führte sie dann auf den Sandplatz. Dort erklärte er ihr, wie sie die Zügel halten musste, und hakte die Longierleine ein. Als er schnalzte, trat das Pferd sofort los.
»Ganz gerade sitzen und locker bleiben.«
Er korrigierte ihre Beinhaltung und sie versuchte, alles zu beherzigen. Aber sie fand es unmöglich, den Absatz nach unten zu drücken und gleichzeitig schwer sitzen zu bleiben. Die schaukelnde Bewegung des Tieres aber war nicht unangenehm, nach einer Weile spürte sie den Takt der Tritte. Der Hals war immer noch lang und sie fand es lustig, wie er nach rechts und links schwenkte, so als wolle sich das Tier damit ausbalancieren.
»Absätze tief«, sagte Alex wieder und sie versuchte, ihre Beine lang zu machen.
Nach einigen Runden erklärte er ihr, wie sie antraben sollte.
Unsicher sah sie zu ihm hin.
»Kommen Sie, versuchen Sie es einfach mal. Scabri ist brav und er kann nicht weglaufen.«
Vorsichtig, als habe sie Angst, ihm wehzutun, drückte sie mit den Absätzen gegen die Flanken.
»Darüber lacht er nur«, sagte Alex grinsend. Tim nickte bestätigend.
Sie versuchte, stärker zu drücken, und tatsächlich, das Tier setzte sich in Bewegung. Sie rutschte unruhig hin und her und versuchte, sich am Zügel festzuhalten.
»Nicht am Zügel ziehen«, sagte Alex sofort. »Und die Hände tief lassen und ruhig halten.«
Sie versuchte es und konnte allmählich etwas besser sitzen. Aber das bequeme Schaukeln von vorhin war zu einem hämmernden Rhythmus geworden, der sie immer wieder ein wenig aus dem Sattel hob. Dann erklärte Alex ihr, wie man leicht trabte.
»Okay, versuchen Sie es. Abwechselnd aufstehen und wieder hinsetzen.«
Sie kam zuerst nicht hoch und als sie endlich oben war, wurde sie wieder nach unten gezogen und fiel hart zurück in den Sattel.
»Die Beine lang machen und schwer auf dem Gesäß sitzen bleiben«, sagte er sofort. »Und die Hände ruhig, schön vor dem Bauch hertragen.«
Alles gleichzeitig zu machen, ging einfach nicht. Ihre Hände führten ein Eigenleben, ihre Beine schlackerten und ließen sich nicht kontrollieren und ihr Oberkörper wurde hin und her geworfen. Und wie sollte sie schwer auf dem Gesäß sitzen bleiben, wenn sie abwechselnd aufstehen sollte? Sie überlegte, ob sie sich an dem Riemen vorne festhalten sollte. Wie hatte er ihn genannt? Anfängerriemen. Nein, lieber nicht. Vorsichtig zog sie die Beine etwas an, um sich besser halten zu können.
»Beine lang machen«, riefen beide Männer wie aus einem Mund.
Nach zehn Minuten wollte Alex Schluss machen und erklärte ihr, wie sie absteigen sollte. Aber sie blieb sitzen, lächelte hoheitsvoll und sagte: »Wir haben wohl etwas vergessen.«
Alex sah sie überrascht an.
»Vergessen?«
»Ja, die ganzen Paraden.«