10

Diesmal saß sie neben einer jungen Frau, die sich in einen Roman vertieft hatte. Claire versuchte, ihr Alter zu schätzen. Fünfundzwanzig? Oder sogar jünger? Sie wirkte kein bisschen schüchtern und reiste immerhin alleine. Und sie trug teure Sachen, was sie an ihrer Handtasche sah. Eine echte Vuitton, um die sie sie sofort beneidete. Sie liebte Handtaschen und gab auch viel Geld dafür aus. Aber es gab Grenzen. Und Vuitton war eine Grenze.

Das Kostüm der jungen Frau stammte von Chanel. Sehr elegant, für sie aber eine Spur zu streng. Auch ihre Schuhe sahen nicht nach Massenware aus. Sie schien keine Geschäftsfrau zu sein, da sie weder Aktentasche noch eine Wirtschaftszeitung bei sich hatte. Wahrscheinlich war sie von zu Hause aus vermögend oder hatte einen Mann mit Geld geheiratet.

Unvermittelt musste sie an Nina denken, die so ganz anders war. Nina kannte sie nur in Jeans, T-Shirt und Turnschuhen, die sie tatsächlich trug, bis sie auseinanderfielen. Sie hatte sie noch nie in einem Rock oder Kleid gesehen. Und sie besaß auch keine Handtasche, sondern stopfte sich den Autoschlüssel einfach in die Hosentasche. Nina ging auch nie zum Friseur. Sie schnitt sich ihre Haare selbst, ziemlich kurz, etwas fransig, es sah nicht einmal so schlecht aus. Sie schminkte sich auch nie und fand Lippenstifte grässlich.

Einmal hatte sie Nina dezent geschminkt. Die Wirkung war verblüffend. Nina sah völlig anders aus, wie ein professionelles Model und sogar ein klein wenig geheimnisvoll. Aber ihr gefiel es nicht und sie wusch sich sofort alles ab.

Nina war einerseits noch sehr kindlich und konnte vor Freude Luftsprünge machen und begeistert in die Hände klatschen. Aber durch ihr desolates Elternhaus besaß sie auch eine gewisse Reife. Sie sagte einmal, ihre Mutter habe ihr gegenüber versagt und sie wolle niemals so werden wie diese. Dennoch gab sie ihr einen Großteil ihres monatlichen Verdienstes ab. Sie kaufte sich nur selten etwas und sagte oft, dass sie nichts brauche.

Bevor sie und Tim nach Irland gingen, gab es einen großen Streit mit ihrer Mutter. Es ging um Ninas Geld, von dem ihre Mutter mehr haben wollte, obwohl Nina nicht mehr zu Hause wohnte. Tim hatte sich schließlich eingemischt und Nina verteidigt, oder es zumindest versucht. Aber Ninas Mutter wurde hysterisch und nannte Tim einen Zuhälter. Daraufhin gingen beide, und seitdem gab es keinen Kontakt mehr.

Mensch, Nina, dachte sie. Dann kam ihr ein neuer Gedanke. Wie kam sie überhaupt ohne Geld zurecht? Ob Georg sie unterhielt? Oder war sie gar nicht mehr bei ihm? Wieder kroch die Sorge in ihr hoch. Vielleicht sollte sie doch ihre Eltern benachrichtigen. Aber was konnten diese schon tun? Sie würden natürlich sofort Tim die Schuld an allem geben.

Sie versuchte den Gedanken an Nina abzuschütteln, es wollte ihr aber nicht recht gelingen. Oder sollte sie sich an die Polizei wenden? Aber was, wenn alles in Ordnung und Nina mit diesem Georg glücklich war? Wie würde es aussehen, wenn die Polizei vor der Tür stand? Und vor welcher Tür überhaupt? Wie Tim nun wusste, war die Gruppe auf der Durchreise. Wer weiß, wo sie sich zurzeit überhaupt aufhielten. Nein, sie würde noch etwas warten.

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Sie lehnte sich mit dem Kopf an die Kopfstütze, verdrängte den Gedanken an Nina und dachte an ihr neues Leben. Zum ersten Mal würde sie völlig unabhängig sein. Sie konnte alle ihre Vorstellungen verwirklichen und musste niemanden um Erlaubnis fragen. Sie war ihr eigener Chef. Tim war unkompliziert, er würde sich nicht einmischen, sondern sich um seine Pferde kümmern und alles andere ihr überlassen.

Die junge Frau neben ihr schlug das Buch zu und verstaute es in ihrer Handtasche. Claire konnte einen raschen Blick auf den Einband werfen. Ein typisches Frauenbuch mit dem Titel Er, sie und ich.

Sie schloss die Augen. Ihre Stirn war angespannt, was sie erst merkte, als sie versuchte, alle Gesichtsmuskeln zu lockern.

Außer dem Reitsport wollte sie auch ausgiebige Wanderungen durch die Schönheit der Landschaft anbieten. Vielleicht mit einem Wanderführer, den sie stundenweise beschäftigte. Und Tennis sollte auch möglich sein. Eine der kleinen Weiden konnte man leicht in einen einfachen Tennisplatz verwandeln. Es würde sich sicher jemand finden, der sich als Tennislehrer ein wenig nebenbei verdienen wollte.

Sie musste an ihre Eltern denken. Ihr Vater war ein begeisterter Tennisspieler. Tennis war das Einzige, das er ohne ihre Mutter machte, weil diese nicht gerne spielte und sich auch nicht verbesserte. Sie saß meistens auf der Tribüne und sah ihrem Mann zu. Sie trug dabei eine riesige Sonnenbrille und einen Hut und klatschte bei jedem gewonnenen Spiel begeistert in die Hände. Ihr Vater hatte sogar eine Zeit lang bei Turnieren mitgemacht und einige Male gewonnen. Nach einem verstauchten Fuß und einer längeren Pause spielte er zwar weiter, nahm aber nicht mehr an Wettkämpfen teil, was ihre Mutter bedauerte.

Sie musste sie unbedingt anrufen, um ihnen ihre neue Adresse und Telefonnummer zu geben. Für den Fall, dass es sie überhaupt wissen wollten.

Nach der Landung mietete sie sich am Flughafen einen Wagen und fuhr sofort in ihre Wohnung. Ihren eigenen Wagen wollte sie verkaufen. Er stand vorerst noch auf ihrem Stellplatz in der Tiefgarage. Vielleicht konnte sie ihn aber auch mit nach Irland nehmen. Ninas Wagen würde es nicht mehr lange tun.

Es roch muffig, wie sie schon im Flur feststellte. Über den Möbeln lag eine feine Staubschicht und ihre wenigen Pflanzen waren vertrocknet. Claire ging in die Küche und sah in den Kühlschrank. Außer der Butter und einer Tube Tomatenmark war alles schlecht geworden. Vor ihrer Abreise nach Irland hatte sie weder an ihre Pflanzen noch an die Lebensmittel gedacht. Sie hatte nur so schnell wie möglich zu Tim gewollt.

Sie riss die Fenster auf, räumte den Kühlschrank leer und sah ihre Post durch. Nichts Wichtiges, nur Werbung, eine Rechnung und ein Brief von Zoe. Sie steckte ihn in ihre Tasche, um ihn später zu lesen.

Dann öffnete sie den Kleiderschrank und verstaute ihre Sachen in drei großen Koffern. Danach war das Wohnzimmer an der Reihe.

Nach vier Stunden hatte sie alle ihre persönlichen Gegenstände eingepackt. Sie befanden sich nun in Kisten, die der Makler ihr nach Irland schicken würde. Ihre Wohnung wollte sie vorerst möbliert vermieten. Später konnte sie sie immer noch verkaufen.

Den Makler hatte sie vor ihrer Abreise angerufen, er würde sich um alles kümmern. Sie blickte auf die Uhr. Eigentlich sollte er schon da sein. Hoffentlich kam er bald, sie musste noch so vieles erledigen.

Sie stellte sich ans Fenster. Die Aussicht auf den Park war damals ein Grund gewesen, die Wohnung zu erwerben. Im Sommer konnte Claire Leute beobachten, die leicht bekleidet spazieren gingen. Im Winter, wenn Schnee gefallen war, wimmelte es dort von Kindern mit Schlitten, die den eigens angeschütteten Berg hinuntersausten. Aber im letzten Jahr hatte es nur an einem einzigen Tag geschneit und der Schnee war sofort wieder verschwunden.

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Das Telefon schreckte sie aus ihren Gedanken hoch. Es war Zoe, deren Stimme so nah klang, als stünde sie direkt neben ihr. »Hallo, wo steckst du denn bloß?«, fragte sie fröhlich.

»Zoe, meine Güte, du hast Glück, dass du mich hier überhaupt erwischst.«

»Was denn? Bist du etwa bei Viktor eingezogen?«, fragte sie erstaunt. Zoe hatte ihr immer davon abgeraten und gesagt, sie solle bloß nichts übereilen.

»Nein, ich wohne jetzt in Irland und bin nur hier, um meine Wohnung aufzugeben.«

Es klingelte wieder. Diesmal an der Tür.

»Warte mal.«

Sie öffnete. Es war der Makler. Ein Mann in mittleren Jahren, gebräunt, als komme er geradewegs aus dem Urlaub.

»Hallo, kommen Sie herein. Ich bin gleich fertig«, sagte sie und machte eine einladende Handbewegung. Dann sprach sie wieder zu Zoe.

»Ich hätte dich sowieso noch angerufen, jetzt ist es ungünstig. Der Makler ist gerade gekommen.«

Sie sah ihn an, er lächelte professionell.

»Du bist also bei deinem Bruder. Ich denke, du hast Angst vor Pferden«, staunte Zoe.

»Ja, und nein. Lass uns doch heute Abend telefonieren.«

Aber Zoe war nicht zu bremsen.

»Was sagt denn Viktor dazu?«

Sie versuchte ihre Stimme zu dämpfen. Der Makler nickte ihr beschwichtigend zu und trat zum Fenster.

»Ich habe mich von Viktor getrennt. Er hat diesmal überzogen und versucht, mich vor seinen Yuppiefreunden vorzuführen.«

»Meine Güte, wie kann er nur?« Zoe mochte Viktor nicht und ihr ging verblüfft auf, dass niemand in ihrem Bekanntenkreis das tat. »Aber ich habe ja sofort gesagt, dass es nicht gut gehen wird. Die Yuppies sind Lena und ihr Typ. Wie heißt er noch gleich?«

»Max. Er hat wie meistens geschwiegen und nur gelächelt.«

Der Makler fuhr versonnen mit einem Finger über die Fensterbank aus Marmor.

»Ich bin froh, dass du dich getrennt hast.«

»Ich auch. Hoffentlich sehe ich Viktor nie wieder.«

»Wohl kaum, wenn du jetzt nach Irland gehst. Und was ist mit deiner Arbeit? Was sagt denn Clarence dazu?«

»Du meinst Conrad Pessoa? Ist mir völlig gleich, was er dazu sagt.«

Zoe lachte fröhlich. »Du hast völlig recht. Du musst einfach deinen Weg gehen. Das ist übrigens ein Spruch von meinem Herzallerliebsten.«

»Ole? Tatsächlich? Hätte ich ihm gar nicht zugetraut.«

»Da siehst du mal, was ein echter Schaffarmer ist. Aber wieso gehst du so plötzlich zu deinem Bruder?«

»Tim hat angerufen, er braucht mich.«

Der Makler warf ihr einen raschen Blick zu und lächelte sofort wieder. Ihr ging auf, dass sich ihre Hälfte des Gesprächs für ihn sicher merkwürdig anhören musste. Was mochte er bloß denken?

»Ich musste natürlich sofort zu ihm. Ich hoffe aber auch, dass ich dort etwas zur Ruhe komme.«

»Was wirst du denn in Irland tun?«

Die Anwesenheit des Maklers war ihr plötzlich unangenehm und sie sagte: »Ich baue ein Hotel. Zoe, ich bin etwas in Eile. Lass uns heute Abend telefonieren.«

»Okay«, willigte Zoe nun ein.

Sie legte auf und wandte sich dem Makler zu.

»Tut mir leid, dass ich Sie warten ließ.«

»Nicht schlimm«, winkte er ab.

Sie zeigte ihm die Wohnung, die ihm gefiel. Er hatte schon Interessenten. Zwei junge Männer aus den Staaten, die ein Jahr bleiben wollten.

»Sie werden begeistert sein«, sagte er zufrieden.

Dann sprachen sie den Vertrag durch, und als sie endlich fertig waren, gab sie ihm die Schlüssel.

»Und Sie gehen also nach Irland?«, fragte er interessiert.

»Ja«, bestätigte sie.

»Irland ist sehr schön«, begann er. »Ich war schon einige Male dort. Wunderschöne Landschaft, freundliche Leute.«

Er nickte zu seinen Worten.

»Dort können Sie wirklich einmal ausspannen.«

Dann trat er einen Schritt auf sie zu und senkte zu ihrem Erstaunen die Stimme.

»Sie sind natürlich noch jung, aber lassen Sie sich von einem Mann mit Erfahrung sagen, dass es manchmal besser ist, nicht alles bis ins Letzte auszuloten. Sie sind ziemlich blass. Vielleicht sollten Sie einfach mal versuchen, sich anderen Dingen zu widmen. Lesen, Musik hören, sich auf sich selbst besinnen und so was.«

Sie starrte ihn entgeistert an.

»Egal, ob es ein Max, Viktor, Conrad oder Ole ist. Es ist im Grunde doch immer das Gleiche. Versuchen Sie, sich von Ihrem Tim nicht gleich so vereinnahmen zu lassen. Denken Sie an sich.«

»Tim ist mein Bruder«, sagte sie irritiert.

»Ja, ja«, der Makler lächelte. »Ich glaube, Sie verstehen mich.«

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Dann fuhr sie ins Büro. Sie war ein wenig nervös, obwohl es dazu keinen Anlass gab. Im Gegenteil. Sie würde nie wieder dorthin gehen müssen. Jetzt erst wurde Claire bewusst, wie ungern sie in letzter Zeit zur Arbeit gefahren war. Sie parkte auf dem Parkplatz zwischen Patricias Golf und Pessoas Sportwagen.

Der Golf war für Patricia ein Muss gewesen. Zwei Tage nach ihrer Anstellung fuhr sie damit vor, stolz, als habe sie eine Riesenleistung vollbracht.

Jetzt öffnete sie bei ihrem Eintritt erstaunt den Mund und fragte verblüfft: »Was machen Sie denn hier?«

Claire gab ihr hierauf keine Antwort und sagte nur: »Ich muss mit Herrn Pessoa sprechen. Ist er in seinem Büro?«

»Ja, aber ich weiß nicht, ob er Zeit hat«, sagte sie mit verkniffenem Gesicht, griff dann aber zum Telefon und fragte nach. Befriedigt legte sie den Hörer wieder auf und sagte: »Er ist immer noch in einer Besprechung, da werden Sie wohl warten müssen. Wenn Sie möchten, können Sie sich ja einen Kaffee holen«, fügte sie boshaft hinzu.

Claire verzichtete und setzte sich auf einen der Besucherstühle. Sie blätterte in einem der Magazine und beobachtete heimlich Patricia, die lustlos an einem Rundbrief arbeitete. Sie tippte, korrigierte, tippte weiter und blätterte dann in ihrem privaten Terminkalender. Dann blickte sie wieder auf den Bildschirm, auf die handgeschriebenen Notizen Pessoas, der keine Diktiergeräte mochte, und tippte wieder, bevor sie aufhörte und ihre Nägel betrachtete.

Claire wartete eine halbe Stunde und war sich sicher, dass Pessoa das absichtlich machte. Außerdem waren keine Stimmen aus dem Büro zu hören. Nach weiteren zehn Minuten stand sie auf und sagte: »Bitte fragen Sie noch einmal nach. Ich habe ein wenig Eile.«

Patricia dachte nicht daran.

»Sie werden sich noch etwas gedulden müssen«, sagte sie, ohne aufzusehen. Claire reichte es. Sie ging auf die Tür zu, klopfte und trat ein. Pessoa saß an seinem leeren Schreibtisch vor dem flackernden Bildschirm. Er war alleine.

»Was fällt Ihnen ein?«, schnappte er.

»Sie ist einfach an mir vorbeigelaufen«, sagte Patricia atemlos.

Wie im Film, dachte Claire flüchtig.

»Ich muss Sie sprechen«, sagte sie. »Es dauert auch nicht allzu lange.«

Patricia stand immer noch neben ihr.

»Okay, Patricia, Sie werden im Moment nicht gebraucht.«

Patricia starrte ihn an und schien etwas entgegnen zu wollen. Aber dann ging sie wortlos und zog die Tür hinter sich zu. Oha, das Verhältnis schien sich etwas abgekühlt zu haben.

»Also, was ist los?«

Wieder der spöttische Ton. Er bot ihr noch nicht einmal einen Stuhl an.

»Ich möchte kündigen. Fristlos, wenn es geht.«

Sie wartete.

»Okay«, er lehnte sich zurück. »Ich lasse Ihre Papiere fertig machen und schicke sie Ihnen zu.«

Natürlich fragte er nicht, wieso.

»Hier«, sie reichte ihm einen Zettel. »Das ist meine neue Anschrift.«

»Gut«, er legte den Zettel vor sich und sah sie fragend an. »War es das?«

Einen winzigen Moment verspürte sie Ärger, der aber gleich wieder verflog.

»Ja, das war alles. Wünschen Sie eine Übergabe oder gibt es noch etwas, was Sie zu meinem Aufgabengebiet wissen möchten?«

Er schwieg einen Moment und fragte dann unvermittelt: »Wieso dachten Sie, ich hätte keine Erfahrung? Sie kannten mich doch nicht einmal.«

Sie war perplex.

»Ich bin nicht direkt von der Uni gekommen, sondern habe ein Jahr in einem amerikanischen Unternehmen gearbeitet und verschiedene Abteilungen neu organisiert.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte.

»Ich war kein Frischling, der noch grün hinter den Ohren ist. Ich fand es unverschämt, dass Sie sich überhaupt ein Urteil erlaubten.«

Vielleicht hatte er recht.

»Aber so ist das wohl, wenn man in den Chef verknallt ist,« warf er spöttisch hin.

Jetzt wurde sie wütend. Sie hatte Dick Rogers einfach nur als Menschen geschätzt, mehr nicht.

»Vielleicht sollten Sie das in Zukunft beherzigen.«

Ihr kam ein Gedanke und sie lächelte.

»Danke für den Tipp. Den Rat möchte ich an Sie zurückgeben. Damit es Patricia eines Tages nicht genauso ergeht.«

Und damit verließ sie ihn.

Sie ging noch in ihr Büro, fuhr ihren Rechner hoch, löschte alle ihre Dateien und auch die Sicherheitskopien. Dann warf sie einen letzten Blick in den Raum und ging. Patricia saß nicht an ihrem Platz, aber sie hörte laute Stimmen aus Pessoas Büro.

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Sie parkte auf dem Parkplatz der Bankangestellten, wie sie es immer getan hatte und sagte sich, dass auch dies das letzte Mal war. Die Bank war in einem surrealistisch anmutenden Glasbau untergebracht. Alles sah gleich aus, den Angestellten war sogar verboten worden, Pflanzen an die Fenster der Büros zu stellen, weil die Geschäftsleitung den einheitlichen Eindruck nicht stören wollte. Wie albern. Und wie hässlich dieser Bau war, verglichen mit ihrem Steinhaus.

Sie hoffte, dass sie Viktor nicht sehen musste. Für ihre Konten war er Gott sei Dank nicht zuständig. Am Empfang saß eine ältere Frau, die sie nicht kannte. Sie musste einen Moment warten und setzte sich in einen der tiefen Sessel, die die Bank Besuchern bot. Von hier aus konnte sie Viktors Bürotür sehen. Sie stand offen, also war er außer Haus. Wenn er da war, war seine Tür immer geschlossen.

Aber dann sah sie ihn hinter einem der Schalter. Er sprach gerade mit einer blonden Mitarbeiterin im schwarzen Hosenanzug. Auch sie musste neu sein. Sie kannte sie jedenfalls nicht. Wenn Viktor zurück in sein Büro ging, würde er sie unweigerlich sehen. Rasch stand sie auf und ging zur Toilette, ließ die Tür aber angelehnt und beobachtete den Flur.

Viktor und die neue Mitarbeiterin nahten. Er blieb auf dem Flur stehen und befestigte einige Notizen am schwarzen Brett, die Neue steuerte die Damentoilette an. Mist.

Sie stellte sich schnell vor den Spiegel, zog einen Lippenstift aus der Tasche und trug ihn auf.

Die Angestellte ging in eine der Kabinen und Claire schlich sich wieder an die Tür. Viktor stand immer noch vor dem schwarzen Brett, neben ihm eine ältere Frau, seine Stellvertreterin.

Die Wasserspülung ging. Sie eilte wieder vor den Spiegel, den Lippenstift noch in der Hand.

Der Hosenanzug erschien hinter ihr. Claire lächelte ihr zu und horchte mit einem Ohr nach Viktors Stimme. Er sprach immer noch.

Wieder trug sie den Lippenstift auf, während die Angestellte darauf wartete, dass sie fertig wurde. Claire ärgerte sich, sie konnte jetzt unmöglich rausgehen. Sie drehte sich um, lächelte und sagte: »Finden Sie die Farbe zu knallig?«

»Ja«, sagte der Hosenanzug kurz. »Brauchen Sie noch lange?«

Viktors Stimme war verstummt.

»Nein, ich bin fertig«, sagte sie und verließ die Toilette. Sie ging wieder an ihren Platz und versteckte sich hinter einer Zeitschrift. Kurz darauf trat ein junger Mann auf sie zu. Auch ein Neuer. Er trug den obligatorischen dunklen Anzug und ein blütenweißes Hemd, aber sein akutes Akneproblem konterkarierte den Eindruck des erfahrenen Bankers. Er stellte sich vor, sagte, ihr früherer Sachbearbeiter sei in Pension gegangen und er sei daher nun für sie zuständig. Dann führte er sie in sein Büro und sie atmete erleichtert auf. Er wusste nicht, dass sie und Viktor sich kannten. Gut so.

Als sie ihm sagte, sie wolle ihre Konten auflösen, sagte er sofort, darüber müsse er den Filialleiter informieren. »Er will bei allen Kündigungen mit dem Kunden persönlich sprechen«, erklärte er und wollte schon aufstehen.

»Nein«, sagte sie hastig. »Das ist unnötig. Ich ziehe nach Irland, das ist der Grund für die Kündigung. Ihrem Chef geht es doch sicher darum, die Kündigung abzuwehren. Aber in meinem Fall geht es nicht anders. Außerdem fühle ich mich wohl bei dem Gedanken, dass Sie sich um meine Konten kümmern. Ich finde

Sie wirklich sympathisch.«

»Das freut mich«, sagte er geschmeichelt.

Er konnte einem schon leid tun, der arme Kerl, dachte sie. Es war sicher nicht einfach für ihn. Wahrscheinlich wurde er wegen seiner Akne oft gehänselt.

Sie nannte ihm ihre Kontonummer und er sah auf den Bildschirm. Dann pfiff er einmal, räusperte sich aber schnell.

»Schönes Stück Geld«, sagte er anerkennend. »Sie haben einen Aktienfond und zwei Tagesgeldkonten.«

»Ja«, sagte sie und wurde zunehmend nervös, als sie Viktors Stimme wieder auf dem Flur hörte.

»Den Aktienfond würde ich auf gar keinen Fall verkaufen«, sagte er nun. »Der Kurs ist zwar im Moment sehr hoch, aber er wird noch weiter steigen. Wollen Sie nicht noch etwas warten?«

»Nein«, sie schüttelte den Kopf.

»Und wo soll es hingehen?«

»Auf ein Girokonto, abrufbar«, sagte sie. Er begann einiges auszudrucken und legte ihr dann die Formulare vor.

»Wirklich schade, dass Sie nicht länger warten können mit dem Fond. Ihnen geht dadurch wahrscheinlich ein schönes Stück Geld verloren.«

Bevor sie etwas sagen konnte, öffnete sich die Tür und Viktor sah sie verwundert an.

»Was machst du denn hier?«, fragte er.

»Ich löse meine Konten auf«, sagte sie verärgert. Wieso bekam er immer alles mit?

»Wir sprachen gerade von ihrem Aktienfond und ich wies sie darauf hin, dass der Kurs noch weiter steigen werde. Aber sie will jetzt verkaufen«, mischte sich Pickelgesicht ein.

»Lass uns einen Moment alleine«, sagte Viktor und Pickelgesicht stand anstandslos auf und verließ das Büro.

»Was soll das? Du kannst doch nicht so töricht sein, tatsächlich alles aufgeben zu wollen.«

Töricht. Seltsame Wortwahl, sogar für Viktor, der sich gerne gewählt ausdrückte.

»Doch, ich habe mich dazu entschlossen, wobei dich das aber nichts mehr angeht.«

»Claire«, seine Stimme wurde sanft.

»Lass uns doch in Ruhe reden. Wenn du noch nicht heiraten willst, dann ist das okay. Dann warten wir eben. Obwohl ich es einfach vernünftiger finde, wenn man seine Kinder früh bekommt. Ich dachte …«

Sie unterbrach ihn: »Ich will keine Kinder und von dir erst recht nicht. Wir haben uns getrennt. Vielleicht hörst du endlich auf, dich in meine Angelegenheiten einzumischen.«

Er wich zurück. »Du willst also wirklich rübergehen und ein Hotel führen.« Das Wort Hotel sprach er so abfällig aus, als rede er von einem Bordell.

»Ja, das will ich«, sagte sie ruhig.

Viktors Hände waren plötzlich zu Fäusten geballt.

»Du wirst scheitern«, er sah sie verächtlich an. »Du wirst in spätestens drei Monaten wieder hier sein. Du bist nicht in der Lage, ein Hotel zu führen und Verantwortung zu übernehmen. Du wirst alles verlieren. Komm dann aber bloß nicht zu mir.«

Aber genau das wollte er. Dass sie zu ihm zurückkehrte. Zu Kreuze kroch.

»Ich möchte den Aktienfond verkaufen«, sagte sie, ohne auf seine Worte einzugehen. »Der Betrag soll meinem Girokonto gutgeschrieben werden. Und ich habe es ein wenig eilig, weil ich heute noch zurück muss.«

Er wurde weiß vor Wut und für einen Moment bekam sie Angst.

»Wie du willst«, sagte er mühsam beherrscht. »Mein Kollege wird das Ganze für dich abwickeln.«

Er drehte sich um und ging, und sofort tauchte der junge Mann wieder auf, ihr einen neugierigen Blick zuwerfend. Er setzte sich wieder hin, erledigte alles und sagte kein einziges Wort. Aber er beobachtete sie aus den Augenwinkeln, was sie zunehmend nervte. Da hatte sie ihm ja einen feinen Gesprächsstoff geliefert. Das würde er sicher sofort seiner Freundin erzählen. Wenn er eine hatte. Oder seinem Freund, wenn er schwul war. Oder seiner Mutter, wenn er noch zu Hause wohnte. Und er würde sicher Viktor eine ganze Zeit lang fragend ansehen. Aber Viktor würde ihm natürlich nichts anvertrauen. Er war ja so diskret. Es sei denn, er inszenierte eine Verlobung vor Freunden.

Sie atmete tief durch. Auch seine Freunde Max und Lena musste sie nicht mehr sehen. Ob er mit ihnen über sie sprach? Er würde sie sicher davon in Kenntnis setzen, dass sie sich getrennt hatten. Und Lena würde sofort ihren Bekanntenkreis durchforsten auf der Suche nach einer passenden Frau für ihn.

Als sie die Bank verließ, sah sie Viktor nicht mehr. Erleichtert stieg sie in ihren Wagen und blieb einen Moment sitzen. Jetzt hatte sie alle Brücken endgültig hinter sich abgebrochen. Etwas Neues würde beginnen.

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Im Flugzeug fiel alles von ihr ab. Diesmal war der Platz neben ihr leer. Sie lehnte sich zurück und bestellte sich einen Drink. Den hatte sie sich jetzt verdient. Sie war müde und aufgekratzt gleichzeitig und freute sich auf Tim.

In ihrer Nähe saß ein Paar, das sich leise stritt. Obwohl der Mann mit seinem rötlichen Haar ganz anders aussah als Viktor, erinnerte er sie sehr an ihn. Vielleicht war es seine Art, einfach weiterzureden, wenn seine Frau etwas sagen wollte. Das konnte Viktor auch gut. Ohne laut zu werden, ohne dem anderen Gelegenheit für eine Antwort zu geben. Vielleicht war es aber auch der Ausdruck in seinem Gesicht, der sie an Viktor erinnerte. Als ob er einem Halbirren etwas furchtbar Einfaches erklären müsse. Ein richtiger Besserwisser. Sie konnte erkennen, dass die Frau anderer Meinung war, aber er ließ sie einfach nicht zu Wort kommen. Sie wird ihn sicher bald verlassen, dachte sie zufrieden.

Sie nippte an ihrem Drink und spürte wohlig die Wärme in ihrem Magen. Wie froh würde Tim sein, dass sie es wirklich durchgezogen hatte. Wieso war sie nicht schon früher auf die Idee gekommen, etwas mit ihm zusammen zu unternehmen, fragte sie sich. Sie kamen gut miteinander aus und stritten sich nie. Nicht einmal, als sie kleiner waren. Tim ließ alles mit sich machen, wehrte sich nie und erweckte in ihr einen Beschützerinstinkt. Sie hatte in ihm immer den kleinen Bruder gesehen. Sie waren wirklich die perfekte Ergänzung.

Dann sprach der Kapitän. Zu seiner Stimme wurde auf dem Bildschirm sein Porträt gezeigt. Er sprach nur kurz mit leicht arroganter Stimme, so als wolle er sich nicht allzu lange mit den Fluggästen abgeben. Schließlich hatte er Wichtigeres zu tun. Auch bei Viktor war oft Arroganz durchgeschimmert, eine Selbstgefälligkeit, die sie immer wütend gemacht hatte. Deshalb wollte er auch nicht, dass sie eine andere Arbeit annahm. Es hätte ja sein können, dass sie Karriere machte. Richtige Karriere mit Auslandsaufenthalten, eigener Sekretärin und einem satten Jahresgehalt. Damit wäre er nie zurechtgekommen. Dass sie vielleicht sogar mehr verdiente als er.

Die Abwicklung durch den Zoll zog sich hin. Der Zollbeamte beäugte sie misstrauisch und verlangte dann, dass sie ihren kleinen Koffer öffnete. Aber sie hatte die Zahlenkombination vergessen und sagte ihm das auch. Er holte sofort einen Kollegen und die Leute hinter ihr fingen an zu murren.

Was zum Teufel denkt er denn, was ich im Koffer habe, fragte sie sich erbost. Sie sah den Beamten mit einem anderen Mann sprechen, dann beugten sich beide nach vorne und blickten auf den Bildschirm. Der Zollbeamte hatte die Arme vor der Brust verschränkt und sie musste an einen Streit mit Viktor denken. Sie wusste nicht mehr, worum es ging, aber Viktor hatte damals ebenso vor ihr gestanden, sie schweigend fixiert und auf eine Entschuldigung gewartet. Sie wusste noch, dass sie sich entschuldigt und hinterher über sich selbst geärgert hatte. Ihr war durch den Kopf gegangen, dass Frauen nun einmal diplomatisch waren und oft nachgaben. Um des lieben Friedens willen. Aber war das überhaupt richtig? Warum mussten immer die Frauen nachgeben?

»Ja, was denn jetzt?«, die Stimme ertönte hinter ihr. Ein älterer Mann sah sie genervt an. »Worauf warten Sie denn noch?«

Jetzt erst sah sie, dass der Zollbeamte sie anstarrte. Es ging weiter. Sie straffte sich und ging los, hörte aber noch den Mann hinter sich sagen: »Junge Frauen machen doch nur Schwierigkeiten und stehlen einem die Zeit.«

Das hätte auch Viktor sagen können. Er konnte es auf den Tod nicht ausstehen, wenn er warten musste. Er wurde immer sofort ungeduldig, wenn er nicht sofort bedient wurde, und schien zu glauben, er habe vor allen anderen Vorrang. Das hatte sie ihm auch einmal gesagt und er hatte es bestritten, zum Schluss aber zugegeben, dass er seine Zeit als kostbar ansah. Schließlich wisse man nicht, wie viel Zeit einem gegeben sei, was sie für eine alberne Begründung hielt. So wie viele seiner Begründungen.

Sie verscheuchte den Gedanken an ihn und atmete tief durch.

Sie hatte alles erledigt und brauchte sich nun um nichts mehr zu kümmern. Wundervolle Zeiten lagen vor ihr.

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Wieder holte Tim sie ab. Aber diesmal war er nicht bedrückt, wie beim letzten Mal, sondern voller Energie. Sie umarmten sich, er fragte, ob alles okay sei, und brachte sie dann zum Auto.

»Hast du Viktor auch getroffen?«, fragte er vorsichtig.

»Ja. Ich glaube, er hat begriffen, dass es vorbei ist.«

»Und du leidest nicht darunter?«, fragte er vorsichtig.

»Nein«, sagte sie ruhig. »Es war die richtige Entscheidung und sie war zudem überfällig. Es wäre irgendwann sowieso zur Trennung gekommen.«

Tim nickte zufrieden.

Sie dachte über ihre Worte nach. Sie war sich sicher, dass es so gekommen wäre. Aber wahrscheinlich hätte es noch einige Zeit gedauert, bis sie erkannt hätte, dass sie nicht zueinanderpassten. Manches brauchte eben seine Zeit.

Sie lehnte sich entspannt zurück und nahm sich vor, Irland so gut wie möglich kennenzulernen. Sie wollte mehr über die Geschichte des Landes wissen. Über die große Hungernot zum Beispiel oder die Abhängigkeit vom britischen Nachbarn. Und dann die mythische Schönheit Irlands, die so viele Besucher ins Land zog. Es gab so viel zu entdecken.

Irland war jetzt ihr Zuhause.