21

Ihre Eltern warteten immer noch auf einen Anruf und ihre Mutter wurde sichtlich nervös, überspielte das aber, indem sie alles abwertete. So war es auch früher immer gewesen, dachte Claire mit leichter Verbitterung. Wenn ihre Mutter gestresst war, nörgelte sie an ihren Kindern herum und machte abschätzige Bemerkungen. Über Tim, der es nie zum richtigen Turnierreiter bringen würde, oder über Claire, die mit ihrer schnippischen Art alle Männer vergraulte und sicher alleine bleiben und als alte Jungfer sterben würde.

Am Morgen waren sie mit Tim und Nina in den Stallungen gewesen und meinten, es wären aber keine besonders edlen Tiere und warum Tim sich keine Vollblüter geholt habe. Daraufhin kamen ihre Eltern auf die Idee, sich ein Pferderennen anzusehen, das in der Nähe stattfand. Da sie den Mietwagen abgegeben hatten, nahmen sie Ninas kleinen Wagen, natürlich ohne sie zu fragen. Sie rümpften die Nase über das ungepflegte Auto, fragten Claire, warum sie sich noch kein Auto zugelegt habe, und fuhren, ohne ihre Antwort abzuwarten, los. Als sie nach vier Stunden zurückkehrten, sah Claire dem Gesicht ihrer Mutter an, dass die Gräfin immer noch nicht angerufen hatte.

Jetzt saßen die beiden in die Küche, die zwar aufgeräumt und sauber aber, aber für ihre eleganten Eltern, ihre Mutter wieder im Kostüm, ihr Vater in einem sportlichen Anzug, einen absurden Hintergrund bot.

Ihr Vater sagte, während er mit abgespreiztem kleinem Finger in seinem Tee rührte, sie könne ihren Gästen doch den Besuch eines Pferderennens anbieten, als Touristenattraktion.

»Die Leute mögen so etwas.«

Claire zuckte nur mit den Schultern.

Dann machte er den Vorschlag, das Hotel als Kongresshotel zu gestalten.

»Stell dir das doch vor, ein Ärztekongress zum Beispiel. Das wären doch einmal wirklich interessante Gäste.

»Ärzte sind nicht interessanter als andere Leute auch«, sagte Claire mit zunehmender Erschöpfung. »Außerdem ist es dafür viel zu klein.«

Als Nächstes schlug ihre Mutter vor, aus dem Hotel eine Schönheitsfarm zu machen.

»Du glaubst nicht, wie gut eine Ganzkörpermassage oder eine Lichttherapie tut«, schwärmte sie. »Ich mache das mindestens einmal im Jahr und es verjüngt tatsächlich. Einfach fulminant, wie man sich anschließend fühlt.«

Claire gab ihr keine Antwort. Sie konnte sich nicht vorstellen, ein Hotel zu leiten, in dem Leute mit Packungen auf dem Gesicht auf Liegestühlen herumlagen und auf Zellerneuerung warteten.

»Du solltest überhaupt den Schwerpunkt auf Fitness und Wellness legen«, plapperte ihr Mutter weiter. »Dazu brauchst du nur einen Raum mit Geräten, an denen die Leute trainieren können. Ich gehe regelmäßig aufs Laufband und lasse dazu schöne Musik laufen.«

Claire fand es albern, auf einem Laufband zu laufen, während draußen federnder Waldboden wartete. Und Arbeit an Geräten fand sie langweilig, hatte es aber auch noch nie versucht.

»Warum hast du eigentlich keine Bar vorgesehen?«, wollte ihre Mutter nun wissen. »Eine Bar ist doch das Schönste in einem Hotel. Dein Vater und ich lieben es, abends an der Bar noch etwas zu trinken und mit dem Barkeeper zu plaudern. Und ihr habt auch keinen Internetanschluss in den Räumen, wie Tim mir sagte.«

»Wir brauchen keine Bar«, sagte Claire, um Ruhe bemüht. »Und ich hoffe, dass meine Gäste nicht den ganzen Tag vor einem Bildschirm hocken wollen. Außerdem habe ich in der Loggia einen Anschluss, den jeder nutzen kann.«

Das war Bens Idee gewesen.

»Ist die Rezeption denn vierundzwanzig Stunden besetzt?«, fragte sie nun und Claire dachte, dass ihre Mutter wirklich penetrant sein konnte. Auch so etwas, was sie früher immer geärgert hatte. Wie sie auf Themen herumreiten konnte, über die man nicht reden wollte.

»Also das schönste Hotel«, begann ihre Mutter, »ist für mich das Ritz in Paris. Kennst du es? Oder das Claridges in London?«

Claire schüttelte den Kopf, sagte aber: »Ich war noch nie dort, kenne es aber ein wenig durch Geschäftspartner.«

»Die Gräfin schwärmt übrigens für das Steigenberger in Berlin. Aber ich war nicht so sehr davon angetan, als wir einmal für eine Nacht dort wohnten.«

»Genau«, stimmte ihr Mann sofort zu: »Kalte Atmosphäre und schlechte Bedienung.«

Claire konnte sich das nicht vorstellen, sagte aber nichts. Offensichtlich wollten ihre Eltern ihr alle Hotels aufzählen, die sie schon einmal besucht hatten. Natürlich um ihr zu bedeuten, wie wenig ihr Hotel damit konkurrieren konnte.

»Dann schon lieber das Kempinski«, ergänzte ihre Mutter. »Aber für unseren nächsten Aufenthalt in Deutschland haben wir das Rocco in Berlin ins Auge gefasst. Wusstest du, dass es erst kürzlich Mitglied bei den Leading Hotels of the World geworden ist?«

Sie wartete ihre Antwort nicht ab, sondern überlegte laut, ob sie nicht für einige Zeit bei ihrer Tochter bleiben sollten, um ihr bei der Leitung des Hotels zu helfen. Und Claire überlegte, wieso es ihrer Mutter so völlig gleich war, ob sie antwortete oder nicht. Sie wusste nur eines, sie würde sie auf keinen Fall auch nur in die Nähe ihres Hotels lassen.

Abends kündigte Zoe telefonisch ihren Besuch an. Claire freute sich und erzählte von ihren Eltern, die bei ihnen waren und auf das Telefonat einer Gräfin warteten, die einen Prozess führte.

»Einen Prozess?«, fragte Zoe.

»Ja, es geht um ein Buchprojekt. Sie hat wohl Ärger mit ihrer Nichte. Mehr weiß ich nicht.«

Zoe lachte laut auf und fragte: »Doch nicht etwa die Gräfin von Werthe?«

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Am nächsten Morgen rief die Gräfin tatsächlich an und bat ihre Freunde, ihr beizustehen. Sie sollten mit ihr zusammen auf dem Landsitz des Cousins bleiben, bis alles geregelt sei. Der Cousin habe ausdrücklich betont, sie könne ihre Freunde einladen.

Claire brachte ihre Eltern zum Hafen. Ihre Mutter redete nahezu ununterbrochen. So erfuhr Claire noch, dass es sich bei dem Buchprojekt um eine Familienbiografie handelte, die die Gräfin schreiben sollte. Das hätte ihr für einige Zeit ein festes Einkommen gesichert und danach hätte man weitergesehen. Aber nach Ablieferung einer ersten Textprobe weigerte sich die Nichte, weiter zu zahlen, sodass die Gräfin plötzlich ohne Geld dastand.

Claire dachte, dass die Nichte sicher ihre Gründe gehabt haben musste. Ihre Mutter sah das anders und nannte die Nichte eine raffgierige Schlange.

Sie merkte ihrer Mutter an, dass sie stolz auf die Bekanntschaft mit der Gräfin war. Sie fühlte sich geschmeichelt, dass diese ihr so vieles anvertraute. Liebes, das sagte wahrscheinlich auch die Gräfin immer.

Im Auto kam ihre Mutter noch einmal auf Viktor zu sprechen.

»Aber Liebes«, schon wieder. »Warum willst du ihn denn nicht? So ein gut aussehender Mann. Was hast du denn gegen ihn?«

»Er ist nicht der Richtige«, sagte sie kurz angebunden. Ihre Mutter wollte hierauf etwas entgegnen, überlegte es sich aber und zuckte nur mit den Schultern.

Beim Abschied sagte sie, es sei schön, nun in Irland eine Anlaufstelle zu haben, und sie wolle die Gräfin bei Gelegenheit einmal mitbringen. Für ein paar Tage.

Claire und Alex saßen in der Küche vor aufgeschlagenen Büchern. Aber Claire konnte sich nicht konzentrieren, ihre Gedanken schweiften ständig ab. Nach einer Stunde hatte sie Kopfschmerzen. Alex schlug das Buch zu und lehnte sich zurück.

»Wie weit seid ihr im Hotel?«, fragte er.

»Wir sind fertig, bis auf einige wenige Kleinigkeiten. Die Fliesen in den Badezimmern müssen noch verfugt werden und einige Türen fehlen noch. Außerdem warte ich auf die Clubsessel und die EDV-Anlage.«

Krampfhaft überlegte sie, wie sie auf Ben zu sprechen kommen konnte, aber Alex begann von sich aus zu reden. Er erzählte, Ben sei verreist.

»Er ist in Deutschland, ich weiß nicht, warum. Er sagte mir nur, er würde fliegen. Er war ziemlich wortkarg bei unserem letzten Telefonat. Vielleicht hat er sich über Marisa geärgert.«

Marisa. Die Exfrau.

»Sieht er sie öfter?«, fragte sie betont gleichmütig.

»Manchmal längere Zeit nicht, dann wieder oft. Manche Sachen müssen sie zusammen erledigen, wie die Steuererklärung und so was.«

Aber das war nur einmal im Jahr, überlegte sie.

»Wie sieht sie aus?«, fragte sie harmlos.

»Marisa? Normal. Dunkle Haare, rundes Gesicht mit Stupsnase. Vollschlank und nicht allzu groß. Darüber beklagt sie sich oft. Warum fragst du?«

Also doch kein ätherisches Wesen.

»Ach, nur so«, winkte sie ab.

»Für Ben ist sie offenbar die Traumfrau. Er hat eine Bindung zu ihr, die er nicht aufgeben kann. Selbst wenn er sich mit einer anderen Frau zusammentut, wird diese Frau Marisa als Teil seines Lebens akzeptieren müssen.«

Was sollte das denn?

»Nun, aber wenn er sich richtig verliebt? Ich meine, so ganz richtig.«

Alex zuckte mit den Schultern.

»Ich bin mir bei Ben nicht sicher. Er hat dieses ganze Hin und Her akzeptiert. Jahrelang. Das wäre mir im Traum nicht eingefallen.«

»Das mag ja sein. Aber dennoch«, beharrte sie. »Wenn es ihm richtig ernst ist und er zum Beispiel wieder heiraten wollte. Das ist doch eine wichtige Entscheidung. Eine gegen Marisa.«

Alex schüttelte den Kopf.

»Ich weiß es natürlich nicht. Aber aus der Erfahrung heraus denke ich, er wird nichts tun, was Marisa vor den Kopf stoßen könnte. Außerdem würde sie es nicht zulassen. Ich habe mich gefragt, warum sie mit ihm verreist. Aber die Frage ist albern. Sie hat ihn immer noch in ihren Klauen.«

Ihr Mund war schlagartig trocken.

»Er ist mit ihr nach Deutschland geflogen?«, fragte sie tonlos.

»Ja, wie gesagt, ich weiß nicht, warum. Vielleicht muss sie nur wieder ihre Machtspielchen mit ihm spielen. Vielleicht wollen sie aber auch einen Neuanfang starten. Keine Ahnung.«

Sie waren also zusammen fort. Ben und Marisa. Wie gut, dass sie Ben nicht in seinem Büro angetroffen hatte. Welch ein Glück, dass sie nicht mit ihm reden konnte. Sie schloss einen Moment die Augen.

»Es ist so, wie es immer war. Eine andere Frau wird nie eine Chance haben. Außerdem könnte er sowieso nicht heiraten.«

Sie starrte auf ihre halb volle Teetasse und sah Alex erst an, als ihr das Schweigen zwischen ihnen bewusst wurde.

»Er kann nicht heiraten?«, wiederholte sie.

»Ja. Er ist immer noch mit Marisa verheiratet. Sie will keine Scheidung.«

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Als Alex ihr sagte, Ben sei immer noch verheiratet, erkannte sie, dass sie Viktor tatsächlich nie geliebt hatte. Als er ging, hatte sie das nicht sonderlich berührt. Das Wissen aber, dass Ben bei seiner Frau war, stürzte sie in Verzweiflung. Sie versuchte weiter, den Tag zu gestalten, und merkte, dass es sie tröstete, wenn sie sich um das Hotel und die letzten Arbeiten kümmerte. Dann vergaß sie manchmal ihren Kummer. Aber sobald sie sich ihren Gedanken überließ, überwältigte sie der Schmerz. Sie sagte niemandem etwas davon, hatte aber den Eindruck, dass Nina wusste, wie es um sie stand. Manchmal beobachtete sie sie nachdenklich.

Ihr war nun klar, dass Ben sich nicht von seiner Frau frei machen konnte. Er hatte es sicher versucht, und seine Einladung zum Essen war ernst gemeint. Aber seine Gefühle für Marisa waren wohl doch stärker. Es tröstete sie nur wenig zu denken, dass sie auch keine Chance gehabt hätte, wenn Viktor nicht gekommen wäre.

Sie nahm sich vor, sich nicht mehr zu verlieben und nur noch auf ihre Vernunft zu hören. Sie würde sich von nun an mit ganzer Kraft auf das Hotel konzentrieren. Schließlich brauchte sie keinen Mann.

Sie begann, mit Alex auszugehen. Schon länger hatte sie bemerkt, dass er sie offenbar mochte. Sie ging auf seinen Flirt ein und genoss seine Aufmerksamkeiten. Nach wie vor gab er ihr Unterricht und allmählich bekam sie ein Gefühl für die Sprache.

Sie war wieder in der Stadt gewesen und hatte noch einige Dekorationen erstanden. Ihr schwirrte der Kopf und sie wollte in Ruhe einen Tee trinken, bevor sie zurückfuhr. Sie ging in ein Pub, setzte sich an einen kleinen Tisch und bestellte sich eine Tasse Tee.

Am Nachbartisch saß ein junges Paar, das sich stritt. Der noch etwas verweichlicht wirkende Mann versuchte, seine Freundin zu beschwichtigen. Claire konnte zwar nur Bruchstücke verstehen, sah aber, dass beide sauer waren. Der Mann nahm die Hand des Mädchens, aber sie entzog sie ihm sofort. Claire fragte sich, worum es wohl ging, als der Mann zu ihr hinsah. Dann flüsterte er seiner Freundin etwas zu und diese blickte ebenfalls in ihre Richtung. Claire begann rasch in ihrer Handtasche zu kramen, bemerkte aber, dass das Paar weiter über sie sprach. Wie peinlich.

Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und blätterte in ihrem Terminkalender, den sie, seit sie in Irland war, nicht mehr benutzt hatte. Sie fand eine Eintragung Viktor betreffend. Eine Einladung zum Geburtstag bei einem Kollegen von ihm. Genau, sie hatte noch gesagt, sie habe eigentlich keine Lust dazu, aber Viktor meinte, er müsse hingehen, und sie, als seine Partnerin, müsse ebenfalls mitkommen. Damals hatte sie schließlich verstimmt nachgegeben. Aber es war ja nicht mehr dazu gekommen. Sie war nach Irland gereist, hatte sich von Viktor getrennt und ein neues Leben begonnen.

Sie sah hoch. Das Paar war verschwunden.

Jetzt gab es keine unliebsamen Verpflichtungen mehr, die sie nicht mochte, denen sie aber aus irgendwelchen Gründen nachgehen musste. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.

Sie trank ihren Tee aus, zahlte und verließ das Pub wieder.

Auf der Straße blieb sie vor einem Schaufenster stehen und sah sich die Auslage an. Funkelndes Silberbesteck. Kunstvoll gefaltete Servietten neben hochstieligen Rotweingläsern. Wundeschönes hauchdünnes Porzellan mit fein gezeichneten Blumenbildern. Es gefiel ihr, aber das Geschirr, für das sie sich entschieden hatte, gefiel ihr noch mehr. Etwas typisch Irisches hatte sie haben wollen, etwas, was auch Kindern gefiel. Sie fand es in einem kleinen unscheinbaren Laden und war sofort begeistert. Auf den Tellern und Tassen war ein lachendes irisches Mutterschaf abgebildet, das einen Strickschal in den Nationalfarben trug. Die Farben waren kraftvoll, die Ausführung mit viel Liebe zum Detail. Es wirkte nicht kitschig oder naiv, sondern fröhlich und unbeschwert.

Sie schlenderte Richtung Parkplatz. Eigentlich konnte sie glücklich sein, sagte sie sich. Sie hatte ihr eigenes Hotel und war niemandem Rechenschaft schuldig. Sie konnte selbst bestimmen, wie sie lebte. Sie war nur von liebevollen Menschen umgeben, die sie in allem unterstützten. Ganz kurz tauchte Bens Gesicht vor ihrem inneren Auge auf, mahnend, als wolle es ihre Gedanken Lügen strafen. Schnell verdrängte sie das Bild und sagte sich, dass es ihr gut ging. Sie stieg in ihren Wagen und blieb einen Moment sitzen. Wieso hatte sie schon wieder das Gefühl, etwas vergessen zu haben? Seltsam. Sie zündete den Anlasser und fuhr los.

Nina sprach Claire noch einmal auf Ben an und Claire erzählte ihr, was sie von Alex erfahren hatte.

»So ist es nun einmal. Ich dachte, Viktors Auftauchen hier habe ihn vor den Kopf gestoßen. Aber ich glaube, das spielte gar keine Rolle. Er ist immer noch verheiratet und jetzt mit seiner Frau zusammen. Lass uns nicht mehr davon reden.«

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Zwei Tage später wurden die Clubsessel geliefert. Sie passten wunderbar unter die bunten Fenster. Auch der Rechner stand schon an Ort und Stelle. Allerdings war das Programm nicht mitgeliefert worden, sondern nur eine Ersatzversion. Claire versuchte gerade, die Dateien aufzurufen.

Sie hätte lieber auf einen Computer verzichtet, wusste aber, dass es ohne nicht gehen und die Atmosphäre des Hotels davon kaum berührt werden würde. Außerdem war es eine Arbeitserleichterung. Einer der Hotelleiter, die sie aus ihrem früheren Job kannte, hatte sich standhaft geweigert, einen Rechner zu benutzen. Er saß manchmal bis in die Nacht vor seinen schriftlichen Unterlagen und Berechnungen.

Auch Nina hatte gemeint, ein Computer passe nicht in ihre Welt. Aber Nina war ein Sonderfall.

Von ihrem Platz aus konnte sie bei geöffneter Eingangstür auf den Hof sehen. Tim tauchte auf, Nina an seiner Seite. Sie erzählte Tim etwas, wie immer mit Händen und Füßen. Tim lachte und legte den Arm um sie.

Wenigstens die beiden waren glücklich, dachte sie und blickte wieder auf die Tastatur.

Als das Programm endlich lief, dämmerte es bereits. Zufrieden lehnte sie sich zurück und überlegte, was noch zu tun war. Am Vortag war ein Putzteam da gewesen und hatte stundenlang gefegt und gewischt. Aber sie würde noch einmal alles überprüfen. Außerdem wollte sie letzte Hand an die Dekoration der Zimmer legen. Sie nippte an ihrem kalt gewordenen Tee. Für den Hof war heller Kies geliefert worden. An einigen Stellen musste der Belag noch etwas glatt gezogen werden. Nina hatte am Vortag vier Stunden daran gearbeitet. Und sie wollte noch Blumen bestellen. Jeder Gast sollte mit einem Blumenstrauß begrüßt werden. Und die Teebeutel fehlten auch noch, die sie auf allen Zimmern und in der Loggia anbieten wollte.

»Claire«, Nina erschien. »Ich glaube, der Kies reicht nicht. Du musst es dir mal ansehen.«

Bevor sie antworten konnte, hörte sie ein leises Pling, das die erste Mail ankündigte.

»Warte, da ist gerade etwas gekommen.«

Nina kam näher und stellte sich hinter sie.

»Post?«, fragte sie misstrauisch.

»Ja.«

Sie öffnete die Datei, die Angebote für den Hotellerie- und Gastronomiebedarf enthielt.

»Nur Werbung«, sagte sie.

»Kann da kein Virus drin sein?«, fragte Nina.

»Nein, wir haben einen Virenschutz.«

Sie löschte die Mail und Nina verschwand wieder. Claire vertiefte sich weiter in die Dateien und überprüfte die eingegebenen Bestände. Als sie das nächste Mal aufsah, grinste Zoe sie an.

»Zoe«, sie stand auf und die beiden Frauen fielen sich um den Hals.

Abends saßen sie zusammen in Claires Zimmer. Zoe hatte ihr ein Geschenk mitgebracht. Einen Reiseführer für Irland. Claire lachte, als sie das Paket öffnete.

»Damit du das Land wirklich kennenlernst«, sagte Zoe. »Wie ich dich kenne, stürzt du dich in die Arbeit und vergisst alles andere.«

Sie sprach von Ole, der Farm und ihrer Nachbarin, die immer uneingeladen auftauchte, meistens in völlig unpassenden Situationen. Außerdem habe der Lebensmittelladen kaum Auswahl, das Auto von Ole solle jetzt endgültig verschrottet werden und ihre Eltern waren kurz da gewesen und entsetzt wieder zurückgeflogen.

Aus irgendwelchen Gründen brachte Claire es nicht fertig, von Ben zu sprechen. Sie wusste auch nicht, warum. Normalerweise konnten sie sich alles anvertrauen und hatten das auch immer getan. Aber diesmal war es anders.

Dann kam Zoe auf die Gräfin zu sprechen, von der sie durch Ole gehört hatte. Der wiederum kannte sie durch einen ehemaligen Klassenkameraden, der als Verleger arbeitete. Claire erfuhr nun, wie sich die Geschichte wirklich zugetragen hatte.

Die Gräfin war in Wirklichkeit keine Gräfin, nannte sich aber so. Den Titel hätte sie geerbt, wenn ihr verstorbener Bruder ohne Kinder geblieben wäre. Aber dieser hatte eine Tochter, die das gesamte Vermögen und den Titel bekam.

Die Gräfin wurde seit ihrem achtzehnten Lebensjahr von diesem Bruder finanziell unterstützt und sie durfte in dessen Haus in Kanada wohnen. Als er starb, machte ihre Nichte ihr das Angebot, eine Familienbiografie zu schreiben. Dafür sicherte sie ihr für drei Jahre eine jährliche Apanage zu und sie konnte weiter das Haus bewohnen.

Die Gräfin habe immer schon davon gesprochen, schreiben zu wollen und angeblich sofort mit der Biografie angefangen. Als sie um einen Vorschuss bat, gestand die Nichte ihr diesen zu, verlangte im Gegenzug aber eine Textprobe. Das war ein Jahr zuvor gewesen.

Die Gräfin lieferte aber keine Textprobe ab, da sie mit dem Buchprojekt noch gar nicht begonnen hatte. Stattdessen vertröstete sie ihre Nichte. Aber diese bestand auf der Textprobe und die Gräfin schickte ihr schließlich einen miserablen Entwurf. Daraufhin erklärte die Nichte den Vertrag für nichtig und forderte den Vorschuss zurück.

»Es ging überhaupt nicht um einen Prozess, sondern um einen Vergleich«, erzählte Zoe. »Letzte Woche war der Vergleichstermin. Es ist tatsächlich zu einer Einigung gekommen.«

»Und?«, fragte Claire.

»Die Nichte verzichtet auf die Rückzahlung des Vorschusses und stellt ihr das Haus in Kanada weiter zur Verfügung. Den jährlichen Unterhalt wird der Cousin aufbringen. Das Buchprojekt ist natürlich gestrichen. Ich glaube, die Nichte und der Cousin sehen sie lieber auf der anderen Seite des Globus und haben sich deshalb so geeinigt.«

Zoe lachte.

»Sie darf sich nicht länger Gräfin nennen. Und sie darf keine Unwahrheiten über die Nichte verbreiten, was sie gerne getan hat. Sie liebt Interviews und findet immer jemanden, der sie befragt. Zu einem Reporter hat sie gesagt, ihre Nichte habe sie um ihr Erbe betrogen und den Titel erschlichen. Das darf sie jetzt nicht mehr behaupten.«

»Meine Güte«, Claire schüttelte den Kopf. »Auf die Idee, sich einen Job zu nehmen, ist sie wohl nie gekommen.«

Zoe lachte. »Nein, sie hat nie gearbeitet. Aber es würde sie auch keiner einstellen. Sie ist im Grunde ein armes Luder. Sie hat platinblondes Haar und trägt jede Menge unechte Klunker. Sie spielt die feine Frau, kann aber niemandem etwas vormachen. Außer deinen Eltern vielleicht.«

Jetzt musste Claire lachen.

»Sie jammert seit Jahren schon darüber, dass sie kein Geld habe und ist ziemlich penetrant.«

»Also kein blaues Blut«, stellte Claire fest.

»Nicht einen Tropfen.«

Sie tranken zusammen eine Flasche Rotwein und kurz vor dem Zubettgehen sagte Zoe noch, Viktor habe offenbar eine neue Beziehung.

»Ich bin ihm in der Bank über den Weg gelaufen. Ich habe meine Konten dort endlich auflösen wollen. Und da habe ich ihn gesehen. Oder willst du lieber nichts von ihm hören?«, fragte sie.

»Nein, erzähl ruhig. Es macht mir nichts aus.«

»Viktor hat abgenommen. Er hat mich gesehen, sich aber nichts anmerken lassen. Er stand mit einer Frau auf dem Gang und tätschelte ihren Arm. Deshalb denke ich, sie ist seine neue Flamme. Die Frau machte einen etwas sauertöpfischen Eindruck. Und sie trug eine ziemlich langweilige Pagenkopffrisur. Ich finde sie nicht besonders hübsch.«

Claire glaubte ihr nicht so recht. Viktor würde sich nicht mit einer unattraktiven Frau sehen lassen.

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Das Hotel konnte also demnächst eröffnet werden. Für den Empfang hatte Claire Alice, ein junges Mädchen engagiert, das freundlich war und vier Sprachen beherrschte. Dazu kamen zwei Frauen, die putzten und für die Wäsche zuständig waren, und ein junger Mann, der sich vorerst um alles kümmern sollte inklusive Garten.

Am Vortag hatte sich ein älterer Mann vorgestellt, der anbot, im Frühjahr Wanderungen zu unternehmen. Er war Ire, hieß Aaron und war ein Bekannter von Alex' Eltern. Er erwähnte einen Stiefsohn, der Tennis spielte und eventuell später die Gäste etwas unterrichten könnte. Claire nahm das Angebot dankend an.

Langsam schlenderte sie in die Küche, in der sauber poliertes Metall blinkte. Es gab vier Induktionskochstellen, einen Backofen, einen Vario-Bräter, einen Heißluftdämpfer, zwei Tiefkühlgeräte, zwei große Kühlschränke und reinigungsfreundliche Arbeitsplatten. Sie musste daran denken, wie schwierig sie es damals gefunden hatte, sich die verschiedenen Bezeichnungen der Köche einzuprägen. Da gab es den Gardemanger, den Koch der kalten Küche, den Entremetier, den Gemüse-Koch, den Potagier, wie der Suppen-Koch genannt wurde, und den Rotisseur, der für die Braten zuständig war, und etliche andere.

Aber so kompliziert würde es bei ihnen nicht zugehen. Ihre Gäste waren normale Touristen, die sich wohlfühlen sollten und die ihre Kinder Tim und den Ponys anvertrauen konnten. Die Kinder durften laut sein und im Sommer in die Küche laufen und sich kalte Limonade holen.

Eine Eismaschine, dachte sie spontan. Wir brauchen noch eine

Eismaschine, mit der wir selbst Eis zubereiten können. Die würde sie im Frühjahr noch anschaffen.

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Sie trat hinaus auf die Terrasse, die nun groß und einladend wirkte, obwohl sie die Stühle und Tische erst im Frühjahr hinausstellen würden. Die Fliesen waren schlicht und unaufdringlich und würden den blühenden Stauden nicht die Schau stehlen. Die Obstbäume waren als hintere Begrenzung gepflanzt. Noch waren sie klein und verhuscht, aber in zwei Jahren würden sie schon viel wuchtiger wirken und die dazwischen liegenden Lücken würden sich allmählich schließen. Sagte der Gärtner jedenfalls.

Langsam ging sie wieder nach vorne. Sie hatte sich wirklich ihren Wunsch erfüllen können und nun ein eigenes Hotel. Eines, dem sie vorstand. Nichts würde geschehen, wenn sie es nicht wollte, alles würde von ihrer Handschrift geprägt sein. Sie schloss einen Moment die Augen. Eigentlich war alles perfekt. Eigentlich.

Sie verließ das Hotel und warf noch einen Blick auf das Rondell, das wunderschön geworden war. Die Schneerosen blühten bereits. Aber die Rosen würden wohl das Frühjahr abwarten. Sie freute sich bereits darauf, an den jungen Knospen zu riechen und ihren Duft aufzunehmen. Im nächsten Jahr würde sie auch den Garten hinter dem Gesindehaus herrichten. Sie hatte sich schon einiges überlegt und beschlossen, es selbst zu versuchen. Vielleicht wurde aus ihr noch eine richtige Gärtnerin.

Zwei Wochen vor Heiligabend trafen die ersten Gäste ein.