17

Der Wasserkocher pfiff. Sie hängte einen Teebeutel in die Kanne und goss das Wasser hinein. Seit sie in Irland war, trank sie immer öfter Tee, was ihrem Magen sehr gut bekam. Und sie kannte mittlerweile tausend verschiedene Teesorten.

Es regnete wieder einmal. Die Stalltür war offen. Wahrscheinlich war Tim wieder mit einem der Pferde beschäftigt. Dann fiel es ihr ein. Er wollte Cora und das Fohlen in der Halle laufen lassen. Er hatte gesagt, sie solle sich das ansehen, es sei einfach zu schön.

Aber es war so wohlig warm in der Küche, der Ofen brannte und sie saß mit hochgezogenen Beinen auf der Eckbank und kalkulierte die Preise für die Zimmer. Eigentlich wollte sie nicht hinaus. Aber Tim würde enttäuscht sein. Seufzend stand sie auf und knöpfte ihre Strickjacke zu. Tim freute sich, dass sie sich nun auch für Pferde interessierte. Er war sicher oft einsam gewesen, weil niemand aus der Familie an seiner Reitbegeisterung teilhatte. Aber da war Nina gewesen, sagte sie sich. Nina hatte alles mit ihm geteilt.

Die Türglocke ging. Wer mochte das so früh sein? Neugierig ging sie in den Flur und öffnete die Haustür.

Es war Nina. Ihr Gesicht glänzte vor Nässe, ebenso die Regenjacke. Auch die wenigen Haare, die unter der Kapuze hervorlugten, waren nass. Vom Rand der Kapuze lief ein kleines Rinnsal zu Boden und tropfte direkt auf ihre durchweichten Turnschuhe.

Claire starrte sie sprachlos an.

Tim stand in der Halle, eine lange Longierpeitsche in der Hand. Cora dampfte und scharrte mit einem Vorderbein.

»Du hättest sie sehen sollen«, rief er. »Sie raste im Kreis herum, als hätte sie monatelang gestanden.«

Er lächelte begeistert und sie legte sich die Worte zurecht. Sie wollte es ihm schonend beibringen. Aber dann hörte sie sich schon sagen: »Nina ist da.«

Tims Gesicht war ein Schauspiel der Emotionen. Aufmerksamkeit, Ungläubigkeit, vorsichtige Freude.

»Nina ist da?«, fragte er, warf die Longierpeitsche zu Boden und kam zu ihr.

»Ja, versorg Cora und komm dann in die Küche.«

Tim stürmte zehn Minuten später hinein und blieb einen Moment auf der Schwelle stehen. Nina saß vor dem Ofen auf einem Stuhl, eine Teetasse in der Hand.

»Nina«, seine Stimme klang rau. »Du bist hier?«

»Tim«, Nina war aufgestanden. Claire hatte ihr trockene Sachen zum Anziehen gegeben, die ihr etwas zu weit waren. Sie sah aus wie ein Kind.

»Es tut mir so leid«, flüsterte sie. Mehr brauchte es nicht. Tim kam auf sie zu und Nina flog in seine Arme und Claire rettete in letzter Sekunde die halb volle Teetasse, die Nina losgelassen hatte.

Sie wollte im ersten Moment den Raum verlassen, um die beiden nicht zu stören. Aber dann blieb sie doch mit dem Rücken an den Ofen gelehnt stehen, die Wärme genießend.

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Am nächsten Morgen hörte Claire schon früh Ninas Schritte auf der Treppe. Die beiden hatten sich natürlich versöhnt, Nina würde bleiben und da weitermachen, wo sie zuvor aufgehört hatte. Sie war begeistert von ihren Plänen und fand die Idee, ein Hotel aufzuziehen, einfach grandios, wie sie sich ausdrückte.

Tim war überglücklich und auch Alex, der vor acht Uhr schon gekommen war, um dem Fohlen eine Vitaminspritze zu geben, freute sich über ihre Rückkehr. Sogar Piet, der wortkarge, klopfte Nina wie einem Pferd anerkennend auf den Rücken.

Claire war ganz kurz mit Alex alleine und er fragte: »Ändert Ninas Rückkehr etwas für Sie?«

»Nein, natürlich nicht«, winkte sie ab. »Nina ist für mich so etwas wie eine Schwester. Ich kenne sie seit ihrem fünften Lebensjahr.«

Sie bot Alex einen Tee an und überlegte, wie sie unbefangen auf die früheren Eigentümer des Hofes zu sprechen kommen konnte, als Alex sagte: »Tim erzählte mir, die Breitners hätten jede Menge Möbel dagelassen.«

»Ja, das stimmt«, bestätigte sie und fragte dann harmlos: »Kannten Sie eigentlich die früheren Besitzer des Hofes? Die vor den Breitners?«

»Die Camerons? Ich kannte sie natürlich nicht persönlich, habe aber von ihnen gehört. Schlimme Sache damals.«

Ihr Herz klopfte heftiger.

»Was war eine schlimme Sache?«

»Meine Eltern und unsere Nachbarn und sogar eine Tante von mir haben oft von den Camerons gesprochen. Es war ein ständiges Thema und manchmal kam es mir so vor, als hätte ich sie tatsächlich gekannt. Verstehen Sie das? Dass man Menschen durch Erzählungen so kennt, dass man fast schon denkt, man habe sie wirklich persönlich getroffen?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nein. Was war denn mit ihnen?«

»Cameron war krankhaft spielsüchtig. Er hat damit die Familie zerstört und das ganze Geld durchgebracht. Er hat um alles gespielt, es hieß sogar, er habe auch seine Frau einmal verspielt, eine Nacht mit ihr. Aber vielleicht ist das nur Geschwätz. Aber alles andere stimmt. Die Spielsucht war für die Familie ein großes Problem und es gab keine Hilfe, wie es heute der Fall ist.«

Das war also das Laster!

»Er hat den Schmuck seiner Frau und die meisten Möbel verspielt. Sie hatten nachher fast nichts mehr im Haus, nur noch die Betten.«

»Er war also spielsüchtig«, konstatierte sie.

»Oh, es kommt noch besser«, sagte Alex und grinste.

»Er hat sich tatsächlich auch einmal duelliert. Die Sache ging glimpflich aus, niemand wurde verletzt. Aber er wäre um ein Haar verhaftet worden.«

Ein Duell im Morgengrauen. Das also hatte Maureen gemeint. Wie romantisch.

»Und dann war alles vorbei und er musste den Hof verkaufen. Das ging dann ganz schnell.«

Abends kam Jennifer auf den Hof und begann ihr Pferd zu putzen. Tim hatte den Braunen, den Jennifer Cäsar nannte, draußen angebunden, damit es einfacher war. Nina kam aus dem Haus und blieb verdutzt stehen, als sie Jennifer sah. Auch Jennifer starrte sie einen Moment sprachlos an. Dann fragte sie: »Bist du etwa Nina?«

Nina nickte.

»Sag mal, wo hast du denn die ganze Zeit gesteckt?«

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Es war Claires Idee. Sie wollte ein großes Fest geben, um Ninas Rückkehr zu feiern und gleichzeitig die Nachbarn über das neue Hotel zu informieren. Ein bisschen Werbung konnte nicht schaden.

Tim gab ihr eine Liste mit Namen, Bekannte von ihm und Nina, den einen oder anderen Geschäftspartner, Freunde und Nachbarn. Schließlich kamen sie auf über dreißig Leute. Sie war gespannt, die meisten kannte sie noch nicht.

Eigentlich wollte sie für das Essen einen Partyservice bestellen. Aber Nina war dagegen. Sie wollte unbedingt selbst kochen und schlug einen deftigen irischen Eintopf vor.

»Es wird langsam immer kälter, da tut ein Eintopf Wunder«, sagte sie altklug und erinnerte Claire ein wenig an ihre Großmutter.

Das Wetter sollte trocken bleiben. Dennoch hatte Tim vorgeschlagen, auf dem Hof große Zelte aufzuschlagen. Ein Freund würde ihm die Zelte leihen.

Am Vorabend kam Alex und half beim Aufbau, während Nina die Küche mit Beschlag belegte. Sie rührte in riesigen Töpfen, schnippelte stundenlang Gemüse und plapperte ununterbrochen, während Tim ihr zuhörte, in Ruhe seinen Tee trank und hin und wieder nickte.

Durch Nina hatte sich die Atmosphäre des Hauses unmerklich geändert. Es war so, als sei ein Summen ständiger Hintergrund. Sie stand früh auf, machte Kaffee und Tee, räumte auf und war überall gleichzeitig. In der Küche lief ein uraltes Radio, das Nina auf einem Trödelmarkt gefunden hatte und das irische Folkloremusik spielte.

Wenn sie im Haus war, hörte man ihre leisen Schritte, die nicht störten, sondern einfach nur von ihrer Anwesenheit zeugten.

Nina trug immer noch ihre verblichenen Jeans und alte Pullis von Tim. Und wenn sie ritt, schnallte sie sich ein Chaps um, eine Art Stiefelersatz aus Rauleder mit Schuhabdeckung, und schwang sich so auf den Pferderücken.

Sie war in vielem immer noch wie ein Kind. Wenn sie hungrig war, schmierte sie sich ein Brot und rannte damit wieder hinaus. Sie war immer in Tims Nähe und hegte eine fast schon lächerliche Bewunderung für Claires Umgang mit Samira. Sie wollte unbedingt Viktors Buch lesen und Claire bestellte es schließlich in einer deutschen Buchhandlung. Seit Nina wieder da war, lebte das Gesindehaus irgendwie auf. Woran sie das erkannte, hätte sie nicht sagen können, aber es war so.

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Es versprach ein schöner, trockener Tag zu werden. Tim brachte Strohballen in die Zelte als Sitzgelegenheit. Die restlichen legte er vor dem Steinhaus ab, um sie später wieder zurück in den Stall zu bringen. Gegen drei Uhr wurden die Getränke geliefert und kurz nach fünf Uhr trafen nach und nach die Gäste ein. Claire erfasste eine seltsame Scheu und sie kam sich einen Moment wie eine Fremde vor. Zum ersten Mal erlebte sie Tim als Hausherr. Er stellte sie den Ankommenden vor und erwähnte das Hotel, das sie eröffnen würden. Die Reaktion der meisten war Interesse und Zuspruch. Eine ältere Frau wollte sich gleich für Weihnachten anmelden, da ihre Tochter, wie sie naserümpfend meinte, über die Tage immer in die Schweiz fahren müsse.

Plötzlich war das Zelt voller Gäste. Zwei ihrer nächsten Nachbarn waren erschienen, ein junges Paar, das in Galway in einem Pub Musik machte, und ein älteres Ehepaar. Auch Ben Hastings war gekommen, der sofort von Nina in ein Gespräch verwickelt wurde.

Kurz darauf traf auch Alex bei ihnen ein. Sie sprachen kurz über Samira und er meinte, sie müsse eine Hand für Tiere haben. Claire winkte ab, freute sich aber über seine Worte. Dann brachte er das Thema auf McConell, der ebenfalls kommen würde.

»Er ist ein Schwerenöter. Tim wusste das nicht, sonst hätte er Sie sicher nicht alleine zu ihm gehen lassen.«

Claire lachte. »Alles halb so wild.«

Alex nahm sich ein Ale. »Trotzdem hat es mich gewundert, dass Sie es geschafft haben.«

»Ach, es war gar nicht so schwer«, erklärte sie. »Es gab eine Absprache, an die er sich aber nicht mehr gebunden fühlte. Da war es für ihn einfach, mir das Land abzutreten.«

Nina verschwand im Haus und Ben gesellte sich zu ihnen.

»Ich habe sie gerade gefragt, wie sie McConell zum Verkauf überreden konnte«, erklärte Alex.

Ben grinste. »Er ist ein Charmeur alter Schule und hat immer eine andere Frau dabei. Und er behauptet jedes Mal, es sei seine Schwester oder seine Cousine. Er muss eine riesengroße Familie haben.«

Als es dämmerte, brachten Nina und Tim die schweren Töpfe ins Zelt und luden die Gäste ein, zuzulangen. Tim war die ganze Zeit bei Nina und wirkte zum ersten Mal wieder richtig glücklich.

Die langsam untergehende Sonne verfärbte den Himmel rötlich und erinnerte Claire spontan an Weihnachten. Im Hintergrund spielte leise Musik, die Nina ausgesucht hatte. Wieder irische Volkslieder.

Als einer der Gäste mit Tim ein längeres Gespräch führte, setzte Nina sich zu Claire.

»Ich finde die Idee mit dem Hotel toll«, sagte sie. »Ich mag zwar das große Haus nicht, aber als Hotel ist es sicher ganz wunderbar.«

Dann erzählte sie von ihren Eltern, die nie Kinder wollten und selbst Kinder geblieben waren und juchzend und kreischend im Haus herumtollen konnten. Sofern sie nicht gerade stritten.

Claire fiel zum ersten Mal die Ähnlichkeit der Elternhäuser auf. Auch ihre Eltern waren sich immer selbst genug und brauchten keine Kinder.

»Und das große Haus erinnert mich an mein Elternhaus, obwohl das viel kleiner und schäbiger war. Alles war unordentlich und irgendwie leblos.«

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Alex stand mit Ben zusammen, beide mit einem Glas Ale in der Hand. Unvermittelt begann Nina von Georg zu sprechen. Sie habe ihn zuerst nicht registriert, weil sie rothaarige Männer mit Sommersprossen nicht mochte. Claire musste ein Grinsen unterdrücken.

»Aber dann zeigte er deutliches Interesse an mir und wollte immer unbedingt meine Meinung zu bestimmten Sachen wissen.«

»Was denn zum Beispiel?«

»Was?«, Nina sah einen Moment ratlos aus. »Nun, er hat etwas zum Integrationsprozess gesagt und wollte dann wissen, ob ich auch der Meinung sei, dass Irland davon mehr als andere Staaten profitiert habe.«

»Integrationsprozess?«, wiederholte Claire.

»Ja, ich weiß überhaupt nicht, was er damit meinte.«

Claire versuchte, ernst zu bleiben.

»Und was hast du darauf gesagt?«

Nina zuckte mit den Schultern. »Ich habe gesagt, darüber würde ich mir keine Gedanken machen, und habe dann etwas von Scabri erzählen wollen, der kürzlich zum ersten Mal einen Oxer geschafft hatte, ohne sich im Rücken zu verspannen. Aber Georg hat mich ausgelacht.«

Auch jetzt noch wirkte Nina eher wie ein Kind als eine erwachsene Frau. Vielleicht hatte Georg sich in ihre Natürlichkeit verliebt. Und dann stellte er fest, dass sie keine geeignete Gesprächspartnerin für ihn war.

»Georg sagte zum Schluss, mit mir könne man nicht reden. Nur über Pferde und Reitsport,« bestätigte Nina ihre Vermutungen.

Damit hatte er nicht ganz unrecht, dachte Claire.

»Und was hat er nun damit gemeint? Mit dem Integrationsprozess?«, fragte Nina treuherzig.

»Wahrscheinschlich spielte er auf die Subventionen an, die Irland durch die Europäische Union erhält.«

»Woher soll ich das denn wissen?«, fragte sie und fuhr dann zögernd fort: »Am Anfang war es anders. Er nannte Tim meinen großen Bruder und ich sei dessen Schwester und sonst nichts. Und er sagte, ich könne mehr erreichen, als Steigbügelhalter für Tim zu sein.«

Ein leiser Trotz war zu hören.

»Zuerst war die Clique ganz lustig und wir haben viel gelacht.«

»Wer war denn außer Georg noch dabei?«

»Eine Cousine von ihm und deren Freundin. Und dann noch zwei Männer, Freunde der Cousine, die mit beiden schlief. Kannst du dir das vorstellen? Mit zwei Männern? Und sie fand das offenbar total cool.«

Wie albern, dachte Claire und blickte zu Alex und Ben, die immer noch redeten.

»Ich fand es zuerst schön, so von Georg hofiert zu werden. Wie auch an dem Abend, als Mulready mich angriff. Er tat so, als sei ich für ihn die wichtigste Person auf der Welt, und da habe ich den Kopf verloren und mich in ihn verliebt. Ich glaubte plötzlich, ich lebe nicht wirklich und es müsse noch mehr geben. Und deshalb bin ich mit Georg gegangen. Es war für mich etwas ganz Neues, dass mich ein anderer Mann nett findet.«

Claire drückte sie.

»Viele finden dich nett«, sagte sie und lächelte, als Nina fragte: »Wirklich?«

»Natürlich.«

Ben blickte nun zu ihr hin und Claire spürte einen Kloß im Hals und sah rasch wieder zu Nina hin.

»Wo wart ihr denn eigentlich? Jennifer hatte nur herausfinden können, die Clique sei weitergezogen, aber du seiest nicht dabei gewesen.«

»Ach, sie hat keine Ahnung«, erboste sich Nina. »Wenn sie etwas gründlicher recherchiert hätte, hätte sie mich auch gefunden, und ich hätte nicht in diesem Loch hausen müssen.«

Claire musste lachen und fragte schnell: »Und wo wart ihr nun?«

Nina erzählte, sie seien die ganze Zeit über in Galway gewesen, hätten sich aber eine neue Ferienwohnung suchen müssen, weil Georg aus der alten rausgeworfen wurde. Er hatte Krach mit dem Vermieter. Als sie umzogen, war sie aber schon gegangen.

»Ich fand ein Zimmer unterm Dach bei einer alten Dame, in der Nähe des Eyre Square. Sie wollte den ganzen Tag von mir bedient werden, dafür hatte ich Kost und Logis. Es war schauderhaft dort. Ich wäre am liebsten sofort wieder gegangen. Aber sie hatte einen süßen Kater, der an mir hing. Als er krank wurde und sie nicht mit ihm zum Tierarzt wollte, gab es Streit. Ich bin dann wieder verschwunden, den Kater hätte ich am liebsten mitgenommen.«

Sie war also in Galway gewesen! Und sie hätte ihr zufällig über den Weg laufen können.

»Georg fing auf einmal an, mit seiner Cousine rumzumachen, und ich fühlte mich plötzlich total fehl am Platze«, nahm Nina das Gespräch wieder auf. »Er ließ mich links liegen und ging dann mit ihr ins Schlafzimmer, während ich im Wohnzimmer vor dem Fernseher saß. Ich konnte hören, was sie taten, und bin aus allen Wolken gefallen. Ich dachte, das kann doch nicht sein.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Als sie wieder zurück ins Wohnzimmer kamen, setzte Georg sich neben mich, legte den Arm um meine Schulter und sagte, Jason, einer der beiden Männer, interessiere sich für mich, und ich solle mich nicht zurückhalten. Da bin ich ausgeflippt und habe ihm gesagt, was ich von ihm halte. Er nannte mich prüde und konventionell. Ich bin dann gegangen und es war ihm völlig egal. Tim ist der einzige Mann, den ich je geliebt habe«, schluchzte sie plötzlich und Claire legte den Arm um sie und hoffte, dass niemand zu ihnen hinsah.

»Es gab immer nur Tim für mich. Das mit Georg war ein Fehler.«

»Hier«, sie reichte ihr ein Taschentuch und fragte sich, ob sie auch schon einmal jemanden so geliebt hatte. Viktor wohl doch nicht, sonst hätte sie ihn nicht so leicht verlassen können. Nina schluchzte immer noch.

»Nina, vergiss, was war. Du hast eine Erfahrung gemacht und die richtige Entscheidung getroffen, als du zurückgekommen bist. Jetzt ist alles wieder gut. Tim liebt dich auch.«

»Ja, ich weiß«, Nina rieb sich die Augen. »Ich habe jetzt wieder ein Zuhause.«

Ihre Worte berührten Claire und sie fragte spontan: »Warum heiratet ihr eigentlich nicht?«

Nina wurde rot und stammelte etwas Unverständliches und Claire fragte: »Hat er dich etwa noch nie gefragt?«

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Nachdem Nina wieder verschwunden war, kam Ben zu Claire. Er brachte ein Ale mit und drückte es ihr in die Hand.

»Und Nina ist wieder in ihrem Element, nicht wahr?«, fragte er.

»Ja. Jetzt ist alles wieder gut. Schon seltsam«, fügte sie nachdenklich hinzu.

»Was denn?«

»Wenn Nina nicht weggegangen wäre, wäre ich kaum nach Irland gekommen.«

Er nickte.

»Sie tun alles für Ihren Bruder, oder?«

»Ja«, sie zuckte mit den Schultern. »Er ist nun einmal mein kleiner Bruder.«

Ben lachte. Dann wurde er wieder ernst.

»Sie haben sich ziemlich viel aufgeladen, nicht wahr?«

Sie sah ihn ratlos an.

»Na ja, das Hotel, das sie führen werden. Die Sorge um Ihren Bruder. Und jetzt lernen Sie auch noch reiten.«

Sie wurde verlegen.

»Alles halb so wild. Und ich bin ja nicht alleine.«

McConell erschien, in seiner Begleitung eine junge Dame, die sicherlich weder seine Schwester noch seine Cousine war. Die junge Frau trug hüftlanges schwarzes Haar und sah mit ihren grünen Augen wie ein Fotomodell aus. Er steuerte sofort Claire an und gratulierte ihr. Dann stellte er seine Begleitung vor und sagte sofort: »Leider kann ich nicht bleiben. Ich muss meine Cousine gleich noch zum Flughafen bringen.«

Ben grinste und Claire musste spontan lachen, täuschte dann aber einen Hustenanfall vor und fragte: »Soll ich Ihnen das Haus zeigen?«

»Ein anderes Mal sehr gerne. Aber jetzt bin ich etwas in Eile.«

Er trank ein schnelles Bier. Seine Cousine wollte nichts trinken und beteiligte sich auch nicht an der Unterhaltung. Nach zehn Minuten verabschiedete er sich. Kaum waren die beiden wieder gegangen, tauchte Nina mit einem älteren, stattlichen Mann auf.

»Claire, das ist der Bürgermeister«, sagte sie und Claire reichte dem Mann die Hand.

Er sprach ein wenig Deutsch, aber Claire fiel ins Englische, als sie merkte, dass er nicht alles verstand. Dann tauchte die Frau des Bürgermeisters mit Tim auf und die drei verschwanden in den Stallungen.

Claire holte sich etwas von dem Eintopf und setzte sich damit auf eine der Bänke. Sie ließ ihren Blick über die Menge schweifen. Die Leute waren gut gelaunt und schienen sich zu amüsieren. Alles redete durcheinander. Jemand hatte einen Hund mitgebracht, der auf der Suche nach etwas Essbarem war. Claire gab ihm schließlich ein Stück Wurst. Allmählich wurde es etwas frischer. Sie lief rasch ins Haus und holte sich eine Strickjacke.

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Wieder auf dem Hof, kam Alex auf sie zu. Er lächelte und meinte: »Nina ist ganz die Alte. Ich bin wirklich froh, dass sie wieder da ist.«

»Ja, ich auch. Die beiden gehören einfach zusammen.«

Das war ihr so herausgerutscht und sie horchte in sich hinein. Aber es stimmte. Nina und Tim, das war eine Einheit.

»Und Sie haben sich sicher akklimatisiert, oder?«, fragte Alex.

»Ja, ich weiß ehrlich gesagt nicht mehr, wie ich vorher gelebt habe. Es ist so, als sei es immer schon so gewesen. Seltsam, nicht wahr?«

Tim stellte sie noch einem Züchter vor, der ihr endlos lange von seinen Stuten erzählte. Als er eine Pause machte, entschuldigte sie sich und ging zu den Stallungen. Sie schob das Tor auf und schlüpfte hinein. Ein seltsamer Geruch stieg ihr in die Nase, aber sie konnte ihn nicht identifizieren. Scabri wieherte leise, Esquire schlief im Stehen. Samira stand an der Boxentür und sah ihr entgegen, so als habe sie sie erwartet.

»Na, du«, sie schob die Tür auf. Das Tier war richtig zutraulich geworden und ihr gegenüber völlig ohne Angst. Manchmal wieherte sie sogar, wenn sie ihre Stimme hörte. Sie strich über ihr glänzendes Fell, das sich wie Seide anfühlte. Die Mähne war zu lang, sie musste sie unbedingt frisieren. Und der Schweif musste auch geschnitten werden. Das war als Nächstes dran.

Sie machte leise Schritte auf der Stallgasse aus. Sicher Tim. Die Schritte verstummten. Sie klopfte das Tier noch einmal und verließ die Box wieder. Aber es war nicht Tim, sondern Ben, der auf der Stallgasse stand.

»Ich habe mir schon gedacht, dass ich Sie hier finden würde.«

Er kam vorsichtig einen Schritt näher, aber die Stute legte sofort die Ohren an.

»Schon gut«, murmelte Claire und ging auf ihn zu.

»Alex erzählte mir, dass Sie mit der schwierigen Stute als Einzige zurechtkämen.«

Sie freute sich, sagte aber nur: »Wenn man richtig mit ihr umgeht, ist sie lammfromm.«

Wieder roch es komisch. Was war das bloß?

»Ich glaube, Nina hat die Suppe anbrennen lassen. Riechen Sie das auch?«

»Ja. Wissen Sie, was ich mich die ganze Zeit schon frage?«

»Nein.«

»Wie Sie so schnell in Deutschland Ihre Zelte abbrechen konnten. Von einem Tag auf den anderen.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es kam einiges zusammen. Und als Tim anrief, war klar, dass ich mich um ihn kümmern musste. Und dann kam mir die Idee mit dem Hotel. Das war immer schon ein Wunschtraum von mir.«

»Und jetzt, wo Nina wieder da ist? Ändert das etwas?«

»Nein, wir sind jetzt zu dritt. Ich bin froh, dass die beiden sich wiederhaben.«

Ben ließ Esquire an seiner Hand schnuppern.

»Und Sie? Haben Sie auch jemanden, der zu Ihnen gehört?«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte und begann stockend: »Ich hatte eine Beziehung, aber sie funktionierte nicht.« Sie verstummte und überlegte, wie sie es erklären könnte. Sie hatte auf etwas gewartet, was nicht kam. Aber das hörte sich schrecklich kompliziert an.

»Ich glaube, ich war unschlüssig.«

Ben runzelte kurz die Stirn.

»Es funktionierte einfach nicht«, wiederholte sie, etwas irritiert durch den Ausdruck auf seinem Gesicht. Rasch wechselte sie das Thema.

»Haben Sie auch Geschwister?«

»Ja, eine Schwester, die manchmal meine Hilfe braucht. Eigentlich kommt sie nur, wenn sie etwas von mir will.«

»Die Familie ist wichtig, Freunde sind kein Ersatz dafür, auch wenn es immer behauptet wird.«

Sie wusste nicht, wo sie das herhatte.

Wieder stieg ihr der seltsame Geruch in die Nase.

»Ich glaube, ich muss einmal nachsehen, was da so riecht.«

Sie schlenderten auf die Stalltür zu.

»Claire«, er griff nach ihrem Arm. »Was ich Ihnen noch sagen wollte«, begann er, wurde aber unterbrochen. Nina erschien an der Tür und atmete heftig.

»Claire, komm schnell. Das Hotel brennt.«