19

Die Stute war nach wie vor schreckhaft, sobald jemand zu ihr wollte. Nur Claire ließ sie an sich heran. Mittlerweile putzte sie sie jeden Tag, was das Tier sich auch gerne gefallen ließ. Sie erkannte sie nun schon an ihrem Schritt, denn sobald Claire in den Stall kam, begann sie zu scharren. Wenn Claire dann an der Boxentür erschien, ließ sie sich anstandslos das Stallhalfter anziehen und folgte ihr willig auf den Hof, wo sie sich an einem in der Wand eingelassenen Ring festbinden ließ. Sie konnte auch ihre Hufe reinigen und hatte bereits begonnen, die Mähne zu frisieren.

Auch jetzt blieb die Stute seelenruhig stehen und schien das Putzen zu genießen. Mit langen gleichmäßigen Strichen ging Claire über das Fell, das allmählich glänzte. Tim tauchte auf, schlenderte zu ihr, blieb aber etwas weiter weg, als das Tier sofort die Ohren anlegte. Zweifelnd musterte er die Stute und sagte dann: »Sie ist schon unter dem Sattel gegangen.«

»Ach ja«, sagte Claire uninteressiert und tupfte mit einem Schwamm die Nüstern ab.

»Das bisschen Weidegang reicht überhaupt nicht.«

Das konnte sie verstehen. Schließlich waren Pferde Herdentiere. Und die Unterbringung in einer Box war im Grunde nicht artgerecht. Eigentlich bräuchten Pferde eine Offenbox, die mit einer dazugehörenden Weide über einen Laufgang verbunden war. Um jederzeit hinauszugelangen. So hatte sie es in einem von Ninas Reitmagazinen gelesen.

»Sie muss unbedingt arbeiten.«

Sie fand es witzig, dass Tim und auch Nina immer davon sprachen, sie hätten ein Pferd »gearbeitet«, oder ein Pferd müsse noch »arbeiten«. So als gehe das große Tier morgens mit Anzug und Aktentasche zum Büro. Witzige Vorstellung.

»Du könntest eigentlich versuchen, sie zu reiten.«

»Was? Ich?«, sie ließ den Schwamm fallen.

»Ja, ich weiß, dass das ungünstig ist, weil du gerade erst anfängst. Aber es hat keinen Sinn, dass ich oder Nina es versuchen.«

Die Stute stupste sie sanft an, als wolle sie mitreden.

»Aber ich kann noch nicht reiten«, sagte sie hilflos. Samira begann an ihrer Hose zu knabbern.

»Ich würde dich an die Longe nehmen«, schlug er vor. Sie starrte ihn perplex an.

Reiten? Sie? Und ein Pferd, von dem Tim sagte, es sei schon unter dem Sattel gegangen? Was hieß das überhaupt?

Sie sah Bilder von sich und einem bockenden Pferd, auf dem sie sich nicht halten konnte und von dem sie in einem hohen Bogen hinunterfiel. Sie sah blaue Flecken an ihren Oberschenkeln, vielleicht musste sie sogar mit einem Beinbruch rechnen.

Andererseits wollte sie aber unbedingt reiten lernen. So richtig. Wie Tim und Nina auch. Schon damit sie mitreden konnte. Und war es denn wirklich so gefährlich? Samira war doch ganz sanft und mochte sie.

»An der Longe kann nicht viel passieren«, sagte Tim, der Gedankenleser.

»Also gut, ich mache es«, stimmte sie zögernd zu, fragte aber noch: »Und sie ist schon geritten worden, sagtest du?«

»Ja, das hat man mir zumindest so gesagt. Warte, ich hole das Sattelzeug«, sagte Tim. Er verschwand und kam mit einem leichten Sattel und einer Trense zurück.

»Du musst das selber machen, ich erkläre es dir.«

Er gab ihr den Sattel.

»Leg ihn mal auf«, kommandierte er.

Sie hievte ihn auf den Pferderücken, aber er lag zu weit vorne.

»Jetzt etwas zurückschieben«, sagte Tim. »So ist gut. Jetzt den Gurt runternehmen.«

Das hatte sie bei Alex schon gesehen. Sie ließ den weißen breiten Nylongurt hinunter und griff unter dem Bauch danach. Dann steckte sie die Gurtstrippen durch die Schnallen und zog den

Sattel fest.

»So, hier«, Tim reichte ihr eine Trense mit dickem Gebiss.

Als sie sich damit der Stute näherte, öffnete diese bereitwillig das Maul und scheute auch nicht, als sie sie über die Ohren zog.

»Jetzt den Kehl- und den Kinnriemen schließen«, sagte Tim.

Und dann stand die Stute fertig vor ihr und schnaubte gelassen.

»Geh mit ihr auf den Platz«, sagte Tim. »Hier, nimm jetzt die Longe.«

Er ging sofort wieder einen Schritt zurück, weil das Tier die Ohren anlegte.

Auf dem Platz zog sie den Sattel noch einmal nach, hakte die Longe ein und gab sie Tim. Vorsichtig stieg sie auf und merkte sofort, dass die Stute viel schmaler war als Esquire und Scabri. Sie nahm die Zügel auf und das Tier ging sofort los. Im ersten Moment erschreckte sie sich, weil die Stute viel lebhafter war als die anderen. Sie zog am Zügel und die Stute reagierte sofort und blieb stehen.

»Wie ich schon sagte, sie hat ein wenig Erfahrung«, sagte Tim und nickte zufrieden. »Die erste Hürde ist geschafft. Mal sehen, was sie so kann.«

Er ging weiter rückwärts und ließ die Longe länger werden.

»Denk an deine Hände, stell sie tiefer und versuche, ihren Schritt etwas zu beruhigen. Setz dich dazu schwer hin und spiel vorsichtig mit dem Zügel.«

Die Stute wurde langsamer. Claire lächelte.

»Sie ist ganz anders als Esquire«, sagte sie.

»Esquire ist auch eine alte Dame«, erinnerte sie Tim. »Nimm den äußeren Zügel etwas kürzer, damit sie einen größeren Kreis macht.«

»Ich glaube, sie ist ganz toll zu reiten«, sagte sie begeistert. »Sie nimmt alles an.«

Nach einigen Runden sollte sie antraben.

»Ganz ruhig, versuch, sofort leichtzutraben, und halte die Hände tief, damit sie dir nicht abschießt.«

Abschießt? Sie drückte ganz leicht mit den Unterschenkeln, erwartete fast, die Stute würde losrennen. Aber stattdessen trabte sie nur ruhig an. Überraschenderweise fand sie sofort den richtigen Rhythmus und konnte plötzlich leichttraben.

»Super«, rief Tim. »Und wie lässt sie sich sitzen?«

»Sie ist ganz weich, nicht so hart wie Esquire«, rief sie begeistert.

»Ja, das sehe ich. Sie hat viel Schwung. Denk an lange Beine und ruhige Hände«, wies Tim sie wieder an.

Es war bei der Stute einfacher, die Hände ruhig zu halten, und auch ihre Beine schlackerten nicht so.

»Das machst du fein«, murmelte sie und das Tier legte spielerisch ein Ohr zurück, als lausche es auf ihre Stimme.

Nach einigen Runden sagte Tim, sie solle wieder zurück in Schritt gehen, aber nicht am Zügel ziehen. Sie versuchte sich zu konzentrieren und setzte sich hin und die Stute fiel sofort in Schritt.

»Das war toll«, sagte Tim und sie sagte: »Aber ich habe gar nichts gemacht.«

»Um so besser. Halt mal an.«

Sie nahm vorsichtig die Zügel auf und das Tier blieb sofort stehen. Tim kam näher, dabei die Longe aufrollend, und sagte: »Schnall Sie mal ab.«

Sie beugte sich vor und griff an den Haken und die Stute schnappte spielerisch nach ihren Fingern.

»So, jetzt auf den Hufschlag.«

Willig ließ das Tier sich steuern. Ohne auf Tims Kommando zu warten, trabte sie an. Die Stute wurde etwas schneller, aber es gelang ihr, sie zu beruhigen. Schließlich hatte sie zum ersten Mal das Gefühl, das Tier einigermaßen unter Kontrolle zu haben. Sie wechselte die Hand und hörte das Gebiss klappern. Fragend sah sie Tim an.

»Was ist das?«

Tim grinste. »Sie kaut auf dem Gebiss. Das ist ein gutes Zeichen. Sie wird lockerer und fühlt sich wohl. Und ich muss sagen, du hast eine wirklich gute Hand.«

Sie verstand nicht ganz, was er damit meinte, war aber wahnsinnig stolz und hätte immer weiter traben können. Die Stute fühlte sich butterweich an.

»Was konnten denn ihre Eltern. Springen oder eher Dressur?«, fragte sie.

»Ihr Vater war ein bekanntes Springpferd, von der Mutter weiß ich ehrlich gesagt nicht allzu viel.«

Wo war eigentlich Nina?

»Wo ist Nina?«, fragte sie.

»Etwas besorgen«, sagte Tim kurz.

Nach zwanzig Minuten machte sie Schluss und stieg ab. Sie versorgte das Tier, ging mit einem Schwamm über die Sattellage und brachte sie in die Box. Dort rieb sie sie mit Stroh, bis sie trocken war.

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Am nächsten Tag kam Ben, um mit ihr die letzten Arbeiten zu besprechen. Zusammen gingen sie durch das Haus. Bis auf einige Kleinigkeiten war alles fertig. Oben waren acht Gästezimmer und zwei Hauswirtschaftsräume entstanden. Die Zimmer waren immer noch groß genug, um außer Bett und Nachtisch auch eine gemütliche Sitzecke gestalten zu können.

Das Foyer sollte zugleich auch Aufenthaltsraum sein. Eine Bar gab es dagegen nicht. Sie und Tim hatten überlegt, wie lange die Rezeption besetzt sein sollte und sich schließlich auf dreiundzwanzig Uhr geeinigt. Dreimal im Jahr würde das Hotel für eine Woche geschlossen haben. Der Montag sollte Ruhetag werden, an dem nur ein Frühstücksbüfett angeboten wurde.

»Und? Bist du zufrieden?«, fragte Ben.

»Ja«, sie nickte. »Es ist perfekt.«

»Tim erzählte mir, eure Eltern leben in Kanada. Was sagen sie denn zu eurem Hotel? Sie müssen doch stolz sein.«

»Sie wissen es noch gar nicht«, sagte sie leichthin. »Und ob sie stolz wären, weiß ich nicht. Ich habe sie seit Ewigkeiten nicht mehr gesehen.«

Eine kurze Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Ben blickte auf seine Schuhe und sagte dann langsam: »Als ich dich damals mit McConell im Restaurant sah, hatte ich keine gute Meinung von dir. Ich dachte, du bist berechnend und kalt. Ich habe den Auftrag zuerst nur angenommen, um zu sehen, was du hier eigentlich tun willst.«

Also hatte Tim damals richtig gehört.

»Aber ich habe mich getäuscht«, sagte er. »Du bist ganz anders.«

Er zog etwas aus ihrem Haar, einen Strohhalm, und sagte: »Damals hätte ich mir nicht vorstellen können, dich einmal so zu sehen. In Jeans, Turnschuhen und mit Strohschnipseln im Haar. Wie kann man sich nur so irren? Und ich hielt mich für einen guten Menschenkenner.«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, hätte aber auch nichts sagen können, denn ihr Mund war ganz trocken.

»Ich würde dich jetzt gerne küssen, aber ich wette, dann taucht plötzlich Nina auf oder Tim«, sagte er leise. »Darf ich dich stattdessen zum Essen einladen?«

Sie nickte stumm. Sein Blick ruhte auf ihrem Gesicht.

So hatte Viktor sie nie angesehen. Das ist es also, dachte sie vage. Das ist das, was mir bei Viktor immer fehlte. Sie hätte ihre Gefühle nicht beschreiben können, sie waren überwältigend. Und gleichzeitig schien es ihr, als sei nun endlich das passiert, auf das sie so lange schon wartete.

Erst als Ben wieder gefahren war, fiel ihr Marisa ein. Sie war wohl nur eine ehemalige Freundin, die in seinem Leben keine Rolle mehr spielte.

Wieder war es laut auf dem Hof. Es wurde gehämmert, ein Bagger kämpfte mit den Holzwänden und fast zehn Arbeiter tummelten sich in den Ruinen der Scheune und verständigten sich auf Irisch miteinander.

Es war viel passiert, seit sie nach Irland gekommen war. Damals glaubte sie, dass sie wieder zurückkehren würde. Mit Tim. Aber alles war anders gekommen. Nina war wieder da, das Hotel war fast fertig, der Gärtner musste noch letzte Hand an die Bepflanzung der Auffahrt legen.

Sie hatten lange überlegt, wie das Hotel heißen sollte. Nina hatte Vorschläge gemacht wie Ponyhof Sammers oder Pferdehotel. Tim hatte überhaupt keine Idee und meinte, ob man darauf nicht ganz verzichten könne. Claire schlug schließlich Sammershouse vor. Das war einfach, aber einprägsam. Und dass es bei ihnen Pferde gab, würden sie in der Werbung noch extra unterstreichen.

Sie hatten bereits mit einer Werbekampagne im Internet begonnen und zwei Reisebüros mit der Vermittlung beauftragt. Zu ihrer Freude kamen fast täglich Anfragen per E-Mail. Die Tatsache, dass man sein Pferd mitbringen konnte, fand regen Zuspruch.

Nina hasste das Internet. Sie nannte es Teufelszeug und weigerte sich, es zu benutzen. Sie lebte in ständiger Furcht, ein Virus könne alles zerstören. Claire fragte sich insgeheim, wie sie ihre Arbeit im Finanzamt eigentlich geschafft hatte.

Über die Inneneinrichtung der neuen Zimmer hatte sie lange nachgedacht, Vorstellungen entwickelt und wieder verworfen und schließlich Ninas Idee aufgegriffen, jedes Zimmer etwas anders zu gestalten. Jeder Hoteleinrichter hätte sicher davon abgeraten und von einem einheitlichen Eindruck gesprochen, der sich in der Einrichtung wiederfinden sollte. Aber sie sah das anders. In keinem Zuhause der Welt waren alle Räume identisch eingerichtet, und ein Zuhause sollte das Hotel sein. Für die Gardinen, die Sessel und das Bettzeug hatte sie warme Töne ausgesucht. Am Vortag waren die unterschiedlichsten Möbel und Lampen für die Zimmer gekommen. Das Foyer glich kurz einem Möbellager, bis alles an Ort und Stelle gebracht wurde. Die Teppiche lagen bereits. Bens Männer hatten sie fachmännisch verlegt.

Ben hatte vorgeschlagen, auf einen der Hauswirtschaftsräume zu verzichten und stattdessen ein Spielzimmer für Kinder einzurichten. Die Idee gefiel ihr und Nina liebte den kunterbunt möblierten Raum jetzt schon.

Die Rezeption war von zwei Schreinern aufgebaut worden und wirkte sehr elegant. Drei Palmen vermittelten ein mediterranes Ambiente. Es fehlte nur noch die Clubgarnitur für das Foyer, die aber innerhalb der nächsten zehn Tage kommen würde. Dann waren sie fertig.

Auch die Stallungen waren nun komplett hergerichtet und um fünf große Boxen erweitert worden. Tim konnte zudem noch vier Ponys erwerben. Ein Stall ganz in der Nähe wurde vom Eigentümer aufgegeben. Er bot Tim die Tiere an, die er sich zusammen mit Nina ansah. Sie würden sie in der nächsten Woche holen.

Erste Bestellungen für Weihnachten und Ponyreiten im Frühjahr lagen bereits vor. Und Tim und Nina hatten damit begonnen, eine Trekkingtour für den Sommer auszuarbeiten.

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Ihr Tagesablauf war ein anderer geworden. Sie stand immer noch früh auf, zwängte sich aber nicht in ein Kostüm, sondern schlüpfte in bequeme Jeans und half Tim und Nina im Stall. Immer noch hatte sie Respekt vor den großen Tieren, konnte ihre vorherige panische Angst aber nicht mehr verstehen.

Wenn sie im Stall fertig waren, frühstückten sie zusammen und besprachen die Pläne für den Tag.

An zwei Abenden in der Woche kam Alex und gab ihr weiter Unterricht. Er versuchte es jedenfalls. Nina, die auch etwas lernen wollte, war von der Idee angetan und setzte sich oft zu ihnen. Aber sie konnte sich nicht konzentrieren, stellte unzählige Fragen und sprach dann von den Pferden.

Im Moment hatte es ihr Farewell angetan. Sie wollte ihn nun an den Sattel gewöhnen und bat Claire, ihr dabei zu helfen.

Nina hatte sich sofort nach ihrer Rückkehr auf die Pferde gestürzt und ritt jeden Tag. Sie vertraute Claire an, dass sie die Pferde noch am meisten vermisst hätte, wurde dann aber rot und sagte, nach Tim. Wenn sie nicht ritt, kümmerte sie sich um das Fohlen, das sie täglich putzte, und um Cora, die sehr an Nina zu hängen schien.

Abends saßen sie zusammen im Wohnzimmer, tranken Tee und sahen fern. Claire kümmerte sich nun um die gesamte Büroarbeit und benutzte das Arbeitszimmer, das Tim ihr gerne überließ.

Der Aufbau der Scheune ging zügig voran. Tim und Ben hatten bei Mulready einen Scheck abgeholt, der alle Schäden abdeckte. Er würde sie nicht mehr stören.

Alex erzählte ihr, er sei früher ganz anders gewesen, habe aber die Trennung von seiner Frau nie überwinden können. Unvermittelt musste sie an Maureen denken, die ihn und seine Frau gekannt hatte. Seine Frau wollte ihn damals verlassen, wie sie Maureen eingestand. Und sie war auch tatsächlich gegangen. Und Maureen? Was war aus ihr geworden?

Die Sache ließ ihr irgendwie keine Ruhe. Vielleicht gab es noch irgendwo Hinweise, wie es weitergegangen, was aus Maureen und Frederik geworden war. Vielleicht hatte sie ein anderes Tagebuch begonnen. Sie ging noch einmal in den Keller und suchte systematisch alles durch. Sie fand alte Kleidungsstücke, verstaubte Bücher, leere Flaschen und Bilder mit filigranen Blumenzeichnungen.

Stimmt ja, sie hatte angefangen zu malen. Die Zeichnungen waren sauber ausgeführt mit viel Liebe zum Detail. Ob sie einen künstlerischen Wert hatten, konnte sie nicht beurteilen. Von einem weiteren Tagebuch fehlte jede Spur.

Sie ging wieder hoch, unzufrieden, weil sie nichts gefunden hatte, und verstand das Gefühl nicht, das an ihr nagte, so als habe sie etwas vergessen.

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Ein Wagen fuhr auf den Hof. Tim. Neben ihm Nina. Dann war sie doch nicht mit Scabri ausgeritten. Claire ging ihnen entgegen. Nina stieg aus und strahlte sie an und Claire registrierte verblüfft, dass Nina ein Kleid trug. Ein helles schlichtes Kleid, das zeigte, wie schlank sie war. Und neue helle Schuhe. Und Tim hatte sich in einen Anzug gezwängt.

»Wo wart ihr?«, fragte sie.

»Wir haben geheiratet«, platzte Nina heraus.

»Ihr habt geheiratet?«, wiederholte sie verdutzt.

»Ja, und stell dir vor, es war alleine Tims Idee. Ich habe gar nichts gesagt«, sprudelte sie hervor.

Tim legte den Arm um seine Frau.

»Ja, du kannst uns gratulieren.«

Claire umarmte Nina und ihren Bruder und sagte: »Ich freue mich für euch!«

»Claire«, Tim sah sie bittend an. »Ich hoffe, du bist nicht böse, weil wir geheiratet haben, ohne dir etwas zu sagen. Aber ich wollte einmal etwas ganz alleine hinbekommen.«

Sie lachte.

»Das hast du wunderbar hinbekommen«, sagte sie. »Aber wir werden natürlich feiern.«

Nina klatschte in die Hände.

»Dein Kleid gefällt mir«, sagte Claire versonnen. »Ich wusste nicht, dass du überhaupt Kleider hast.«

»Sie hat es vorgestern erst gekauft«, sagte Tim. »Und die Schuhe ebenfalls. Sie wollte unter keinen Umständen in einer Jeans heiraten.«

Am nächsten Tag fuhr Claire in die Stadt. Sie hatte ihre Lederreitstiefel zwei Tage hintereinander getragen und musste danach das Handtuch werfen, weil sie Blasen an den Fußsohlen hatte. Tim sagte, sie habe auch einfach übertrieben. Lederstiefel müsse man in Ruhe eintragen. Aber Nina sagte ihr, sie solle sich doch ein Chaps holen. Das wäre am bequemsten.

Sie war etwas in Eile, Ben wollte noch das Hotelschild vorbeibringen, das einer seiner Freunde geschmiedet hatte. Es war sein Geschenk zur Eröffnung. Abends wollten sie zusammen essen gehen. Sie kaufte das Chaps, schnallte es sich noch im Laden um und musste grinsen. Tim würde staunen. Dann fuhr sie zurück, geriet aber in einen Stau und musste fast zehn Minuten warten. Als es endlich weiterging, fuhr sie viel zu schnell und geriet einmal auf die falsche Seite. Die Lichthupe des entgegenkommenden Autos warnte sie und sie zwang sich zur Ruhe.

Wieder am Hof angekommen, wunderte sie sich über die Wagen, die vor dem Haus standen. Unter anderem ein uralter Käfer.

Schon wieder Fremdparker. Obwohl sie sich vorgenommen hatten, abends das Tor zu schließen, vergaßen sie es meistens. Vielleicht konnten sie es elektrisieren und eine Zeitschaltuhr anschließen.

Aber noch etwas anderes störte sie, sie wusste nur nicht, was. Rasch ging sie in den Stall und nach hinten durch zur Stute. Sie gab ihr etwas von den Pellets, die sie mitgebracht hatte, und zupfte einzelne, längere Haare aus der Mähne. Samira ließ sich nicht gerne frisieren. Sie schüttelte dann den Kopf und stupste sie immer wieder an. Also machte sie nie viel auf einmal, sondern immer nur ein bisschen. Irgendwann würde sie fertig sein, hatte sie Tim gesagt, und der meinte grinsend, dann würde sie wieder von vorne anfangen müssen.

Als sie das Haus betrat, hörte sie Stimmen aus dem Wohnzimmer und überlegte, mit wem Tim sprach. Aber es war nicht Tims Stimme. Und dann wusste sie, was ihr eben noch aufgefallen war. Oder ihrem Unterbewussten. Das Auto mit deutschem Kennzeichen. Das konnte nur Viktors Auto sein, es war zumindest seine bevorzugte Marke. Ein neues Modell in einer anderen Farbe. Daher hatte sie es auch nicht sofort registriert. Was zum Teufel wollte er hier?

Eine andere Stimme war zu hören und sie dachte, das kann nicht sein, ich muss mich täuschen. Langsam öffnete sie die Wohnzimmertür. Und plötzlich stand die Zeit still und zugleich bekam alles eine beklemmende Schärfe oder Kontur. Sie sah Viktor, der in der Mitte des Sofas thronte, als habe er dazu alles Recht der Welt. Die Plätze neben ihm waren frei, als habe er noch niemandem eine Audienz gewährt. Sie sah ihre Mutter im Sessel sitzend, gekleidet in einem chicen grauen Reisekostüm. Dazu eine Perlenkette um den Hals, Perlen an den Ohren und eine große Perle an ihrem Ring. Die Frisur wie immer untadelig, ihr Gesicht dezent geschminkt. Und glatter, als sie es in Erinnerung hatte. Viel glatter sogar. Der leichte Zug der Wangen nach oben zeigte, dass jemand nachgeholfen hatte. Und hinter ihr, stehend, ihr Vater mit dümmlichem Lächeln. Eine Hand auf der Schulter seiner Frau. Wieso zum Teufel stand er immer hinter ihr? Auf der anderen Seite des Raumes stand Ben. Und sah sie an. Er war also schon da. Aber wieso hatte sie seinen Wagen nicht gesehen? Zu seinen Füßen stand, an die Wand gelehnt, ein schmiedeeisernes Schild mit dem Schriftzug »Sammershouse«.

Sie wollte etwas sagen, aber Viktor kam ihr zuvor: »Schatz, was hast du denn da für ein lächerliches Ding an?«

»Liebes«, unterbrach ihn ihre Mutter. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals so von ihr genannt worden zu sein. »Wir müssen dir gratulieren. Warum hast du uns denn deinen wundervollen Verlobten nie vorgestellt?«