16

 

Nach dem regnerischen Nachmittag in der Grace Church lebte Lee nur noch zwei Wochen. Die meiste Zeit über lag er schweigend da oder döste. Es regnete viel, und die Flüsse rund um Lexington schwollen an, bis es für Rob unmöglich war, zu seinem Krankenlager zu gelangen. Mehrere Nächte hindurch erhellte das Nordlicht den Himmel, so wie bei Fredericksburg. Lee sprach sehr wenig, wenn er auch manchmal während seiner Träume ein Murmeln von sich gab, doch als der Arzt zu ihm sagte: »Sie müssen schnell wieder auf die Beine kommen; Traveller steht schon so lange im Stall, daß er ein wenig Bewegung braucht«, da schüttelte er bloß den Kopf, unfähig zu sprechen.
Er starb am zwölften Oktober mit den Worten: »Brecht das Zelt ab«, und zog zu einem neuen Schlachtfeld weiter, auf das ihm Traveller nicht folgen konnte. Traveller ging mit geneigtem Kopf im Trauerzug mit, am Sattel und am Zaumzeug trug er Trauerflor. Anschließend brachte man ihn in seinen Stall zurück, wo man ihn das Ende abwarten ließ. Träumte er von Lee? Das frage ich mich. Träumen Pferde?

 

ALS ICH NACH HAUSE KAM, saß Broun noch immer im Wintergarten auf dem Sofa. Der Siamkater war auf seinen Schoß gesprungen, und er hatte den Anrufbeantworter neben sich auf das Sofa gestellt, damit er den Kater streicheln konnte.

Bei meinem Eintreten stand er augenblicklich auf und ließ die Katze auf den Boden plumpsen, kam zu mir und legte mir seinen Arm um die Schultern. Er fragte mich nicht danach, was geschehen war, und weil er es nicht tat, weil er nicht sagte: »Wie konntest du sie so gehen lassen? Sie ist krank. Sie braucht einen Arzt«, deshalb erzählte ich ihm, daß ich sie zu U-Bahnstation gebracht hatte, und dann erzählte ich ihm den Rest.

Er sagte nicht: »Es sind ja nur Träume«, oder kam mit einer der Theorien an, die er in Kalifornien aufgeschnappt hatte. Er sagte lediglich ruhig: »Der Bürgerkrieg war ein schrecklicher Krieg. So viele junge Menschen… Ich hätte nicht nach Kalifornien fliegen sollen. Auf der Jagd nach Lincolns Träumen, wo ich hätte hier sein sollen.«

»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich, ging nach oben und legte mich, obwohl es noch früh am Nachmittag war, ins Bett und schlief zwei Tage lang. Als ich aufwachte, war ein Elektriker da, der den Anschluß des Anrufbeantworters reparierte und wieder in der Wand befestigte.

»Für den Fall, daß sie anruft«, sagte Broun.

Ich brachte die Fahnen nach New York. Als ich zurückkam, begannen wir mit dem Roman über Lincolns Träume. Ich erledigte für Broun die Laufereien, fuhr ihn herum, schlug obskure Fakten nach, die niemanden interessierten, und träumte von Annie.

Als wir in Fredericksburg waren, hatte ich überhaupt keine Träume gehabt, so als hätte Annie genug für uns beide geträumt, doch jetzt träumte ich beinahe jede Nacht, und in den Träumen ging es Annie gut. Ich träumte, sie hätte eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen. »Mir geht’s gut«, sagte sie. »Ich wollte nicht, daß du dir Sorgen machst.«

»Wo bist du?« fragte ich, obwohl ich wußte, daß es bloß eine Nachricht war, daß sie nicht wirklich anwesend war. Ich hatte die Gewohnheit nie ablegen können, Leuten zu antworten, die gar nicht da waren, und wenn ich das nicht schaffte, wie konnte ich glauben, daß es Annie schaffen könnte, der Lee Nacht für Nacht ins Ohr flüsterte und ihr seine Träume erzählte?

»Mir geht’s gut«, sagte sie im Traum zu mir. »Es wird gut für mich gesorgt.« Es war keine Nachricht. Sie war wirklich am Telefon, und ihr ging es gut, gut. Sie war zu diesem Haus mit der breiten Veranda und dem Obstgarten heimgefahren, und als sie dort angekommen war, hatte sie einen Arzt aufgesucht. »Ich dachte, du hättest Angst, man könnte dir die Träume wegnehmen«, sagte ich in den Hörer.

»Das stimmt, aber dann dachte ich an das, was du über Tom Tita gesagt hast. Was hätte ich davon gehabt, wenn ich Lee durch den Bürgerkrieg hindurch gefolgt wäre? Ich wäre bloß umgekommen dabei. Meine Loyalität gilt zuallererst mir.«

»Das hast du mit der Nachricht gemeint«, sagte ich und umklammerte den Hörer. »Das hast du also gemeint, als du Tom Titas Namen aufgeschrieben hast.«

»Natürlich«, sagte sie. »Was hast du denn gedacht, was die Nachricht bedeutet?«

»Daß du eingesperrt wärst. Daß du nicht herauskommen könntest.«

»Mir geht’s gut«, sagte sie. »Es wird gut für mich gesorgt.«

Wir arbeiteten den ganzen Sommer hindurch an dem Buch. Im Herbst erschien Die Bürde der Pflicht, und wir fuhren nach New York, um für das Buch zu werben. »Ich bin froh, Broun so wohlauf zu sehen«, sagte mir seine Agentin während eines Empfangs bei McLaws und Herndon. »Ich habe schon befürchtet, das Herumgerenne in Kalifornien wäre zu viel für ihn, aber er sieht prächtig aus. Ich kann Ihnen auch gar nicht sagen, wie erleichtert ich bin, daß das Buch endlich gedruckt wird«, sagte sie und tippte mit dem Finger auf eine Werbetafel für Die Bürde der Pflicht. »Wußten Sie, daß er mich angerufen hat, nachdem die Fahnen eingetroffen waren, und den Schluß verändern wollte? Er wollte, daß Ben und Nelly heiraten sollten. Können Sie sich das vorstellen?«

»Wann hat er das getan?« fragte ich.

»Oh, ich weiß nicht. Nachdem Sie die Fahnen herübergebracht hatten. Zum Glück hat er mich zuerst angerufen, und nicht McLaws und Herndon. Ich konnte ihn davon überzeugen, daß es nicht funktionieren würde.«

»Nein, vermutlich nicht.«

»Nun, ich meine, es war von Anfang an offensichtlich, daß sie in den Jungen verliebt war, der gestorben ist, wie hieß er noch gleich?«

Wir blieben bis nach Weihnachten in New York, veranstalteten Signierstunden und machten bei Talkshows mit. An dem Tag, als wir nach Hause kamen, während ich nebenan war, um den Siamkater von Brouns Nachbarin zu holen, hatte Broun einen Herzanfall. Es war nur ein ganz kleiner. Er richtete kaum Schaden an. Er blieb nur eine Woche im Krankenhaus, und er schien mehr über die Tatsache aufgebracht, daß ein alter Drachen von Krankenschwester seinen Bart abrasiert hatte, als über den Herzanfall.

»Hatten Sie irgendwelche Symptome?« wollte ich von ihm wissen. Er lag im Krankenbett und hatte sich die Kissen in den Rücken gestopft.

»Eine leichte Magenverstimmung«, sagte er. »Oder das, was ich für eine Magenverstimmung hielt.«

»Tat Ihnen der Arm nicht weh? Oder das Handgelenk?«

»Nein«, sagte er. »Ich dachte, ich hätte zuviel gegessen.«

»Haben Sie irgendwas geträumt?«

»Ich war wach, als ich den Anfall hatte, mein Sohn«, sagte er sanft.

»Vor dem Anfall«, rief ich. »Wovon haben Sie geträumt?«

Brouns Arzt zog mich auf den Korridor hinaus. »Ich weiß, Sie haben eine Menge Streß, aber das gilt auch für ihn.« Er blickte auf Brouns Krankenblatt. »Und für mich ebenfalls. Ich möchte nicht, daß er wegen mir einen dritten Herzanfall bekommt.«

»Einen dritten?« sagte ich.

»Natürlich«, sagte er und blickte immer noch mit gerunzelter Stirn auf das Blatt. Er sah auf und bemerkte meinen Gesichtsausdruck. »Aha, dieser alte Gauner! Er hat Ihnen nie etwas gesagt, stimmt’s? Es war vor drei Jahren« – er blätterte mehrere Seiten zurück, – »im September. Am achtundzwanzigsten September. Sie waren verreist, glaube ich. Er sagte, er hätte Sie angerufen.«

Vor drei Jahren war ich im September in Springfield gewesen, hatte mir Lincolns Grab angesehen und mich von Broun verrückt machen lassen, und nach der ersten Hälfte der Reise hatten die Anrufe aufgehört, die Nachrichten hatten aufgehört, und als ich zurückkam, hatte er eingewilligt, mir die Laufarbeiten zu überlassen.

»Wie schlimm war der erste?« fragte ich.

»Schlimm genug, um ihm Angst einzujagen. Er war überzeugt davon, sterben zu müssen. Deshalb hatte ich angenommen, er habe es Ihnen gesagt.« Er ließ die Seiten zurückfallen und klemmte sich den Krankenbericht unter den Arm. »Nun, ich stimme Ihnen zu, daß er es verdient, für sein Verschweigen angeschrien zu werden, aber als sein Arzt werde ich Sie nicht wieder zu ihm hineingehen lassen, ehe Sie mir versprochen haben, die Herzgeschichte ihm gegenüber so lange nicht zu erwähnen, bis er in einer besseren Verfassung ist als im Augenblick. Er muß seine Gründe dafür gehabt haben, Ihnen nichts von dem Herzanfall zu sagen.«

»Schätze ja«, sagte ich.

Ich ging wieder ins Zimmer zurück und entschuldigte mich dafür, daß ich ihn angeschrien hatte. »Ich hatte vor der Herzattacke keine Träume«, sagte Broun. »Ich habe keinerlei Vorwarnung bekommen.«

»Annie schon«, sagte ich. »Die Träume sollten sie warnen. Bloß darauf hören wollte sie nicht.«

Er lehnte sich in die Kissen zurück. »Hätte ich vor dem Anfall geträumt, ich befände mich in einem Boot und triebe auf einer düstere, schemenhafte Küste zu, hätte ich auch nicht darauf gehört. Wenn Lincoln mich seine Träume träumen ließe, dann könnte mich nichts auf der Welt davon abbringen. Nicht einmal jemand, den ich liebe.«

»Selbst wenn Sie dafür mit einem Herzanfall bezahlen müßten? Selbst wenn es Sie umbringen würde?«

»Selbst dann«, sagte er leise. »Vielleicht geht es ihr gut. Vielleicht ist sie zu einem Arzt gegangen, als sie wieder zu Hause war, wie sie es versprochen hat.«

Entgegen dem Rat des Arztes nahm Broun die Arbeit an dem Lincolnbuch wieder auf, sobald er aus dem Krankenhaus entlassen worden war. »Ich werde dieses verdammte Buch zu Ende bringen, und wenn es mich umbringt«, sagte er und kratzte sich am unrasierten Kinn. Er versuchte, sich einen neuen Bart stehenzulassen.

»Was es unter den gegebenen Umstände auch tun wird«, sagte ich. »Überlassen Sie mir wenigstens die Laufarbeit.«

»Na schön«, sagte er, schickte mich zum Weißen Haus und ließ mich Notizen über das Gästezimmer mit den Purpurvorhängen machen, in dem Willie Lincoln gestorben war, über die Treppe, die Lincoln im Traum heruntergegangen war, und das Östliche Zimmer, in dem Willies Sarg und später der seines Vaters gestanden hatten.

Ich hatte in dieser Zeit einen neuen Traum. Darin träumte ich, ich würde aufwachen und ein Weinen hören, aber als ich nach unten ging, sah ich niemanden. Neben der Tür des Wintergartens stand ein Wächter, und ich fragte ihn: »Wer ist im Weißen Haus gestorben?«, doch als er sich umwandte, um mir zu antworten, war es kein Wächter, sondern Annie. Sie trug ihren grauen Mantel und sah wundervoll aus, frisch und ausgeruht.

»Geht es dir gut?« fragte ich sie. »Warst du beim Arzt?«

»Beim Arzt?«

»Beim Arzt«, sagte ich mit Nachdruck. »Die Träume waren eine Warnung.«

»Ich weiß. Sie sollten uns vor Brouns Herzanfall warnen, aber wir haben sie nicht verstanden. Wir sind den vollkommen falschen Hinweisen gefolgt.«

»Broun wird keinen neuen Herzanfall bekommen, nicht wahr?«

Sie schüttelte den Kopf. »Die Träume haben aufgehört.«

»Und dir geht es gut?«

Sie schenkte mir ein Lächeln, ein reizendes Lächeln ohne Traurigkeit darin. »Mir geht’s prima.«

 

Im April wurde Broun wegen Schmerzen in der Brust erneut ins Krankenhaus eingeliefert. »Ich habe darüber nachgedacht, was Annies Träume hervorgerufen hat«, sagte er, gegen die Kissen gelehnt. Er weigerte sich, die Krankenschwestern in seine Nähe zu lassen, aus Angst, sie könnten ihm wieder seinen Bart abrasieren, und er sah fürchterlich aus, schmuddelig und verkommen. »Erinnerst du dich an Dreamtime?«

»Die Quacksalber in San Diego?«

»Ja«, sagte er. »Erinnere dich an ihre Theorie, daß die Toten so lange friedlich schlafen, bis sie durch etwas gestört werden, so wie Willie Lincoln, als er ausgegraben wurde, und dann fangen sie zu träumen an. Nun, was wäre, wenn Lee etwas Ähnliches zugestoßen ist? Wenn man seinen Leichnam umgebettet hat und ihn das dazu gebracht hat, zu träumen?«

»Lees Leichnam wurde nicht umgebettet«, sagte ich. »Er ist in der Kapelle von Lexington begraben.«

»Vielleicht gab es einen anderen Anlaß für die Träume als die Angina. Vielleicht begannen sie, weil sein Leichnam irgendwie gestört wurde. Wurde seine Tochter Annie umgebettet?«

»Nein. Sie ist immer noch in North Carolina begraben, wo sie gestorben ist.«

Er lag eine Weile schweigend da und starrte zu Tür, wann immer eine Krankenschwester vorüberkam. Dann sagte er: »Lincolns Leichnam wurde viel herumgeschleppt. Zuerst brachte man ihn mit dem Begräbniszug nach Springfield, der in jedem einzelnen gottverdammten Kaff angehalten hat.« Er drückte sich gegen die Kissen hoch, und die Linie auf dem EKG-Schirm hinter seinem Kopf zeigte plötzlich einen Ausschlag. »Und dann war da diese Kidnapping-Geschichte, und die Wache holte ihn aus dem Grab und begrub ihn in einem Gang der Gedächtnishalle.«

»Annie hat nicht Lincolns Träume geträumt«, sagte ich ruhig, vernünftig und beobachtete den Bildschirm. »Es waren Lees Träume.«

»Im Jahre 1901 brachte man Lincoln wieder in das Grab zurück. Er wurde insgesamt viermal umgebettet, den Begräbniszug nicht eingerechnet.« Die Anzeige zuckte in scharfen, gefährlichen Linien. »Und wenn die Dreamtime-Quacksalber nun recht hatten, und das ganze Hin und Her hat ihn aufgeweckt?«

»Es waren nicht Lincolns Träume«, sagte ich. »Es waren Lees Träume.«

»Vielleicht«, sagte er und setzte sich mit einem Schwung auf, der das EKG bis an den Rand des Bildschirms ausschlagen ließ. »Ich möchte, daß du mir ein paar Bücher mitbringst.«

Während der nächsten drei Tage erbat er sich weitere Bücher, und gegen Ende der Woche befand sich seine halbe Bibliothek in dem Krankenzimmer. »Ich hab’s«, sagte er. Er konnte sich inzwischen aufsetzen, ohne das EKG ausschlagen zu lassen. »Es waren Lincolns Träume.«

Er hatte alles ausgearbeitet. Es war Lincoln, der die Träume geträumt hatte, nicht Lee, und ihre Träume wären gar nicht so verschieden voneinander gewesen. Sie hätten beide von Gettysburg und Appotomax geträumt. Sonderbefehl 191 war Lincoln vor Lee bekannt, und die Katze mußte gar nicht Tom Tita sein, nicht wahr? Es könnte eine von Lincolns Katzen gewesen sein. Lincoln liebte Katzen. Er hatte es alles ausgearbeitet.

»Und wenn es wirklich Lincolns Träume waren?« sagte ich, als ich mich nicht mehr zurückhalten konnte. »Was würde das beweisen?«

»Lincoln versuchte Willies Pony aus dem brennenden Stall zu retten. Das ist die eigentliche Bedeutung des brennenden Hauses, und nicht Chancellorsville.«

»Es waren nicht Lincolns Träume, verdammt noch mal«, rief ich. »Es waren Lees.«

»Ich weiß«, sagte er ruhig, und die EKG-Linie über seinem Kopf schlug augenblicklich aus. »Ich weiß, daß es nicht Lincolns Träume waren.«

»Und warum dann das alles?«

»Weil sie dann außer Gefahr gewesen wäre. Wenn es Warnungen waren, die von Lincoln kamen, hätten sie nicht von einem Obstgarten gehandelt, sondern von Booten. Ich dachte, wenn ich sie zu Lincolns Träumen machen könnte, dann würde es bedeuten, daß sie außer Gefahr ist.«

»Er ist nicht in der Verfassung, um sich aufzuregen«, sagte Brouns Arzt. Er hatte mich wieder auf den Korridor hinaus und in ein leerstehendes Zimmer hineingezerrt. Das EKG hatte im Zimmer der Krankenschwestern einen Alarm ausgelöst, der jedermann herbeieilen ließ.

»Ich weiß«, sagte ich.

»Sie sehen ebenso schlecht aus wie er«, sagte er. »Wie ist es um Ihren Schlaf bestellt?«

»Schlecht«, sagte ich. Wenn ich schlief, träumte ich von Annie. Sie stand auf der Veranda der Villa Arlington; ihre Arme um meinen Hals gelegt, und ich sagte immer wieder: »Ich möchte nicht, daß du gehst.«

»Soll ich Ihnen etwas verschreiben? Damit Sie besser schlafen?«

»Woran haben Sie gedacht? An Thorazin?«

Er verstand den Scherz nicht. Er holte einen Rezeptblock hervor. »Wer ist Ihr behandelnder Arzt?«

»Ich habe keinen. Wollen Sie meinen Hausarzt wissen? Er lebt in Connecticut.«

»Ich verschreibe nicht gerne, ohne das Krankenblatt des Patienten zu kennen.« Er schrieb eilig auf den Rezeptblock. »Ich werde Ihnen für den Moment ein mildes Mittel geben und abwarten, bis ich Ihren Krankenbericht habe, um Ihnen dann etwas Stärkeres zu verschreiben. Sie haben keinerlei gesundheitlichen Probleme, von denen ich wissen sollte, oder? Diabetes, Herzbeschwerden?«

»Nein.« Ich nannte ihm den Namen meines Arztes. »Wie lange wird es dauern, bis Sie den Bericht haben?«

»Kommt darauf an. Wenn er im Computer ist, haben wir ihn in ein paar Tagen. Falls nicht, könnte es mehrere Wochen dauern. Warum? Haben Sie große Schlafschwierigkeiten?«

»Nein«, sagte ich und steckte das Rezept ein, ohne es anzusehen. Sie hatte so große Schlafschwierigkeiten gehabt, daß Richard sie gleich von Anfang an auf Elavil gesetzt hatte. Er hatte kein EKG gemacht. Er hatte mir in dieser Telefonnachricht mitgeteilt, daß das EKG gerade aus dem Labor gekommen sei, aber ein EKG brauchte nicht ins Labor. Brouns Arzt las seines ab, sobald es aus dem Apparat herauskam. Er hatte gesagt, Annies Krankenblatt erwähne ein funktionelles Herzgeräusch, aber wie konnte es das, wenn es zwei bis vier Wochen dauerte, den Bericht zu bekommen? Annie hatte mir gesagt, er hätte ihr von Anfang an Elavil gegeben. Richard hatte kein EKG gemacht, und er hatte nicht auf den Bericht ihres Hausarztes gewartet. Das Elavil hatte die Träume verschlimmert, aber Richard hatte es damals noch nicht abgesetzt. Er hatte es erst abgesetzt, nachdem der Bericht eingetroffen war, als er sah, daß sie einen geringfügigen Herzfehler hatte und daß er ihr Elavil nicht hätte geben dürfen.

Er geriet in Panik und rief mich an, allerdings war ich nicht da. Ich war in West Virginia. Und wenn ich dagewesen wäre? Hätte er mir die Wahrheit gesagt? War er so außer sich vor Besorgnis gewesen, weil er einen schrecklichen Fehler gemacht hatte, weil er, als er die Träume hörte und sah, was sie Annie antaten, an nichts anderes hatte denken können als daran, wie er sie unterbinden könnte, und daß er, verflucht noch mal, nicht auf den Bericht des Hausarztes warten konnte, wenn es vielleicht einen Monat dauerte, bis er ihn bekam? Oder hätte er selbst da seine Onkel-Doktor-Stimme bei mir eingesetzt?

Warum hatte er sie auf Thorazin gesetzt? Um die Träume zu stoppen? Thorazin könnte einen Zug aufhalten, und es war nicht kontraindiziert. (Anmerkung: Plötzlicher Tod, besonders nach Herzstillstand, wurde beobachtet, doch es gibt keine ausreichenden Hinweise, daß ein Zusammenhang zwischen solchen Todesfällen und der Verabreichung dieses Medikaments besteht.) Oder gab er es ihr, um sie davon abzuhalten, wieder ins Institut zu gehen und Dr. Stone zu erzählen, daß er ihr ein Medikament gegeben hatte, das bei Herzpatienten ausdrücklich kontraindiziert war? Warum setzte Longstreet bei Pickett’s Charge nicht seine Truppen ein?

Lee ließ nach dem Krieg mit keinem Wort verlauten, daß er Longstreets Verhalten bei Gettysburg für etwas Schwerwiegenderes hielt als ›den Fehler eines guten Soldaten‹. Doch nach der Schlacht, als Colonel Venable voll Bitterkeit sagte: »Ich habe gehört, wie Sie General Longstreet angewiesen haben, Hoods Division einzusetzen«, da hatte Lee ihm die Schuld gegeben. Und ich gab Richard die Schuld. Ich versuche, als Arzt meine Pflicht zu tun. Mir liegt nur dein Bestes am Herzen.

Ich holte das Rezept aus meiner Tasche und sah es an. Brouns Arzt hatte ein Rezept über Elavil ausgestellt.

Im Juli ließ Broun seinen Arzt endlich die Bypass-Operation ausführen, gegen die er sich gesträubt hatte. Er überstand sie gut und überglücklich, denn während er unter Narkose stand, hatte niemand seinen Bart abrasiert, aber er zeigte keinerlei Interesse daran, am Lincolnbuch weiterzuarbeiten.

Er schickte mich nach Springfield, darüber klagend, daß er mit dem Buch nicht weiterkäme, ehe er nicht wüßte, wo Willie Lincoln begraben worden war. Ich verbrachte dort fast einen Monat mit dem Versuch, es herauszufinden, und dann kam ich zurück und begann das Gräberregister der Friedhöfe von Washington durchzusehen. Ich hatte das Rezept für Elavil in Springfield eingelöst. Es brachte die Träume vollkommen zum Erliegen und unterdrückte den REM-Schlaf so, wie ich es erwartet hatte.

Broun hatte die Arbeit an dem Buch noch nicht wieder aufgenommen, obwohl der Ort von Willie Lincolns Grab ein Detail war, das er leicht einfügen konnte, sobald er bekannt war. Er ließ mich eine Menge Recherchen machen, die anzusehen er sich niemals die Mühe machte, und im Herbst bekam er wieder Schmerzen in der Brust.

Im Oktober bestand er darauf, daß ich ihn zum Lincoln Memorial fuhr. »Ich glaube nicht, daß das eine gute Idee ist«, sagte ich. »Es gibt da eine Treppe. Sie wissen doch, daß Sie sich mit Treppen vorsehen sollen.«

Er stieg die Stufen hoch, ohne sich von mir helfen zu lassen, und betrat die Gedenkstätte, um sich die Lincolnstatue anzusehen. »Weißt du, auf welche Theorie noch keiner gekommen ist, trotz der ganzen Herumfahrerei in Kalifornien?« sagte er und betrachte den in seinem Marmorsessel sitzenden Lincoln mit seinen zu großen Ohren und der breiten Nase und den zu langen Beinen, die übergroßen Hände auf die marmornen Lehnen gelegt. »Daß er über seine Träume gelogen hat.«

»Gelogen?« fragte ich.

»Er liebte die Union«, sagte er. »Er hätte alles getan, um sie zu retten, selbst wenn es bedeutet hätte, sich einen Traum über ein Boot und eine düstere Küste aus den Fingern zu saugen, um sich im Kabinett den Rücken freizuhalten.« Seine Worte hallten von den kalten Wänden wider. »Er würde seinen eigenen Sohn geopfert haben, um seine geliebte Union zu retten.«

»Er hat Willie nicht geopfert«, sagte ich. »Er liebte Willie. Er hätte nie etwas getan, das ihn verletzen könnte. Willie starb an Typhus.«

»Er hätte zu Hause sein und sich um ihn kümmern sollen, anstatt sich auf irgendeinem Schlachtfeld herumzutreiben«, sagte er.

»Was meinen Sie eigentlich?« sagte ich. »Er hat sich nirgends herumgetrieben. Er war die ganze Zeit über an Willies Seite.«

»Ich hätte niemals nach Kalifornien fliegen sollen«, sagte Broun, der immer noch Lincoln ansah. »Ich hätte zu Hause bleiben sollen.«

»Es ist nicht Ihre Schuld«, sagte ich.

Broun ließ sich von mir die Treppe hinunterhelfen. Unten angelangt, wandte er sich um und sah zum Memorial hoch. »Es ist schon länger als ein Jahr her, nicht wahr?« sagte er.

»Anderthalb Jahre«, sagte ich.

Ich hatte das Elavil fast aufgebraucht. Ich rief Brouns Arzt an und bat ihn, mir ein neues Rezept zu schreiben. »Können Sie damit besser schlafen?« fragte er mich. »Sie haben keine Nebenwirkungen festgestellt, oder?«

»Nein«, sagte ich.

»Ihr Bericht ist eingetroffen. Ich werde ihn durchlesen, und wenn alles okay ist, stelle ich es Ihnen aus. Übrigens, interessiert sich Broun immer noch für Lincolns Träume?«

»Ich weiß es nicht.«

»Nun, falls ja, hier ist ein Artikel von einem Psychiater, der ihn interessieren könnte, einem Dr. Madison. Er behauptet, man könne sich in ein Magengeschwür oder Asthma hineinträumen…«

»Oder einen Herzanfall?«

»Genau. Interessante Theorie.« Er las mir den Titel des Artikels und der Zeitschrift vor, in der er ihn gelesen hatte. »Hier steht, Dr. Madison habe an der Duke Universität promoviert. Sie gingen doch auch zur Duke, nicht wahr? Vielleicht kennen Sie ihn. Richard Madison?«

Longstreet wurde nach dem Krieg recht erfolgreich, trotz der Kritik aus dem Süden, er trage die Schuld für die Niederlage bei Pickett’s Charge; er wurde Direktor einer Baumwollfabrik und anschließend Botschafter in der Türkei. Er veröffentlichte Artikel und ein Buch, in denen er sein Verhalten bei Gettysburg so lange rechtfertigte, bis er, glaube ich, zum Schluß selbst davon überzeugt war, daß er sich richtig verhalten hatte und keine Schuld trug an dem, was geschehen war.

»Nein«, sagte ich. »Ich kenne ihn nicht.« Ich begann, zwei Elavil auf einmal zu nehmen.

Nach dem Ausflug zur Lincoln Memorial hatte Broun das Lincolnbuch beiseite gelegt, die Recherchen und die Rohfassung in Kartons verpackt und sie mich auf den Speicher tragen lassen. Ich verbrachte die meiste Zeit in der Bibliothek. Ich versuchte immer noch herauszufinden, wo Willie Lincoln begraben lag, auch wenn Broun sich nicht mehr dafür interessierte. Ich sah alle Gräberregister der Städte rund um Washington durch und rief sogar in Arlington an, weil ich dachte, daß Commander Meigs Willie möglicherweise auf der Wiese vor Lees Haus begraben hatte.

Mir ging das Elavil wieder aus, doch ich rief den Arzt nicht wieder an. Ich träumte nicht besonders häufig, und wenn ich träumte, dann nicht von Annie. Ich träumte von einem Ort, den ich nie zuvor gesehen hatte, einem Ort mit grünen Hügeln und weißen Zäunen. Aus irgendeinem Grund glaubte ich, er befände sich in West Virginia.

Im Februar fand ich heraus, was mit Willie Lincoln geschehen war. Er war auf dem Oak Hill Friedhof in Georgetown beigesetzt worden, in der Gruft eines William Thomas Carroll, Beamter am Supreme Court und Freund der Lincolns.

Die Information fand sich in der Biographie von Mary Todd Lincoln in einer Zweigstelle der Bibliothek, und als ich sie las, schlug ich das Buch zu, riß es an mich und rannte hinaus. Alarmglocken schrillten, und Kate eilte auf die Treppe hinaus und rief mir nach: »Jeff, ist mit dir alles in Ordnung?« Ich gab ihr keine Antwort. Ich stieg ins Auto und raste zum Friedhof hinaus.

Die engen Wege zwischen den Gräbern waren so tief mit Schnee bedeckt, daß die meisten Grabsteine darin verschwanden, aber ich stieg aus dem Wagen und ging durch den Schnee zum Grab hinüber und betrachtete es, als glaubte ich, Willie Lincoln sei immer noch hier, als glaubte ich, er könnte mir, aufgestört in seinem Schlaf, sagen, wo Annie war und was mit ihr geschehen war.

Aber er war nicht da. Er war in Springfield, an der Seite seines Vaters. Ich hatte geglaubt, sein Grab zu finden würde bedeuten, herauszufinden, was mit ihm geschehen war, aber das wußte ich bereits, oder etwa nicht? Es war das gleiche, was mit ihnen allen geschehen war – mit Ben und Tom Tita und Little Hen. Sie waren alle im Krieg gestorben. Willies Pony war bei lebendigem Leib verbrannt, und Annie Lee war an einem Fieber gestorben, aber sie waren Opfer des Bürgerkriegs, und sie waren alle zusammen bei Fredericksburg begraben, zusammen mit Stonewall Jacksons Arm, unter einer numerierten Granitplatte, die nicht größer war als ein Fetzen Papier. Ich wußte, was mit jedem einzelnen passiert war, ausgenommen Annie. Und Traveller. Also ging ich durch den Schnee zurück und fuhr nach Hause und holte den Freeman hervor.

Ich wußte, daß Traveller Lee überlebt hatte, weil ich mich daran erinnerte, daß er in Lees Trauerzug mitgeführt wurde, doch anschließend wurde er in Freemans letztem Kapitel nicht mehr erwähnt, und bei Davis oder selbst in Robert E. Lee Juniors Erinnerungen an seinen Vater stand überhaupt nichts über ihn.

Ich ging in den Wintergarten hinunter und fand dort Sanborns Robert E. Lee, ging wieder ins Arbeitszimmer hinauf und durchstöberte die Bücherstapel, die Broun auf seinem Schreibtisch und dem Ledersessel aufgetürmt hatte, um zu sehen, ob Traveller irgendwo erwähnt wurde. Pierson erwähnte sozusagen im Vorbeigehen, daß Traveller auf der Farm eines Freundes untergebracht wurde, weil Mrs. Lee zu krank war, um ihn zu versorgen. In Loveseys Pferd und Reiter stand, er habe »noch zwei Jahre gelebt und treu auf seinen Herrn gewartet, der nie wiederkommen sollte«. Hinsdale schrieb, man habe ihn weiter in dem Stall stehenlassen, den Lee für ihn gebaut hatte, bis er in einen Nagel trat, Wundstarrkrampf bekam und erschossen werden mußte.

Ich betrachtete die Worte eine Weile und ging dann noch einmal zu dem letzten Freeman-Kapitel zurück, obwohl ich bereits alles wußte, was man wissen konnte: Traveller hatte das Unglück gehabt, den Menschen, den er liebte, zu überleben, er hatte fast zwei Jahre lang gewartet, und wo er während dieser zwei Jahre gewesen war, bedeutete nicht mehr als zu wissen, wo Willie Lincoln die letzten drei Kriegsjahre zugebracht hatte. Und dann war er gestorben. Freeman konnte mir nicht mehr sagen als dies, doch ich nahm ihn mir trotzdem noch einmal vor und notierte mir aus dem Index die er Seitenzahlen hinter ›Traveller‹, als wären sie Ziffern der Gefallenenliste auf dem Grab irgendeines Soldaten. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß Freeman, der Lee genug verehrt hatte, um vier Bände über ihn zu schreiben, Traveller vergessen haben sollte. Das hatte er auch nicht.

Es stand im Anhang des ersten Bandes. Er schrieb, daß Traveller an Wundstarrkrampf gestorben und in Washington auf dem Gelände der Lee-Universität begraben worden sei. Seine Gebeine waren von der Patriotischen Frauenvereinigung später exhumiert und in das Kellergeschoß der Kapelle der Lee-Gedenkstätte gebracht worden. In die Nähe von Lees Grab.

Im März fuhr ich Broun zu seinem Arzt, und er bekam eine einwandfreie Gesundheit attestiert.

»Er meinte, ich könnte tun, was ich wollte, Treppen steigen, ein Buch schreiben«, sagte er auf dem Rückweg. »Ich will ein Buch über Robert E. Lee schreiben.« Er wartete auf meine Reaktion.

»Und Traveller«, sagte ich.

»Natürlich auch über Traveller.«

 

Wir begannen mit der Arbeit an dem neuen Buch. Broun schickte mich nach Arlington, damit ich mir Notizen über die Veranda und den Salon und den Speicher machte, auf dem Tom Tita eingesperrt worden war. Am Nachmittag sollte ein Militärbegräbnis stattfinden, und alle Zufahrten waren gesperrt. Ich mußte den Wagen auf dem Besucherparkplatz abstellen und den Hügel zu Fuß hinaufgehen. Es war ein warmer Tag, der erste seit mehr als zwei Monaten, und der Schnee, der im Februar gefallen war, begann gerade zu schmelzen. Das Wasser rann in Bächen neben den geschwungenen Wegen hinab.

Auch die Custis Promenade war gesperrt. Ich mußte über das Gras zur Villa Arlington gehen. Ich kam bis zum Grab. Die Arbeiter hatten den Schnee so weit niedergetrampelt, daß stellenweise das Gras zu sehen war. Sie hatten einen kleinen Bagger dazu benutzt, um das Grab auszuheben, und zu beiden Seiten Schnee aufgehäuft, der ebenfalls zu schmelzen begann und in trüben Bächen über das Gras und die Schneedecke floß.

Die Arbeiter waren weggegangen, um zu Mittag zu essen oder eine Zigarette zu rauchen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Grabes hatten sie unter einem Baum ein metallenes Clipboard liegengelassen, in dem ein Zettel eingeklemmt war. Es mußte der Name der Person daraufstehen, für die das Grab bestimmt war, und ich wollte zu dem Baum hinübergehen und ihn lesen, doch ich hatte Angst, daß ich es nicht wieder zurück schaffen könnte, daß der Boden nachgeben und daß ich auf die verstümmelten Toten treten würde.

»Es hat etwas mit Arlington zu tun, und mit dem unbekannten Soldaten und einer Nachricht«, hatte Annie gesagt, um ein Verständnis der Träume bemüht. »Ich glaube, er hat versucht, zu sühnen«, und ich hätte sie, anstatt sie anzuschreien, fragen sollen: »Wodurch will er das erreichen?« Denn natürlich waren ihre Träume eine Art von Buße gewesen.

Er hatte versucht, sie zu warnen. Seine Tochter Annie war gestorben, und er hatte nichts tun können, um sie zu retten. Er hatte keinen einzigen retten können, weder Stonewall Jackson noch die zerlumpten Soldaten, die er in die Schlacht zurückschicken mußte, noch die Konföderation. Aber er konnte Annie retten. Sie erinnerte ihn an seine Tochter, und sie war dreiundzwanzig Jahre alt. Er versuchte, sie zu warnen.

Die Träume waren erschreckend, voller Bilder vom Tod und vom Sterben. Sie sollten sie erschrecken, damit sie einen Arzt aufsuchte, bevor es zu spät war, eine Warnung, so klar, so leicht zu deuten wie Lincolns Erscheinung, als er sich selbst im Sarg liegen sah, bloß verstand es keiner. Ausgenommen Annie, und sie hörte nicht darauf.

»So war das mit den Menschen im Krieg«, hatte Broun gesagt, »sie verliebten sich, und sie opferten sich auf.« Sie waren Nacht für Nacht zusammen gewesen, Schlacht auf herzzerreißende Schlacht. Sie hätte sich in ihn verlieben müssen, nicht wahr? Und dann, obgleich sie wußte, daß die Träume eine Warnung waren, obwohl die Warnungen deutlicher und weniger erschreckend wurden und Lee sogar bereit war, wieder von Appotomax zu träumen, seinen eigenen Tod für sie zu träumen, um sie zu warnen, konnte sie ihn nicht verlassen.

Sie war bis zum Ende bei ihm geblieben, wie sie es versprochen hatte, und wenn der Schnee ein bißchen weiter schmolz, würde ich ihren Körper sehen können; mit dem Gesicht nach unten, die Arme ausgestreckt, immer noch die Springfield umklammernd. Ich lehnte mich gegen den Bagger, unfähig, aufrecht zu stehen.

Ich konnte die quadratischen weißen Eingänge der U-Bahn erkennen, die wie Grabsteine aussahen, und hinter ihnen, jenseits des Flusses, das quadratische weiße Grabmal des Lincoln-Memorials. Ich dachte an die Statue in seinem Innern, wo Lincoln saß, seine langen Beine vor sich aufgepflanzt und die Hände auf die Sessellehnen gelegt, und aussah wie ein Mann, der ein Kind verloren hat.

Lincoln war zum Friedhof in Georgetown hinausgefahren und hatte die Gruft zweimal öffnen lassen und, glaube ich, sich davon zu überzeugen versucht, daß Willie wirklich tot war. Doch es hatte nicht wirklich geholfen. Es hatte nichts geholfen, und er konnte nicht schlafen, und sein Kummer machte ihn fast wahnsinnig. Bis ihm schließlich, in Brouns Worten, Willies Gesicht im Traum erschienen war, um ihn zu trösten. So wie mir Annies Gesicht erschienen war, obwohl sie längst tot war.

Obwohl sie tot war.

Ich brauchte lange, um zur Straße zurückzugelangen, wie eine Katze mit hohen Schritten zwischen den verschneiten Gräbern entlangstaksend, und noch viel länger, um nach Hause zu fahren. Als ich dort ankam, war Broun im Wintergarten und goß die afrikanischen Veilchen.

Ich stand an die Tür gelehnt, immer noch im Mantel, und sah zu, wie das Wasser aus den bereits vollen Töpfen auf den Tisch überlief. Er wird nie wie Lincoln aussehen. Die Herzanfälle haben sein Gesicht älter und irgendwie trauriger gemacht, und sein Bart, der endlich, nach fast zwei Jahren, so aussieht, wie er es haben wollte, ist fast weiß.

Ich fragte mich, warum mir das nicht schon früher aufgefallen war, warum ich statt dessen das Bild festgehalten hatte, das er an dem Abend des Empfangs geboten hatte, das eines gerissenen, verrufenen, wenig vertrauenerweckenden Mannes. Er war immer nur gut zu mir gewesen. Und eines verschneiten Abends verkaufte er mich an Annie, die die Träume eines anderen träumte.

»Jeff wird sich gut um sie kümmern«, hatte Broun gesagt, wie ein Mann, der ein Geschäft abschloß, »nicht wahr, Jeff?«

Und ich hatte gesagt: »Ich kümmere mich um sie. Ich verspreche es.«

Ich glaube, unbewußt habe ich ihm das die ganze Zeit über vorgeworfen, der Tatsache zum Trotz, daß er nur nett zu sein versucht hat und mich ebenso liebt, glaube ich, wie Lincoln Willie geliebt hat, und er hier unten nicht deshalb ist, weil die Veilchen gegossen werden müssen, sondern weil er sich gefragt hat, wo ich war, weil er nicht wußte, was mit mir los war.

Ich habe ihm etwas vorgeworfen, wofür er gar nicht verantwortlich war. Es war bei beiden Liebe auf den ersten Blick, nicht wahr? Hatte Lee ihn nicht ›mein Fohlen‹ genannt, noch ehe er ihn gekauft hatte?

Ich war ihr von der ersten Minute an verfallen, als ich sie dort in ihrem grauen Mantel stehen sah, und sie nahm mich, ihren treuen, folgsamen Begleiter, nach Fredericksburg mit, und von dort nach Chancellorsville und nach Gettysburg und schließlich nach Appomattox, und dann verließ sie mich.

»Ich hätte dich nicht dorthin schicken sollen«, sagte Broun.

Ich kann nicht antworten. Ich stehe dort neben der Tür, atemlos, erschöpft. Armer Traveller. Wußte er, daß Lee tot war, oder hatte er, das arme, dumme Tier, zwei Jahre lang täglich auf seine Rückkehr gewartet?

»Was ist passiert?« fragt Broun besorgt. »Stimmt etwas nicht?«

»Ich bin in einen Nagel getreten.«