7

 

Drei Pferde wurden D. H. Hill bei Antietam unter dem Sattel weggeschossen. Lee ritt Traveller während der ganzen Schlacht, obwohl es ihm mit seinen bandagierten Händen schwerfiel, die Zügel zu halten. Als General Walker seine übriggebliebenen Männer in der folgenden Nacht durch die Furt nach Virginia hinüberbrachte, saß Lee auf Traveller in der Mitte des Flusses. »Wie viele Divisionen kommen noch?« fragte Lee, und als ihm Walker sagte, das hier wäre die letzte, ausgenommen einige Wagenladungen Verwundete, die gleich hinter ihm kämen, sagte Lee: »Gott sei Dank!« Es kam Walker so vor, als habe er dort schon die ganze Nacht gestanden.

 

ANNIE HATTE KEINE WEITEREN TRÄUME. Ich döste im grünen Sessel, bis es draußen hell wurde, und legte mich dann ins Bett und schlief bis nach neun. Annie schlief noch immer tief und fest, aber Richard war schon auf. Er hatte bei Broun angerufen und mir eine weitere Nachricht hinterlassen.

»Ganz offensichtlich projizierst du deine Feindseligkeit auf mich als Autoritätsperson, aber natürlich ist Broun das eigentliche Objekt deines Ärgers. Du überträgst deine eigenen Rachephantasien auf Annies emotionale Krankheit, aber in Wirklichkeit ist dein Gegner Broun.«

Er pausierte lange genug, damit ich sagen konnte: »Du bist der Gegner, du Bastard.«

»Dein Bewußtsein kann nicht akzeptieren, daß du auf Broun zornig bist, weil sein Name auf den Büchern steht, die du recherchiert hast, und deshalb verschleiert dein Unbewußtes diesen Zorn, indem es Annies neurotische Träume zu Robert E. Lees Träumen macht. Auf diese Weise kann dein Unbewußtes Broun den Krieg erklären, so wie Lee Lincoln den Krieg erklärt hat. Das ist ein weitverbreitetes Phänomen bei neurotischen Patienten.«

»Und wie steht es damit, Patienten unter Drogen zu setzen? Ist das ein weitverbreitetes Phänomen bei neurotischen Psychiatern?«

Annie war in ihrem Nachthemd im Türrahmen aufgetaucht. Sie sah verängstigt aus. »Mit wem hast du gesprochen, Jeff? Mit Richard?«

»Ich habe mit niemandem gesprochen«, sagte ich und streckte ihr den Telefonhörer hin, damit sie zuhören konnte. »Es ist der Anrufbeantworter. Richard weiß nicht, wo wir sind, also versucht er dich auf diese Art zurückzuholen, mittels Fernanalyse. Du wirst dich freuen zu hören, daß ich heute derjenige bin, der verrückt ist.« Ich hielt den Hörer wieder ans Ohr. »Das kann eine Weile dauern. Brouns Anrufbeantworter kann bis zu drei Stunden Nachrichten speichern. Warum ziehst du dich nicht an, und wir gehen frühstücken. Um elf sind wir mit dem Veterinär verabredet.«

Sie nickte und verschwand im anderen Zimmer. Ich hörte mir den Rest von Richards Ansprache an, vergewisserte mich, daß Broun nicht noch eine weitere Nachricht durchgegeben hatte und löschte alles auf dem Apparat. Wenn Broun unterwegs war, rief er im allgemeinen keine Nachrichten ab. Er hinterließ Nachrichten für mich, wo er zu erreichen war, und dann ließ er mich zurückrufen und die Dinge durchsagen, die keinen Aufschub duldeten. Ich glaubte nicht, daß er auf dieser Reise seine Nachrichten abgerufen hatte, zumal dann nicht, wenn er glaubte, daß ich da sei, um sie entgegenzunehmen, aber ich hielt es für besser, den Apparat täglich anzurufen, um sie abzuhören und das Band gegebenenfalls zu löschen. Ich wollte nicht, daß Broun Richards Gerede zu hören bekam.

Annie kam zurück und stellte sich wieder in den Türrahmen. »Ihr wart einmal befreundet, nicht wahr?« sagte sie. »Vor alldem.«

»Wir waren Stubenkameraden. Ich schätze, wir waren Freunde, aber wir haben uns schon lange in verschiedene Richtungen entwickelt.« Ich zog mein Jackett an. »Er war der Meinung, ich sollte an Stelle von Geschichte besser etwas Nützliches studieren.«

»Tut mir leid«, sagte Annie.

»Was? Daß ich Geschichte studiert habe?« Ich grinste sie an. »Es hat sich vielleicht doch als gar nicht so nutzlos erwiesen.«

Wir gingen hinüber zum Coffeeshop. Es war voller Menschen, die aussahen, als wären sie unterwegs zur Kirche. Wir hatten eine andere Serviererin als die, die uns am Vortag mit Kaffee versorgt hatte, einen hübschen Rotschopf, kaum älter als Annie, aber sie kam ebenfalls sofort mit der Kaffeekanne herüber. »Sie sind bestimmt Touristen«, sagte sie, als sie die Karte von Virginia sah, die ich mitgebracht hatte. Sie zog zwei Speisekarten unter dem Arm hervor und reichte sie uns. »Waren Sie schon auf dem Schlachtfeld?«

»Nein«, sagte Annie. »Wir waren noch nicht dort draußen.«

»Ich glaube, das sollten sie aber sehen. Es ist das einzige, wofür Fredericksburg berühmt ist.« Sie stellte die Kaffeekanne ab und fischte einen Bestellblock aus ihrer Tasche. »Die Nationalparksverwaltung hat es wirklich hübsch hergerichtet. Es gibt eine elektrische Karte, alles mögliche. Also, was hätten Sie gern? Eier? Pfannkuchen?«

Die Serviererin nahm unsere Bestellung auf, verabreichte unseren halbvollen Tassen, was sie eine ›Auffrischung‹ nannte, und ging zur Küche.

»Sagtest du, die Verabredung mit dem Tierarzt wäre um elf?« sagte Annie.

»Ja, aber es liegt außerhalb, deshalb sollten wir uns Zeit nehmen, es zu finden. Du hattest heute nacht keine neuen Träume mehr, oder?«

Sie schüttelte den Kopf.

»War der Traum anders als die anderen? Ich meine, ich weiß, daß er von Fredericksburg handelte, aber war er von derselben Art wie die anderen?«

Sie dachte eine Minute lang darüber nach. »Er war klarer als die anderen Träume. Ich weiß nicht genau, wie ich es beschreiben soll, aber er hatte mehr Sinn.« Sie schüttelte wieder den Kopf. »Nein, das trifft es nicht. Ich habe immer noch keine Ahnung, wo ich bin oder was die Dinge im Traum bedeuten, bis du es mir hinterher erklärst, aber es ist, als würde ich dem Verständnis der Träume allmählich näherkommen.«

»Du meinst, wo sie herkommen?«

»Ich weiß nicht. Es ist… Ich kann es nicht erklären. Sie werden klarer.« Und erschreckender, dachte ich, indem ich ihr Gesicht beobachtete. Was immer sie zu verstehen lernen meint, es macht ihr Angst.

Die Serviererin brachte unser Frühstück und weiteren Kaffee. Ich wartete, bis Annie mit ihren Eiern fertig war, dann fragte ich sie: »Wann träumst du im allgemeinen? Diese Nacht hast du gesagt, du träumst gewöhnlich nicht nach Mitternacht.«

»Zwischen neun und Mitternacht. Deshalb war Richard bei dem Empfang so aufgeregt, weil es nach neun war. Ich glaube, er dachte, ich könnte auf dem Sofa einschlafen oder sowas, aber ich habe ja schließlich keine Narkolepsie. Ich habe nur schlechte Träume.«

»Du meintest an dem Nachmittag, als ich dich von Arlington zurückbrachte, das Thorazin hätte dich vom Träumen abgehalten. Hast du die Träume auch tagsüber?«

»Als die Träume anfingen, schlimm zu werden, dachte ich, wenn ich bis nach Mitternacht aufbliebe, würden sie vielleicht von alleine aufhören, und es funktionierte eine Weile, aber dann fing ich an zu träumen, sobald ich eingeschlafen war, und dann versuchte ich, nachts aufzubleiben und tagsüber zu schlafen, aber das klappte auch nicht.«

»Und das war vor zwei Wochen?«

»Ja.«

»Und du standest in der Zeit unter dem Einfluß von Elavil?«

»Ja. Ich hatte es anderthalb Monate lang genommen.«

»Hielt es Richard für sonderbar, daß du geträumt hast? Antidepressiva sind dafür bekannt, daß sie den Traumzyklus unterdrücken. Hat Richard irgend etwas darüber gesagt?«

»Er war zunächst etwas besorgt darüber, aber er meinte, es könnte eine Weile dauern, bis das Elavil zu wirken begänne, und ich schlief auch viel besser. Ich wachte nicht mehr so oft auf, und ich hatte viel mehr Ruhe.«

»Wie war das, als die Träume schlimmer… klarer wurden?«

»Er meinte, das wäre ein gutes Zeichen. Das, was die Träume auslösen würde, wäre nahe am Durchbruch, und mein Unbewußtes verschaffe sich allmählich Gehör.«

Ich war davon ausgegangen, daß er das Elavil deshalb bei ihr abgesetzt hatte, weil es nicht wirkte oder die Träume sogar noch schlimmer machte. Wenn er es nicht aus diesem Grund getan hatte, warum dann? Annie zufolge hatte er sich wegen der Träume gar keine Sorgen gemacht, aber etwas war geschehen, das ihn so erschreckt hatte, daß er ihr Thorazin gegeben hatte, um sie zu unterbinden.

Die Serviererin unternahm einen neuen Frontalangriff auf unsere Kaffeetassen, und Annie und ich versuchten beide vergeblich, sie davon abzuhalten. »Vielleicht sollten wir besser gehen, ehe sie uns mit diesem Zeug ertränkt.« Ich sah auf meine Uhr. »Es ist Viertel nach zehn. Warum machen wir uns nicht auf die Socken und sehen, ob wir diesen Dr. Barton finden können?«

»Einverstanden«, sagte Annie. Sie faltete ihre Serviette und legte sie auf den Tisch.

»Hast du irgendwas genommen, bevor du zum Institut kamst? Du meintest, dein Arzt hätte dich ins Institut überwiesen. Hat er dich irgendwelche Beruhigungsmittel nehmen lassen?«

Wir standen auf. »Phenobarbital«, sagte sie und nahm ihren Mantel.

»Wußte Richard davon?«

»Ja, er hat sich darüber aufgeregt. Er meinte, kein Mensch benütze noch Barbiturate und bestimmt nicht in Fällen von zu leichtem Schlaf, und meine Behandlung wäre vollkommen falsch gewesen.«

»Und du hast das Phenobarbital nicht weiter genommen?«

»Nein.«

Ich reichte Annie die Karte und holte die Anweisungen aus der Brieftasche, die mir die Frau des Tierarztes gegeben hatte. Im Süden der Stadt, hatte sie gesagt, hinter Hazel Run in der Massaponax Road. Ein Haus mit einer Veranda.

Alle Häuser hatten Veranden, und wir schlängelten uns durch mindestens drei Straßen mit Namen Massaponax, ehe wir es gefunden hatten. Dr. Barton war gerade eben von seiner Runde zurückgekehrt, und er hatte immer noch ein paar Tiere da, um die er sich kümmern mußte, erzählte uns seine Frau. Sie war viel jünger, als sie am Telefon geklungen hatte, kaum älter als Annie. Sie sagte uns, wir könnten gerne nach hinten zum Stall gehen und dort mit ihm sprechen.

Der Veterinär war ebenfalls jung, mit einem dünnen, jungenhaften Schnurrbart, und offensichtlich hatte er nie Akromegalie gehabt. Er war nur einsfünfundsiebzig groß. Er trug ein blaues Hemd mit aufgesetzten Taschen, Jeans und hohe Stiefel, die ihm das Aussehen eines Offiziers der Unionsarmee gaben.

»Was kann ich für Sie tun?« sagte er, mit einer rotbraunen Stute mit einem verletzten Fuß beschäftigt.

»Ich bezweifle, daß Sie etwas für mich tun können«, sagte ich. »Ich habe mich geirrt. Ich habe nach einem Dr. Barton gesucht, der an Akromegalie leidet.«

»Das war mein Vater«, sagte er und hob den linken Hinterfuß der Stute an. »Ich habe Mary gesagt, ich wette, daß Sie den sprechen wollten, als sie mir sagte, daß sie Dr. Stones Namen erwähnt hätten.« Er ließ den Fuß los. »Dad starb vergangenen Herbst an einem Herzanfall. Worüber wollten Sie mit ihm sprechen?«

»Ich arbeite für Thomas Broun.« Der Tierarzt nickte, als hätte er schon von ihm gehört. »Er schreibt an einem Buch über Abraham Lincoln. Lincoln hatte Akromegalie.«

»Ich weiß«, sagte er. »Dad hat sich immer für andere Leute interessiert, die Akromegalie hatten, besonders für berühmte Leute. Edward den Ersten, den Pharao Echnaton, besonders aber Lincoln. Ich glaube, weil er in den letzten Jahren Lincoln ähnlich zu werden begann. So ist das nun mal, wissen Sie, mit der Akromegalie. Sie bekommen alle große Ohren und eine große Nase und diese breiten Hände.«

Er hob jeden einzelnen Fuß der Stute hoch, einen nach dem andern, legte seine Hand flach gegen die Sohle und setzte den Fuß dann wieder ab, damit die Stute ihr Gewicht darauf verlagern konnte. Als er zum rechten Vorderfuß gelangte, hielt die Stute den Fuß länger als eine Minute über dem Boden und setzte ihn dann vorsichtig auf. Annie hatte sich auf einen Heuballen gesetzt und beobachtete ihn.

»Broun interessiert sich hauptsächlich für Lincolns Träume«, sagte ich.

»Der Bootstraum, wie?« Er hob den Vorderfuß hoch, betrachtete ihn und setzte ihn wieder ab. Diesmal stellte ihn die Stute fest auf den Boden. »Dad war immer fasziniert davon.«

»Bootstraum?«

»Yeah. Lincoln träumte ihn immer wieder.« Er wandte sich wieder den Füßen der Stute zu, hob sie an, setzte sie ab. Als er den rechten Vorderfuß losließ, setzte ihn die Stute auf, hob ihn aber sofort wieder hoch und hielt ihn weiter über dem Boden. »In dem Traum befand er sich in einem Boot, das auf eine dunkle, verhangene Küste zutrieb. Er träumte ihn immer in der Nacht vor einer Schlacht: Bull Run, Antietam, Gettysburg. Er träumte ihn auch in der Nacht, bevor er ermordet wurde.«

Ich sah Annie an, weil ich mir Sorgen machte, welche Auswirkungen all dieses Gerede über Träume auf sie haben würde, doch sie schien sich mehr für die Stute als für unser Gespräch zu interessieren.

»Hat ihr Vater jemals irgendwelche Träume erwähnt?«

Er zog ein kleines gekrümmtes Messer aus einer Hemdtasche hervor. »Über Boote? Ich glaube nicht. Warum?«

»Broun glaubt, Lincolns Träume könnten etwas mit seiner Akromegalie zu tun gehabt haben. Hat er irgendwann einmal erwähnt, daß die Akromegalie ihn dazu veranlassen würde, viel zu träumen?«

»Das ist eine interessante Theorie.« Er dachte eine Minute lang nach. »Ich kann mich nicht daran erinnern, daß Dad jemals irgendwelche Träume erwähnt hat. Falls sie sich ein wenig mit Akromegalie auskennen, dann wissen Sie, daß sie mit Kopfschmerzen und Depressionen einhergeht. Mein Vater war ein sehr unglücklicher Mann. Er sprach nicht viel, zumal nicht über seine Akromegalie. Er erzählte mir ebensoviel über seine Symptome, wie es diese Stute tut. Die einzigen Gelegenheiten, wo ich ihn darüber sprechen hörte, war in Verbindung mit Berühmtheiten wie Lincoln oder Echnaton. Dem Ende zu wurde das bei ihm beinahe zur Obsession.«

Er hob den rechten Vorderfuß hoch und schnitt die Unterseite des Hufs mit der gekrümmten Klinge aus. »Wo wir schon von Echnaton sprechen, die Ägypter konnten sich wirklich für Träume begeistern«, sagte er. »Sie schrieben sie auf, engagierten Wahrsager, um sie interpretieren zu lassen und glaubten, daß ihre Träume die Zukunft vorhersagen konnten. Es könnte etwas darüber geben…« Er wischte die Späne weg und betrachtete die Unterseite des Hufs. »Nein, ich bezweifle, daß es etwas über Echnatons Träume gibt. Der nächstbeste Pharao, Ramses, hat beinahe alle Spuren von ihm verwischt. Warf alle seine Statuen um, ließ seinen Namen auskratzen, wo er ihn nur finden konnte, verbrannte alles.«

»Woher weiß man dann, daß er Akromegalie hatte?«

»Man weiß es nicht genau«, sagte er. Er machte sich mit der Messerspitze am Huf zu schaffen und runzelte die Stirn. Er ließ den Fuß los und beobachtete, wie die Stute ihn auf den Boden setzte. Sie verlagerte ihr Gewicht darauf, ohne zu zögern. »Es war nur ein Steckenpferd von Dad. Es gibt eine Menge Wandmalereien und Statuen, die Ramses übriggelassen hat. Er ist darauf mit verlängerten Ohren und breiter, flacher Nase abgebildet, und die wenigen Aufzeichnungen, die es über ihn gibt, erwähnen seine Größe. In einer der Hieroglyphenschriften wird er auch als melancholisch bezeichnet, was, wie ich bereits sagte, eines der Symptome der Akromegalie darstellt.«

»Oder des Wissens, daß der nächste Pharao alles tun wird, damit einen die Nachwelt vergißt«, sagte ich.

Er grinste. »Richtig. Es ist nichts als ein Glücksspiel, Vermutungen darüber anzustellen, welche Krankheiten die Leute früher hatten. Oder darüber, welche Krankheiten sie heute haben, was das betrifft.« Er faßte die Stute am Zaumzeug und führte sie neben uns auf und ab, wobei er genau aufpaßte, welchen Fuß sie bevorzugte.

»Bei Tieren ist es wirklich ein Ratespiel. Sie können einem nicht sagen, wo es weh tut oder was sie zu haben glauben. Wie diese Stute hier«, sagte er. Er führte sie immer wieder im Kreis herum. »Sie hat einen wehen Fuß, wahrscheinlich eine beschädigte Hufhaut oder eine Verletzung von einem Hufnagel, aber es könnte ebensogut Laminitis oder ein Hühnerauge oder etwas ganz anderes sein. Ich finde die Entzündung nicht, also kann ich es nicht sagen. Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, besteht darin, sie sich selbst zu überlassen, bis es wirklich schlimm geworden ist. Dann kann man die Infektion einfacher finden – der Huf reagiert empfindlich auf Berührungen, sie wird ihn nicht belasten können, und sie wird eine Menge andere Symptome entwickeln. Das Problem dabei ist, daß es darin zu spät sein könnte, um ihr noch zu helfen, besonders wenn sie sich mit einem Nagel verletzt hat. Ich muß es jetzt herausfinden.«

»Was ist, wenn sie es nicht herausfinden?« sagte Annie.

»Dann gebe ich ihr eine Tetanusspritze und warte, bis ich es herausfinden kann, aber irgendwann schaffe ich es. Die Hinweise auf das, was vor sich geht, sind vorhanden. Man muß in diesem Stadium nur ein bißchen genauer hinschauen, um sie zu erkennen.« Er brachte die Stute zum Stehen, band den Zügel sorgfältig an einem Geländer fest und hob erneut den rechten Vorderfuß an. »Bei Tieren hat man entweder zu viele oder nicht genug Symptome, und das eine ist so schlecht wie das andere. Letzte Woche hatte ich einen Braunen hier, der alle Symptome aus dem Lehrbuch hatte und noch ein paar dazu. Mußte aus einem Dutzend Krankheiten aussortieren, bis ich die richtige hatte. Aber für eine richtig harte Nuß bin ich immer zu haben, Sie nicht auch?«

Er schabte den angebackenen Schmutz vom Huf, wobei er die Messerschneide hochkant stellte, um nahe an das Hufeisen heranzukommen. Das brachte uns alles nicht weiter, aber der Stall war warm und duftete nach trockenem Heu, und Annie machte den Eindruck, als dächte sie über den wehen Fuß der Stute nach, und nicht über jenes andere Pferd mit den abgeschossenen Beinen. Dr. Barton drang mit seinem Messer in den Huf ein, und die Stute schüttelte den Kopf, als wollte sie damit sagen, daß er aufhören solle. Annie stand auf und ging zu ihr hinüber, faßte den Zügel dicht unter dem Kinn und streichelte ihren Hals.

»Ihr Vater sprach niemals über seine Träume, nicht einmal in Verbindung mit Lincolns Bootstraum?«

»Nicht mit mir. Letztes Jahr zog er nach Georgia um, als er Probleme mit dem Herzen bekam. Wußten Sie, daß Akromegalie mit hohem Blutdruck und Herzbeschwerden einhergeht?«

»Nein, das wußte ich nicht.«

Er hörte mit dem Schaben auf und setzte den Fuß des Pferdes ab. »Dad könnte mit meiner Schwester über seine Träume gesprochen haben. Sie war immer sein Liebling, und er hat mit ihr häufiger gesprochen als mit uns anderen. Möchten Sie, daß ich sie anrufe?«

»Das wäre sehr freundlich von Ihnen«, sagte ich und schrieb ihm unsere Telefonnummer vom Gasthof auf. »Fragen Sie sie, ob er irgendwelche Träume gehabt hat. Sie müssen nicht unbedingt von Booten handeln.«

»Boote«, sagte er nachdenklich, faltete das Stück Papier und steckte es in seine Tasche. Die Stute hatte sich beim Stoßen mit dem Kopf mit der Mähne im Zaumzeug verheddert. Annie zog ihre Stirnlocke darunter hervor, glättete sie und tätschelte der Stute die Stirn. »Die Ägypter haben oft von Booten geträumt. Symbol der Überfahrt zum Land der Toten.«

Wir überließen den Arzt dem Geheimnis des wehen Fußes und fuhren zum Gasthof zurück. Unterwegs hielten wir an, um bei McDonalds zu Mittag zu essen, und nachdem wir wieder im Gasthof angelangt waren, machte Annie ein Schläfchen.

Ich rief den Anrufbeantworter an. Eine Unmenge von Leuten hatte angerufen, die noch nicht wußten, daß Broun verreist war, außerdem hatte Richard eine neue Nachricht auf dem Apparat hinterlassen.

»Ich habe mir das Ergebnis von Annies Bluttest angesehen, und ich glaube, ich habe jetzt den Schlüssel zu den Vorgängen gefunden«, sagte er mit seiner Onkel-Doktor-Stimme. »Ihr L-Tryptophan-Spiegel läßt auf Kryptomnesie schließen.« Er wartete lange genug, damit ich mich fragen konnte, was Kryptomnesie war. »Sie tritt dann auf, wenn der Patient frühe Erinnerungen als wirklich ausgibt, etwas, das der Patient gesehen oder in einem Buch gelesen und aus seinem Bewußtsein gelöscht hat. Das Unterbewußtsein stellt dieses Material als Wirklichkeit wieder her. Bridey Murphy. Ihre Erinnerungen an ein früheres Leben in Irland waren Geschichten, die ihr Kindermädchen ihr erzählt hatte, als sie noch nicht sprechen konnte, und unter Hypnose präsentierte sie sie dann als früheres Leben.«

»Annie wurde nicht hypnotisiert«, sagte ich. »Sie wurde medikamentiert.«

»Offenbar hatte sie in frühestem Kindesalter mit jemandem Kontakt, der ihr Geschichten über den Bürgerkrieg erzählt hat, aber es besteht auch die Möglichkeit, daß sie erst in letzter Zeit Romane über den Bürgerkrieg gelesen hat. Vielleicht hat sie eins von Brouns Büchern gelesen. Das würde ihre gegenwärtige neurotische Bindung an dich erklären. Sie durchläuft einen schizophrenen Auflösungsprozeß, und du repräsentierst für sie Broun.«

Jetzt war es also Kryptomnesie, und ich repräsentierte Broun. Am Morgen war es noch eine Rachephantasie gewesen, und Broun hatte Annies Träume repräsentiert. Und zuvor war es eine psychotische Krise und ein halbbegrabenes Trauma und ein Mord im Obstgarten mit einer Schreckschußpistole gewesen, und wer wollte sagen, was es sein würde, wenn Richard das nächste Mal anrief, und in all diesen Anrufen kein einziges Wort über das Thorazin, das er ihr gegeben hatte.

Glaubte der Knallkopf tatsächlich, mich mit all diesem psychiatrischen Gefasel dazu überreden zu können, Annie zurückzubringen? Vielleicht war er derjenige, der bescheuert war, und sein ganzes Gequatsche über Annies unterdrückte Schuldgefühle und meine Obsession und Lincolns drohenden Nervenzusammenbruch war nichts als – wie lautete der richtige psychiatrische Ausdruck? – eine Projektion.

Ich rief Broun unter der Nummer an, die er mir vor seinem Abflug nach Kalifornien gegeben hatte. »Wie geht’s denn so?« fragte ich. »Haben Sie Ihren Traumexperten zu sehen bekommen?«

»Er sagte mir, Zeit und Raum seien nicht wirklich, sie existierten nur in den bewußten Regionen unseres Gehirns. Im Unterbewußtsein gäbe es so etwas wie ein Raum-Zeit-Kontinuum nicht. Er behauptete, alles, was jemals geschehen ist oder noch geschehen wird, wäre schon in unserem Unterbewußtsein enthalten, und in den Träumen zeigte es sich.« Er sprach so, wie er immer sprach, als hätten wir uns niemals wegen Kalifornien gestritten. »Außerdem meint er, die meisten Menschen müßten auf Träume warten, die ihnen sagen, was geschehen wird, aber er könnte mir die Zukunft sofort vorhersagen, indem er mich einfach einschlafen ließe und meine Augenbewegungen beobachtete.«

»Und was meinten Sie dazu?«

»Ich sagte, ich hätte bereits geträumt, ich sollte mein Geld nicht falschen Wahrsagern geben, und da es nun schon einmal passiert sei, könnte ich auch nichts mehr daran ändern.«

»Und was hat er gesagt?«

»Ich habe seine Antwort nicht mehr abgewartet. Ich wünschte, ich könnte träumen, was geschehen wird. Dann käme ich nicht in die Verlegenheit, mir solche Ammenmärchen anhören zu müssen. Wo bist du, zu Hause?«

»Nein«, sagte ich. »Ich bin in Fredericksburg. Das Telefon hat gestern den ganzen Tag geklingelt, und ich habe mir gesagt, so komme ich zu überhaupt nichts, und da bin ich hierher gefahren. Ich denke, ich werde wohl eine Weile bleiben. Zumindest so lange, bis McLaws und Herndon herausgefunden haben, wo ich stecke. Es gibt hier keinen Schnee.«

»Ich werde keiner Menschenseele sagen, wo du bist, mein Sohn. Laß McLaws und Herndon mit dem Anrufbeantworter sprechen. Wie kommst du mit den Druckfahnen voran?«

»Gut. Ich habe Ihren Dr. Barton besucht. Er ist letzten Herbst gestorben, aber ich habe mit seinem Sohn gesprochen. Er konnte sich nicht daran erinnern, daß sein Vater etwas über ungewöhnliche Träume erzählt hätte. Er will seine Schwester anrufen und sie danach fragen. Oh, damit ich’s nicht vergesse, ich habe noch einen Traum für Ihre Sammlung. Lincoln hatte einen Traum in der Nacht, bevor er starb. Er hat seinem Kabinett davon erzählt. Er träumte, er wäre in einem Boot.«

»›Ein seltsames und nicht zu beschreibendes Schiff‹«, sagte Broun. »Ich weiß.«

»Sie kennen den Bootstraum?« sagte ich. »Warum haben Sie mir dann nicht davon erzählt?«

Am anderen Ende der Leitung entstand eine so lange Pause, daß ich genügend Zeit hatte, an all die Dinge zu denken, die wir uns in der letzten Woche nicht erzählt hatten. Ich fragte mich, was wohl passieren würde, wenn ich ihm sagte, daß meiner Meinung nach der Wahrsager recht gehabt hatte und Lee tief in Annies Unterbewußtsein den Bürgerkrieg austrüge. Würde er das ebenfalls als Ammenmärchen bezeichnen?

»Geht es dir gut?« fragte er. »Gibst du gut auf dich acht?«

»Ich schlafe jeden Tag bis mittags«, sagte ich, »und machen Sie sich wegen der Fahnen keine Sorgen. Ich habe schon mehr als die Hälfte vom Buch geschafft.«

»Ich mache mir keine Sorgen wegen der Fahnen«, sagte er.

Nachdem ich aufgelegt hatte, ging ich hinüber und weckte Annie. Wir fuhren zum Mittagessen nach Bowling Green hinunter. Annie zeigte nichts von der Anspannung, die ich tags zuvor an ihr bemerkt hatte, und ihre Wangen hatten wieder eine normale Färbung angenommen. Als wir wieder im Gasthof waren und oben in ihrem Zimmer Fahnen lasen, ich im grünen Sessel und sie im Schneidersitz auf dem Bett, war sie entspannt und aufmerksam.

»Warum machst du nicht, daß du ins Bett kommst, Jeff?« sagte sie kurz nach elf. »Du hast letzte Nacht nicht viel geschlafen. Ich glaube nicht, daß ich etwas träumen werde.«

»Okay«, sagte ich. »Ruf nach mir, wenn du mich brauchst.«

Ich ließ die Tür zu ihrem Zimmer offen und das Licht neben dem Bett an. Ich zog die Schuhe aus und machte es mir mit einem Buch bequem, das ich in Bowling Green gekauft hatte. Es war ein populärer chronologischer Bericht von Lincolns Todestag, aber er enthielt eine ausführliche Beschreibung der Kabinettssitzung.

Lincoln hatte seinen Bootstraum vor Beginn der Sitzung erzählt, während man noch auf Stanton wartete. Grant sagte, er mache sich Sorgen wegen Sherman, und Lincoln sagte ihm, das brauche er nicht, denn er habe ein Zeichen bekommen, und erzählte ihm seinen Traum. Er sagte, er habe den gleichen Traum vor jedem Sieg im Krieg geträumt, und nannte Antietam, Gettysburg und Stone River.

Grant, der nicht an Träume glaubte, sagte, Stone River entspräche nicht seiner Vorstellung von einem Sieg, und ein paar mehr Siege dieser Art würden sie den Krieg verlieren lassen, und Lincoln sagte: »Es muß etwas mit Sherman zu tun haben. Ich kann mir keine andere wichtige Begebenheit vorstellen, die sich gerade jetzt ereignen sollte.«

Ich sah auf die Uhr. Es war Viertel nach zwölf. Ich machte das Licht aus. Was, wenn Grant an Träume geglaubt hätte? Hätte er die lauernde Gefahr erkennen und Vorkehrungen treffen können, die John Wilkes Booth aufgehalten hätten? Er glaubte nicht an Träume. Er wußte ein Ammenmärchen zu erkennen, wenn jemand ihm eins erzählte, selbst wenn es Lincoln war. Aber ich fragte mich, ob er hinterher jemals von der Kabinettssitzung geträumt hatte?

»Mein Haus brennt«, sagte Annie.

Ich machte das Licht an. Sie stand in ihrem weißen Nachthemd in der Tür, die Druckfahnen in der Hand. Sie kam zu mir ans Bett und reichte sie mir. »Er ist tot, nicht wahr?« sagte sie, und die Tränen strömten über ihr blickloses Gesicht. »Nicht wahr?«