8

 

Lee und Traveller paßten gut zusammen. Wenn Lee größere Ausdauer und mehr Temperament verlangte, als das Durchschnittspferd zu geben hatte, so besaß Traveller zuviel Ausdauer und Temperament für den durchschnittlichen Reiter. Er ließ sich nur schwer zügeln, wollte kräftig bewegt werden und ging einen unbequemen, hohen Trab. Als Robert Lee ihn für seinen Vater 1862 nach Fredericksburg hinunterreiten mußte, beklagte er sich: »Ich glaube, ich lüge nicht, wenn ich sage, daß es weniger anstrengend und ermüdend gewesen wäre, wenn ich die ganze Strecke zu Fuß zurückgelegt hätte.«

 

ES DAUERTE FAST EINE STUNDE, bis ich sie ins Bett zurückgebracht hatte und sie mehr oder weniger friedlich schlief. Ich hatte versucht, sie aufzuwecken, auch wenn ich irgendwo gelesen hatte, man sollte Schlafwandler nicht wecken – oder vielleicht war das auch eine von Richards Theorien –, aber ich konnte nicht anders.

»Annie!« sagte ich und faßte sie bei den Händen. Sie waren heiß. »Wach auf, Annie!«

»Ist er tot?« fragte sie, und die Tränen liefen ihr übers Gesicht und sammelten sich unterm Kinn.

Ist er tot? Wer? General Cobb? Er war bei Fredericksburg gefallen, doch ich war nicht davon überzeugt, daß wir uns noch dort befanden. Wir könnten sonstwo sein. Armistead und Garnett waren bei Gettysburg gefallen, A. P. Hill bei Petersburg zwei Wochen vor der Kapitulation. Es konnte sogar Lincoln sein.

»Wer, Annie?«

Ihre Nase lief von all den Tränen, aber sie machte keinerlei Anstalten, sie abzuwischen. Ich führte sie behutsam an der Hand ins Bad und nahm ein Kleenex. »Erzähl mir, was passiert ist«, sagte ich leise und putzte ihr die gerötete Nase. »Kannst du mir das sagen?«

»Mein Haus brennt.«

Ich tupfte ihre Wangen unbeholfen mit dem aufgeweichten Kleenex ab. »Wie sieht das Haus aus, Annie?« fragte ich und putzte noch einmal ihre Nase.

Sie starrte unsere Spiegelbilder an. »Er ist tot, nicht wahr?«

Ich brachte sie in ihr Bett zurück und deckte sie zu. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber ihre Wimpern hingen voller Tränen. Das Kleenex war durch und durch naß, aber ich putzte ihr noch einmal die Nase und packte sie gut ein.

Ich blieb eine Weile neben dem Bett stehen, weil ich dachte, daß sie aufwachen würde, aber sie tat es nicht. Ich hob den Freeman neben dem Sessel vom Boden auf und versuchte, ein brennendes Haus zu finden. Während der Schlacht von Antietam hatte Longstreet in Sharpsburg einigen Frauen und Kindern dabei geholfen, ihre Habseligkeiten aus einem brennenden Haus herauszuholen, doch Lee war nicht dabeigewesen. In den Wochen vor der Schlacht von Fredericksburg war der größte Teil der Stadt abgebrannt, aber niemand war dabei umgekommen – abgesehen von siebzehntausend Soldaten.

»Ich hatte wieder einen Traum«, sagte Annie ohne jede Spur von Tränen in ihrer Stimme. Sie setzte sich im Bett auf. »Mein Haus hat gebrannt.« Sie schüttelte den Kopf, als ob sie ihre eigenen Worte widerlegen wollte. »Es war das gleiche Haus wie in den anderen Träumen, aber es war nicht mein Haus, und es war auch nicht das von Arlington.«

»Wem hat es gehört?«

»Ich weiß nicht. Wir standen unter dem Apfelbaum und sahen zu, wie es brannte, und ein Reiter reichte mir eine Botschaft. Ich konnte sie nicht öffnen, weil ich Handschuhe trug, deshalb reichte ich sie jemandem an meiner Seite. Es war der Angestellte hier vom Gasthof. Er öffnete die Botschaft mit einer Hand. Mit seinem anderen Arm stimmte etwas nicht. Als er die Botschaft geöffnet hatte, sah ich, daß es eine Schachtel Kerzen war.«

Ich klappte den Freeman zu. Ich wußte jetzt, wessen Haus gebrannt hatte. »Einer von Lees Adjutanten setzte sein Leben aufs Spiel, als er Lee eine Schachtel Kerzen brachte, weil dieser Schwierigkeiten hatte, beim Licht des Lagerfeuers die Lageberichte zu lesen«, sagte ich. »Es ist das Haus des Richters, das brennt. Wir befinden uns in Chancellorsville.«

»Es ist aber keine Schachtel Kerzen«, sagte Annie und sah mich genauso an, wie sie ihr eigenes Bild im Spiegel angesehen hatte. »Es ist eine Botschaft.«

»Die Botschaft betrifft Stonewall Jackson«, sagte ich. »Lees rechte Hand. Er wurde während der Schlacht um Chancellorsville verletzt. Sein Arm wurde amputiert.«

»Ich habe Jackson eine Nachricht zurückgeschickt, nicht wahr?«

»Ja«, sagte ich. Ich wußte auch, was in dem Brief stand. »Bestellen Sie Jackson von mir herzliche Grüße«, hatte Lee geschrieben. »Sagen Sie ihm, er soll sich beeilen und gesund werden und, sobald er kann, zu mir zurückkommen. Er hat seinen linken Arm verloren, aber ich habe meinen rechten verloren.«

Annie lehnte sich gegen die Kissen zurück und rieb sich das Handgelenk, als täte es ihr weh. »Aber er wird sich nicht wieder erholen, oder? Er wird sterben.«

»Ja«, sagte ich.

Sie legte sich augenblicklich hin, fügsam, als wäre sie ein Kind, das versprochen hatte, nach einer Gutenachtgeschichte einzuschlafen, und ich ging in mein Zimmer zurück, nahm eine Decke und trug sie in Annies Zimmer hinüber, damit ich die Nacht im grünen Sessel verbringen konnte.

Die Ärzte hatten Jackson eine rasche Genesung vorhergesagt, doch er bekam eine Lungenentzündung und starb neun Tage später. Dem Ende zu delirierte er die meiste Zeit. »Befehlen Sie A. P. Hill, er soll sich fertigmachen!« sagte Jackson einmal. Lee hatte ebenfalls nach Hill gerufen, als er sieben Jahre später nach einem Herzanfall im Sterben lag. »Sagen Sie Hill, er muß herkommen!« hatte er vernehmlich gesagt. Ich fragte mich, ob sie von derselben Schlacht geträumt hatten und welche es war, und ob Annie ebenfalls von ihr würde träumen müssen.

Um fünf gab ich es auf, schlafen zu wollen, ging in mein Zimmer und las Fahnen, wobei ich die Tür offenstehen ließ, für den Fall, daß Annie wieder aufwachte. Ben und Malachi verbrachten den restlichen Morgen und den größten Teil des Kapitels damit, ihr Regiment wiederzufinden, und Robert E. Lee fand seinen Sohn Rob. Er stand auf einer kleinen Erhebung neben der Straße, als Robs Artillerie mit der einzigen Kanone vorbeikam, die ihnen geblieben war. Alle waren sie verdreckt und erschöpft, und Rob blieb vor seinem Vater stehen und sagte: »General, schicken Sie uns wieder aufs Feld?«

Robert E. Lee trug seinen Arm in einer Schlinge. Ein Kurier hielt Traveller für ihn, weil Lees Hände zu geschwollen waren, als daß er die Zügel hätte festhalten können, und überall im Umkreis brannten die Felder und die Wälder, und der Antietam Creek war rostrot gefärbt.

»Ja, mein Sohn«, sagte Lee. »Ihr alle müßt tun, was ihr könnt, um diese Leute zurückzuschlagen.« Er befahl ihnen, die besten Pferde zu nehmen, und schickte sie wieder in die Schlacht.

Ich hatte den Freeman auf Annies Bett liegenlassen. Ich ging hinüber, um ihn zu holen. Sie schlief auf dem Bauch, eine Hand unter dem Kopf, die andere quer über das Buch ausgestreckt. Ich zog das Buch vorsichtig unter ihm hervor, und dann blieb ich dort sitzen, als könnte meine Gegenwart sie irgendwie vor den Träumen schützen.

Sie hatte mir das Versprechen abgenommen, daß ich ihr dabei helfen würde, die Träume zu träumen. Nun, ich versuchte es jedenfalls. Sie hatte schon mehr Träume gehabt, seit sie mich getroffen hatte, als sie jemals bei Richard gehabt hatte, mit oder ohne Medikamente, und es sah so aus, als gäbe es nichts, was ich tun könnte, während sie sie träumte. Ich konnte sie nicht einmal aufwecken.

Hier herumzusitzen bedeutete auch keine Hilfe für sie. Ich mußte wach und auf dem Posten sein, wenn sie ihren nächsten Traum hatte, und ich hatte nicht mehr richtig geschlafen, seit wir in Fredericksburg angekommen waren. Trotzdem wollte ich nicht aufstehen und mich ins Bett legen. Ich weiß nicht, was ich wollte. Vielleicht, daß Annie aufwachte, ihre blaugrauen Augen öffnete und mich ansah. Keinen Rauch und keine Pferde und gefallene Jungen, sondern mich. Daß sie mich ansah und lächelte und schläfrig sagte: »Du mußt nicht hier bei mir sitzen bleiben«, damit ich sagen konnte: »Ich will es aber.« Und was wollte ich sie darauf antworten hören? »Ich bin froh, daß du da bist. Wenn du da bist, habe ich keine Träume.«

Annie murmelte etwas und bewegte den Kopf ein ganz klein wenig auf dem Kissen. Es waren keine Tränenspuren mehr übrig, nur ihre Nase war noch etwas gerötet. Ihr Haar war auf der Wange festgeklebt, als die Tränen getrocknet waren, und ich strich es ihr nach hinten aus dem Gesicht. Ihr Wange fühlte sich warm an. Ich legte meine Hand darauf.

Sie runzelte die Stirn, als störte es sie. Ich nahm meine Hand weg. Ihr Gesicht entspannte sich augenblicklich. Sie seufzte und drehte sich auf die Seite, wobei sie die Knie anzog, eine Geste des Rückzugs in sich selbst. Ihr Atem beruhigte sich.

Ich stand auf, vorsichtig, damit ich sie nicht weckte, nahm den Freeman mit ins andere Zimmer und schlug unter Lees Schlaflosigkeit nach. Er hatte während des ganzen Krieges Probleme mit dem Schlafen gehabt. »Ich fürchte, ich werde nicht schlafen, vor lauter Gedanken an die armen Männer«, hatte er eine Woche nach Antietam an seine Frau geschrieben. Falls er es je schaffte, vor Mitternacht einzuschlafen, hatten seine Adjutanten strikte Anweisung, ihn nur im äußersten Fall aufzuwecken. Er hatte ihnen gesagt, für ihn bedeute eine Stunde Schlaf vor Mitternacht so viel wie zwei Stunden danach.

Mit dem Band Freeman auf meiner Brust aufgeschlagen schlief ich ein und schlief bis zum frühen Nachmittag, und obwohl der Schlaf nicht vor Mitternacht zu mir gekommen war, war er immer noch Gold wert. Ich fühlte mich besser denn je seit meiner Reise nach West Virginia und in der Lage, zum erstenmal klar über dieses ganze Chaos nachzudenken. Ich hatte Annie versprochen, ihr dabei zu helfen, die Träume zu träumen. Es gab nur eine Möglichkeit, das zu tun, und die bestand darin, herauszufinden, woher sie kamen.

Ich sah nach Annie. Sie schlief noch immer. Ich rasierte mich und kleidete mich an, nahm ein Blatt Schreibpapier mit dem Kopf des Fredericksburg Inns aus der Kommode und begann, eine Liste der Träume zu machen. Zuerst Arlington und dann Antietam, Fredericksburg, Chancellorsville. Die Lees hatten Arlington im Mai 1861 verlassen. Ich war mir nicht sicher, von wann der Brief von Markie Williams datierte, in dem stand, was mit Tom Tita, der Katze, passiert war, aber es mußte irgendwann im Jahre 1861 gewesen sein. Antietam war im September 1862, Fredericksburg im Dezember des gleichen Jahres und Chancellorsville Mai 1863. Das bedeutete, daß die Träume chronologisch geordnet waren, wenn auch irgendwie komprimiert. Annie hatte beinahe ein Jahr des Krieges innerhalb einer Woche geträumt, obwohl sie von Arlington mehr als ein Jahr lang geträumt hatte, wobei der Traum nur allmählich deutlicher geworden war. Und es hatte während dieses Zeitraums bedeutende Schlachten gegeben, von denen Annie überhaupt nicht geträumt hatte.

Ich begann auf einem anderen Blatt Papier mit einer neuen Liste und schrieb das Datum der Träume in eine Spalte und die Medikamente, die sie während dieser Zeit genommen hatte, in die zweite. Die Medikamente standen in irgendeiner Beziehung zu den Träumen, wenn ich auch nicht wußte, in welcher. Sie hatten den REM-Schlaf nicht unterdrückt oder sie generell vom Träumen abgehalten, auch wenn sie es eigentlich hätten tun sollen.

Als Annie das Elavil eingenommen hatte, waren ihre Träume auf einmal klarer geworden, und das Phenobarbital, das ihr Hausarzt ihr verschrieben hatte, hatte sich offensichtlich als vollkommen wirkungslos erwiesen. Thorazin hatte die Träume unterdrückt, aber sie hatte nicht das Traumgewitter erlebt, das Dr. Stone für den Fall des Absetzens vorausgesagt hatte. Keiner der Träume schien in einer besonderen Wechselbeziehung mit den Medikamenten zu stehen, die sie genommen oder nicht genommen hatte, also gab es vielleicht überhaupt keine Verbindung, und das Timing der Träume hatte mehr damit zu tun, wann Lee zu ein paar Stunden Schlaf gekommen war, als mit den Tranquilizern.

Annie war wach. Ich hörte sie herumgehen. Ich faltete die Listen und steckte sie in die Tasche meiner Jeans. Ich klopfte an der halboffenen Tür, und sie öffnete sie sofort ganz.

»Bist du die ganze Zeit über aufgewesen?« sagte sie und blickte auf ihre Uhr. Sie sah müde aus, trotz des langen Schlafs. »Ich konnte es nicht glauben, als ich gesehen habe, wie spät es ist.«

»Ich schon. Ich bin mit einem Mordshunger aufgewacht. Es ist schon gut, daß man im Coffeeshop den ganzen Tag über Frühstück bekommt. Was hältst du davon, wenn wir mal rübergehen?« Ich zog meinen Mantel an. »Ich will heute nachmittag zur Bibliothek. Ich glaube, ich komme langsam dahinter, woher die Träume kommen.«

Ich erzählte ihr beim Frühstück von Lees Schlaflosigkeit, und dann gingen wir zur Bücherei hinüber. Ich kaufte unterwegs im Gemischtwarenladen ein Notizbuch. »Ich sollte mich vielleicht auch ein bißchen um Lincolns Träume kümmern, für den Fall, daß der Tierarzt nichts herausbekommt«, sagte ich.

»Ich werde das für dich machen«, sagte Annie. »Was willst du wissen?«

»Alles über Akromegalie, was nicht im Index stehen dürfte, weil keiner wußte, was er hatte. Alle Verweise darauf, daß er Kopfschmerzen oder Depressionen hatte. Und alles, was du über Willies Tod finden kannst.«

»Willie. Das war sein Sohn, der während des Kriegs gestorben ist?« fragte sie.

Ich nickte. »Ja. Er war Lincolns Lieblingskind. Lincoln konnte es kaum verwinden, als er starb.«

Wir betraten die Bücherei und sahen uns nach den Biographien um. Ich hatte der Bücherei zwei Tage zuvor, als ich hierher gekommen war, um mich über Thorazin zu informieren, nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, mir war nur aufgefallen, daß sie früher einmal eine Schule gewesen war, eines dieser quadratischen dreistöckigen Gebäude, wie man sie im frühen neunzehnten Jahrhundert gebaut hatte.

Sie hätte wunderschön sein können mit ihren hohen Schiebefenstern und dem geölten Holzfußboden, wirkte jedoch ausgesprochen bedrückend. Die Hartholzböden hatte man mit gepunkteten Kacheln und einem Teppich verdeckt, der aussah, als sei die Unionsarmee mit ihren genagelten Stiefeln über ihn hinwegmarschiert. Man hatte dicke Stoffvorhänge vor die Fenster gezogen, so daß das einzige Licht von den grellen Neonröhren an der Decke kam.

Ich hatte schon eine Menge Zeit in Bibliotheken verbracht, und für gewöhnlich zog ich die altmodischen mit ihren verstaubten Bücherstapeln den modernen, mit Plastik und Grünzeug vollgestopften ›Multimedia-Centern‹ vor, doch hier wäre ich über eine kleine Renovierung froh gewesen.

Der Raum mit den Biographien lag abseits und ein paar Treppenstufen erhöht, vermutlich ein altes Klassenzimmer, in dem die Tafel durch Bücherregale ersetzt worden war. Ich legte mein Notizbuch auf den zerkratzten Holztisch und ging nachsehen, was sie unter ›L‹ hatten. Es gab genau zwei Bücher über Lincoln: Thomas’ Abraham Lincoln und ein altes Buch mit einem Ledereinband, dessen Autor ich nicht einmal entziffern konnte.

Ich reichte sie Annie. »Wir sind hier im Süden. Wir haben Glück, daß sie überhaupt etwas über ihn haben.«

Sie trug die Bücher zum Tisch, und ich ging auf alle Fälle hinunter, um nachzusehen, was sie über Lee hatten. Wir mochten uns hier im Süden befinden, aber ich hatte mit ihm nicht mehr Glück als mit Lincoln. Ich ging hinaus zum Auskunftsschalter, fragte nach der Historischen Abteilung und wurde in einen kleinen Alkoven geschickt, einen halben Treppenabsatz über der Abteilung mit den Nachschlagewerken, wo ich das Drogenkompendium gefunden hatte.

Weil ich nun schon einmal hier war und da ich wußte, wo Annie war, nahm ich die Gelegenheit wahr, in dem besagten Kompendium unter Phenobarbital nachzuschlagen. Es stand ungefähr das darin, was ich erwartet hatte, daß es ein Tranquilizer sei und den REM-Schlaf unterdrücke. Barbiturate waren suchterzeugend, besonders wenn man sie über einen langen Zeitraum hinweg einnahm, und vielleicht hatte sich Richard deshalb so über Annies Hausarzt aufgeregt, aber Phenobarbital war vergleichsweise mild und hatte nicht annähernd so viele Kontraindikationen und Nebenwirkungen wie Elavil, ganz zu schweigen von Thorazin.

Ich ging zum Alkoven hinauf. ›Virginiana‹ stand darüber, und die Ausbeute war so spärlich wie bei den Biographien, was keinerlei Sinn ergab. Die Schlacht von Fredericksburg zählte zu den bedeutenderen Schlachten, außerdem befanden wir uns in Schußentfernung von Spotsylvania, Chancellorsville und Wilderness. Diese Bibliothek hier hätte eine der Hauptquellen mindestens für diese Schlachten sein sollen und, da Forscher unvermeidlich hierher kommen mußten, ebenso für den übrigen Bürgerkrieg.

Ich packte zusammen, was ich über die drei Schlachten, von denen Annie geträumt hatte, finden konnte und brachte die Bücher in den Raum mit den Biographien hinauf. Die Bibliothekarin, eine Frau mit stechendem Blick, die sich als Lehrerin in der alten autoritätsgläubigen Zeit wohlgefühlt haben würde, schickte mir einen Blick nach, machte jedoch keinen Versuch, mich aufzuhalten.

Annie hatte die Bücher aufgeschlagen und einige Seiten aus meinem Notizbuch herausgerissen, um sich darauf Notizen zu machen. Bei meinem Eintreten sah sie hoch und lächelte, dann beugte sie sich wieder über das Buch, wobei ihr das helle Haar nach vorn über die Wangen fiel. Ich nahm ihr gegenüber Platz und versuchte, etwas über Lees Schlafgewohnheiten herauszufinden.

Lees ›kostbare Stunden‹ des Schlafs zwischen neun Uhr und Mitternacht konnten nicht für die Träume, die Annie spät in der Nacht oder tagsüber gehabt hatte, verantwortlich sein, aber sie hatte gesagt, daß die letzteren erst dann aufgetreten waren, als sie aufzubleiben versucht hatte, um die Träume zu vermeiden. Und vielleicht hatte Lee sich hier und da ein paar Stunden Schlaf als Ausgleich für die schlaflosen Nächte abgezwackt.

Lee hatte in der Nacht vor Antietam ›wenig geschlafen‹ und, General Walker zufolge, der ihn auf Traveller sitzend in der Flußmitte angetroffen hatte, als er seine Division hinübergeführt hatte, war Lee die ganze Nacht dort gewesen und hatte den Rückzug über den Potomac überwacht.

In der Nacht vor Fredericksburg, der gleichen Nacht, in der das Nordlicht den Himmel erhellt hatte und in der der Unionsbote in die konföderierten Vorposten gestolpert war, hatte Lee seinen Stab durcharbeiten lassen. In der Morgendämmerung war er hinausgeritten, um die Schützengräben zu inspizieren, welche die Arbeitsmannschaften über Nacht angelegt hatten. Keins der Bücher erwähnte, ob Lee nach der Schlacht etwas Ruhe gefunden hatte, obwohl er nach diesen Berichten kurz vor dem Zusammenbruch gestanden haben mußte.

Dr. Stone hatte gesagt, daß der Körper sich dafür rächte, wenn man ihm den REM-Schlaf vorenthielt. Sollte das der Sinn der Träume sein? Hatte Lee, erschöpft vom Schlafmangel und den Anstrengungen der Schlacht, ein Traumgewitter erlebt?

Ich konnte bei Chancellorsville kein ähnlich klares Schema finden. Jackson war am zweiten Mai verwundet worden, und sobald Lee davon hörte, schrieb er ihm: »Ich wünschte, ich wäre an deiner Stelle verwundet worden.« Die Nachricht von der Amputation des Arms erreichte ihn in der Nacht zum vierten Mai. Es wurde nichts davon erwähnt, daß Lee in dieser Nacht an Schlaflosigkeit gelitten hätte, obwohl es kaum denkbar war, daß er nach einer Nachricht wie dieser gesunden Schlaf hatte finden können. Am fünften hieß es, daß sich Jackson erholte, und in dieser Nacht schlief er zweifellos gut, unter einem Mückennetz bei Fairview.

Am Morgen des siebten Mai begann es Jackson schlechter zu gehen, und am Nachmittag delirierte er bereits, rief nach A. P. Hill und befahl der Infanterie, sich fertigzumachen. »Tun Sie Ihre Pflicht«, sagte er zu dem Arzt, der ihm Quecksilber und Opium gab. »Fertigmachen zum Angriff!« Am Sonntag sagte er klar und deutlich, aus dem letzten Traum von irgendeiner Schlacht heraus: »Laßt uns den Fluß überqueren und unter den Bäumen ausruhen.« Und er starb.

Annie klappte beide Lincoln-Bücher zu. »Ob sie vielleicht noch etwas anderes über Lincoln haben?« fragte sie.

»Keine Ahnung«, sagte ich. »Vielleicht haben sie etwas bei den Nachschlagewerken. Die Abteilung ist unten.«

Sie nickte und ging hinaus, wobei sie ihre Notizen mitnahm.

Ich begann die Lee-Biographien durchzusehen und wünschte, ich hätte den Freeman mitgebracht. Das erste Buch war so unmöglich gegliedert, daß ich nicht einmal Chancellorsville fand, von irgendwelchen Hinweisen auf Lincolns Schlaflosigkeit ganz zu schweigen, doch im zweiten, so alt die Goldschnittseiten auch sein mochten und wenn es auch in einer kaum verständlichen blumigen Sprache geschrieben war, stand: »Als Lee die grauenhafte Nachricht überbracht wurde, daß den Bemühungen der Ärzte kein Erfolg beschieden war und daß es mit Jackson rasch zu Ende ging, wandte er sich jenem letzten und besten Quell der Hoffnung in Zeiten der Not zu. Die ganze Nacht hindurch betete er auf den Knien inbrünstig um Jacksons Genesung.«

Also war er die ganze Nacht aufgewesen und hatte gebetet, und wahrscheinlich hatte er aus Sorge um Jackson schon zwei oder drei Nächte zuvor schlecht geschlafen. Es existierte offenbar ein Schema. Bei jeder Begebenheit, von der Annie geträumt hatte, hatte Lee mehrere Tage hintereinander ohne Schlaf auskommen müssen. Wenn er dann endlich Schlaf gefunden hatte, war es vielleicht zu dem von Dr. Stone beschriebenen Traumgewitter gekommen. Dr. Stone hatte von heftigen, erschreckenden Träumen gesprochen. Konnten sie so heftig gewesen sein, daß sie ihren Weg über einhundert Jahre hinweg bis zu Annie gefunden hatten? Jackson war fünf Monate nach der Schlacht von Fredericksburg gestorben.

Ich sah auf meine Uhr. Es war vier Uhr dreißig. Ich stapelte die Bücher und brachte sie wieder nach unten. Annie war bei den Nachschlagewerken und hatte ein großes Buch vor sich aufgeschlagen. Also mußten sie hier doch etwas gehabt haben. Ich ging zu dem Alkoven hoch und stellte die Bücher an die Stellen im Regal zurück, wo sie hingehörten, damit sie hier stünden, wenn ich sie noch einmal brauchen sollte, und nicht auf einem Wägelchen, das von der grimmig dreinschauenden Bibliothekarin bewacht wurde – und fand ein Buch über Gettysburg.

Es wog eine Tonne. Ich versuchte gar nicht erst, es zu dem Raum mit den Biographien hochzutragen oder es auch nur auf einen Tisch zu legen. Ich legte es einfach bloß geöffnet auf den Boden und beugte mich darüber, um nachzusehen, ob bei Gettysburg das Muster der Schlaflosigkeit weiterbestanden hatte. Gettysburg war die nächste große Schlacht nach Chancellorsville, aber Annie träumte nicht von allen Schlachten. Ich mußte wissen, ob bei dieser Schlacht die gleichen Voraussetzungen für das Auftreten von Träumen gegeben waren.

Im Index gab es eine ganze Seite mit Verweisen auf Lee. Ich versuchte sie durchzugehen, indem ich eine Hand im Index hielt und mit einem Finger der anderen Hand die zweispaltig beschriebenen Seiten durchging, in der Hoffnung. Lees Name oder das Wort ›Schlaf‹ würde mir ins Auge springen. Da drinnen stand es; jedes Wort, das jemals über Gettysburg geschrieben worden war, mußte da drin sein, und das war eben das Problem. Es gab zu viel Material zu sichten, so wie der Braune des Veterinärs zu viele Symptome gehabt hatte. Lees Schlaflosigkeit war in der erdrückenden Masse der Fakten vergraben. Ich wuchtete das Buch auf sein Regal zurück und ging nach Annie sehen.

Sie war nicht im Magazin. Ich ging durch die Abteilungen und fand sie schließlich wieder in dem Raum mit den Biographien. Sie hatte einen der Vorhänge zurückgezogen und schaute aus dem Fenster in Richtung Rappahannock.

»Ich glaube, ich weiß jetzt, woher die Träume kommen«, sagte ich.

Sie wandte sich um. Sie sah müde aus, als wäre sie die ganze Nacht, und nicht nur ein paar Stunden aufgewesen.

»Ich glaube, du hattest recht, als du gesagt hast, du würdest Lee schlafen helfen«, sagte ich. »Ich glaube, das könnte genau das sein, was du tust.«

Wir traten durch die überwölbten grünen Türen und gingen die Betontreppe hinunter. Es mußte geregnet haben, während wir drinnen gewesen waren, denn der Asphaltbelag des Bibliotheksparkplatzes war voller Pfützen, obwohl der Himmel so klar wie bei unserer Ankunft war. Es ging auf den Abend zu, und er verfärbte sich allmählich blauviolett. Die Luft roch nach Apfelblüten.

»Du meintest, er konnte nicht schlafen«, sagte ich. »Du hast recht gehabt. Offenbar litt er den ganzen Krieg hindurch an Schlaflosigkeit, und während der Schlachten schlief er überhaupt nicht.« Ich erklärte ihr meine Theorie auf dem Rückweg zum Gasthof, erzählte ihr von Dr. Stones Traumgewitter und dem Muster, das ich in ihren Träumen entdeckt hatte.

»Ich glaube immer noch, daß die Medikamente, die du eingenommen hast, mit alldem in irgendeiner Art von Beziehung stehen, aber ich habe noch nicht herausgefunden, in welcher«, sagte ich. »Du meintest, dein Hausarzt hätte dir Phenobarbital verschrieben. Ist dir irgendeine Veränderung an den Träumen aufgefallen, solange du es genommen hast?«

»Nein«, sagte Annie, in die Richtung des Gasthofs blickend, der zwei Blocks entfernt war. Die schwarze Katze kam heraus, um uns zu begrüßen, und stakste über den nassen Gehsteig.

»Wie lange hast du das Phenobarbital genommen?« fragte ich.

Die Katze miaute eine Begrüßung, die sich wie ein Vorwurf anhörte. Annie bückte sich, um sie hochzuheben. »Wußtest du, daß Willie andauernd nach dem Jungen von gegenüber verlangte, als er Lungenentzündung hatte?« sagte sie. »Er hieß Bud Taft. Er kam zu ihm und hielt Willies Hand und saß die ganze Zeit neben ihm, wußtest du das?«

»Nein, wußte ich nicht.«

»Eines Nachts, als Bud bei Willie war, kam Lincoln herein und sagte: ›Leg dich besser ins Bett, Bud.‹ Und Bud sagte: ›Wenn ich gehe, wird er nach mir rufen.‹«

Die Katze strampelte, um wieder heruntergelassen zu werden. Annie setzte sie wieder auf den Gehsteig, und sie stolzierte beleidigt davon. Einen halben Block entfernt setzte sie sich und begann ihre weißen Pfoten zu lecken.

»Du hast nicht zufällig herausgefunden, wo Willie Lincoln begraben wurde?«

»Ich dachte, er wurde in Arlington begraben.«

»Nein. Und ich weiß nicht, wo er begraben liegt.«

Annie sah die Katze an. »Vielleicht weiß das niemand«, sagte sie.

Als wir die Katze erreicht hatten, stand sie auf und begleitete uns den ganzen Weg bis zum Gasthof.