6

 

Traveller war das ideale Pferd für Lee. Er vertrug das schlechte Wetter und den ausgedörrten Mais, und er bewies eine unglaubliche Ausdauer. Wenn Lee die Truppen inspizierte, machte sich Traveller mit weit ausgreifendem Galopp auf den Weg und änderte niemals seine Gangart. Die Männer waren manchmal über eine Strecke von zehn Meilen verteilt, und Traveller galoppierte den ganzen Weg über, während die Pferde der Offiziere eines nach dem anderen zurückfielen.

 

FREDERICKSBURG LAG NUR fünfzig Meilen südlich von D.C., doch es war eine vollkommen andere Welt. Der Judasbaum und die Forsythie standen in voller Pracht, und überall blühte der Hartriegel.

Ich brachte uns im Fredericksburg Inn unter, einem großen alten Gasthof mit einer breiten Veranda. Ich bat um zwei nebeneinanderliegende Zimmer und sagte dem Angestellten, daß ich sie mir ansehen wollte, bevor wir uns eintrugen. Der Mann gab mir den Schlüssel, und wir gingen nach oben. Die beiden Zimmer waren eigentlich eine Suite im zweiten Stock an einem der Enden des Gebäudes. Von einem der beiden Schlafzimmerfenster aus konnte ich den Parkplatz sehen, und den Rappahannock vom anderen. Am anderen Ende des Korridors war eine Feuerleiter, die zu einem weiteren, kleineren Parkplatz hinunterführte, der von der Vorderseite des Gebäudes aus nicht einzusehen war.

Ich ließ Annie im Zimmer zurück, ging nach unten und trug uns als Mr. und Mrs. Jeff Davis ein. Der Angestellte grinste, als er das las. Ich erwog, ihm zu erklären, daß eventuell ein wütender Ehemann auftauchen würde, und ihm zwanzig Dollar zu geben, damit er dem Ehemann sagte, wir wären nicht da. Statt dessen grinste ich zurück und sagte: »Nein, kein Verhältnis. Falls jemand danach fragt«, und ging hinaus, um den Wagen auf den kleinen Parkplatz an der Treppe zu fahren und das Gepäck zu holen.

Als ich wieder in der Suite war, stellte ich meine Tasche ins Zimmer mit der Aussicht auf den großen Parkplatz und Annies Gepäck ins andere.

»Du kannst dich entspannen«, sagte ich zu ihr. »Richard hat keinerlei Möglichkeit herauszufinden, wo wir sind. Broun wußte als einziger, daß ich nach Fredericksburg fahren würde, und der ist in Kalifornien. Du kannst loslegen und auspacken, und dann besorgen wir uns etwas zum Frühstück.«

Ich ging in den anderen Schlafraum hinüber, schloß die Tür und rief Brouns Anrufbeantworter an, um mich zu vergewissern, daß Broun nicht den Namen des Hotels oder dessen Telefonnummer auf dem Apparat hinterlassen hatte. »Ich bin im sonnigen Kalifornien und recherchiere ein bißchen für mein neues Buch«, sagte Brouns Stimme. »Wenn Sie Ihren Namen und Telefonnummer hinterlassen, werde ich Ihre Nachricht über Fernabfrage abhören und Sie sobald wie möglich zurückrufen.«

Gut. Er hatte keine Nummer hinterlassen, und er hatte nichts davon erwähnt, daß sein Assistent die Anrufe abhören würde. Er hatte es ernst damit gemeint, als er sagte, ich solle mir einige Zeit freinehmen. Ich überlegte, ob er seine Nummer in Kalifornien jemand anderem gegeben haben konnte. Seiner Agentin wahrscheinlich, aber diese würde keinem Fremden gegenüber mit Informationen herausrücken, selbst wenn er behauptete, Jeffs alter Stubenkamerad zu sein. McLaws und Herndon vielleicht, obwohl ich bezweifelte, daß er ihnen gesagt haben würde, er habe sich nach Kalifornien abgesetzt, wo er doch eigentlich an den Druckfahnen arbeiten sollte.

Ich gab den Fernbedienungscode ein, der mir alle in dem Apparat gespeicherten Nachrichten vorspielen würde. Es gab einen Klick und dann ein kurzes schwirrendes Geräusch, als der Motor zurückspulte, einen weiteren Klick, und Broun sagte: »Jeff, ich bin in Kalifornien und muß den verdammten Nebel mit hergebracht haben. Ich werde den prodromalen Traumexperten morgen treffen. Ruf mich an, wenn du mit den Druckfahnen irgendwelche Schwierigkeiten hast. Und gönn dir etwas Ruhe. Ich mache mir Sorgen um dich.«

Ich packte die Tasche aus, die ich am Abend zuvor eilig gepackt hatte, und öffnete die Schachtel mit den Druckfahnen. Obenauf lagen Bücher. Ich konnte mich nicht daran erinnern, irgendwelche Bücher eingepackt zu haben. Ich nahm das oberste heraus. Es war der zweite Band Freeman. Ich setzte mich aufs Bett und nahm die anderen drei schweren Bände heraus, einen nach dem andern.

Ein Soldat auf der Flucht vom Schlachtfeld mochte manchmal noch Meilen später feststellen, daß er sein Gewehr immer noch umklammert hielt, oder seinen Hut, oder ein halbgegessenes Stück Zwieback, und daß er sich ebensowenig daran erinnern konnte wie an die Tatsache, daß er weggelaufen war. Und hier waren wir nun fünfzig Meilen vom Schlachtfeld entfernt in einer Suite im Fredericksburg Inn und mit Freemans R. E. Lee und wer weiß was noch nicht alles in Annies Matchbeutel, zwei arme Republikaner auf der Flucht. Doch früher oder später würde der Soldat anhalten und darüber nachdenken, was als nächstes zu tun sei, und ich hatte keine Ahnung, was das sein könnte. Ich hatte nicht weiter gedacht, als wie ich Annie vor Richard in Sicherheit bringen könnte.

Das hatte ich geschafft, und wir konnten mindestens eine Woche und vielleicht noch länger hier bleiben, falls Broun in Kalifornien blieb, aber früher oder später würden wir nach D.C. zurückfahren müssen, und früher oder später würden wir über die Träume sprechen müssen.

Aber jetzt noch nicht. Es war unmöglich zu sagen, wieviel Thorazin sie immer noch im Körper hatte oder wie lange es dauern würde, bis alles heraus war. Dr. Stone hatte gesagt, daß es zu einem ›Traumgewitter‹ kommen konnte, wenn man jemandem Sedativa abrupt entzog. Ich würde nicht darauf bestehen, die Ursache von Robert E. Lees Träumen herauszufinden, wenn sie dabei war, eigene Alpträume zu träumen. Was sie jetzt im Moment brauchte, das war ein Frühstück und etwas Erholung und ein Urlaub von dem ganzen verrückten Durcheinander.

Auf der Eichenkommode neben dem Bett lag eine Hochglanzbroschüre. Ich hob sie auf. Vielleicht konnten wir einen Spaziergang rund um das historische Fredericksburg machen und uns einige der Sehenswürdigkeiten ansehen. »Amerikas Schlachtfeld«, stand in der Broschüre. »Besuchen Sie die historischen Schlachtfelder des Bürgerkriegs. Wo 100.000 gefallen sind! Folgen Sie den Fußstapfen der Generäle. Der Führer für Ihre Besichtigungstour.«

Ich dachte daran, wie Annie auf halber Höhe des Hügels bei Arlington gestanden und auf die verschneiten Wiesen hinabgeschaut hatte. Fredericksburgs Schlachtfelder waren ebenfalls in einen Nationalfriedhof umgewandelt worden, auf dem zwölftausend unbekannte Soldaten begraben waren.

Vielleicht hätte ich sie nicht hierherbringen sollen, dachte ich. Sie hatte bislang noch nicht von Fredericksburg geträumt, und ich wollte nicht, daß sie es tat. Die Schlacht war ein einziges Gemetzel gewesen, bei dem die Unionssoldaten über eine flache Ebene zu der Marye’s Heights genannten Hügelkette vorzudringen versucht hatten. Aber Lee hat gewonnen, dachte ich. Vielleicht träumt er nicht von gewonnenen Schlachten.

Die übrigen Attraktionen waren, vorsichtig ausgedrückt, weniger bedeutend: James Monroes Anwaltspraxis, Mary Washingtons Landhaus und Kenmore, eine südlich gelegene Plantage, wo George Washingtons Schwester Betty Fielding Lewis gelebt hatte, aber als ich auf der Karte nachsah, befand sich keine von ihnen in der Nähe des Schlachtfelds, was bedeutete, daß wir auf Besichtigungstour gehen und Fahnen lesen und das tun konnten, weswegen Broun mich hierhergeschickt hatte, nämlich den Doktor über seine Akromegalie zu interviewen.

Ich kramte die Nummer, die mir Broun gegeben hatte, aus meiner Brieftasche und rief Dr. Barton an. Der Anschluß existierte nicht mehr. Ich öffnete die Schubladen der Eichenkommode, bis ich ein Telefonverzeichnis gefunden hatte, und schlug seinen Namen unter ›Ärzte‹ im Branchenteil nach. Es gab keinen Eintrag. Auf den weißen Seiten war ein Barton aufgeführt, aber ohne ein ›Dr.‹ hinter seinem Namen. Broun hatte gesagt, er sei so alt, daß seine Akromegalie noch nicht hatte behandelt werden können. Vielleicht hatte er sich zur Ruhe gesetzt. Ich wählte die Nummer.

»Praxis Dr. Barton«, sagte eine Frauenstimme.

»Gut«, sagte ich. »Hier ist Jeff Johnston. Ich bin Thomas Brouns Rechercheur. Ich würde mich gerne mit Dr. Barton verabreden.«

»Geht es dabei um ein Pferd?« sagte sie.

»Nein«, sagte ich und schielte nach Brouns Zettel. »Bin ich mit Dr. Henry Bartons Praxis verbunden?«

»Ja.«

»Dr. Bartons Name wurde meinem Arbeitgeber von Dr. Stone in Washington D.C. genannt. Ich recherchiere für Mr. Brouns neues Buch, und ich würde Dr. Barton gern ein paar Fragen stellen.«

»Oh, wie interessant«, sagte sie. »Ich bin sicher, daß mein Mann sich mit Ihnen treffen möchte. Lassen Sie mich im Terminkalender nachsehen.« Es entstand eine Pause. »Wäre es Ihnen irgendwann nächste Woche recht? Er hat sehr viel zu tun. Es ist Frühling, wie Sie wissen.«

Ich wußte nicht, warum es im Frühling so viel zu tun gab, doch das sagte ich ihr nicht. »Ginge es vielleicht am Abend?«

»Morgen ist Sonntag. Könnten Sie morgen vorbeikommen?«

»Natürlich«, sagte ich.

»Wissen Sie, wie Sie hierherkommen?« sagte sie. »Wir wohnen außerhalb der Stadt.« Während sie mir den Weg beschrieb, blätterte ich erneut durch den Branchenteil. Ja. Da hatten wir ihn, Dr. Henry Barton, Doktor der Veterinärmedizin. Behandlung ausschließlich großer Tiere. Kein Wunder, daß seine Frau hatte wissen wollen, ob es sich um ein Pferd handelte.

Ich legte das Telefonbuch in die Schublade zurück, hob die Broschüre des ›Historischen Fredericksburg‹ auf und nahm sie in Annies Zimmer mit. »Ich kann mich mit Dr. Barton nicht vor morgen treffen, also haben wir den ganzen Tag für uns. Was willst du sehen? Mary Washington hat hier gelebt. Wir könnten das Haus besichtigen. In ihrem Schlafzimmer gibt es einen Spiegel, der…«

»Ich hätte nicht mit dir herfahren sollen«, sagte sie. Sie saß auf dem Himmelbett. Es hatte eine grünweißgesprenkelte Musselintagesdecke mit gekräuseltem Volant. Annie hatte ihre Hände rechts und links flach neben sich auf die Decke gelegt und versuchte, nicht an den Musselinblumen zu zupfen, wie sie es mit Brouns afrikanischen Veilchen getan hatte. »Als ich anfing, diese Träume zu träumen, hatte ich solche Angst, daß ich nicht mehr wußte, was ich tun sollte. Ich hatte Angst, nachts allein zu Hause zu sein, und Richard hat versucht, mir zu helfen…«

Und es war einfach passiert.

»Ich bin nicht Richard«, sagte ich. »Ich weiß nicht, welche Vorstellungen du von mir hast, aber ich habe dich nicht für ein vergnügliches Wochenende auf Brouns Kosten hier heruntergeschleppt. Ich habe dich hier heruntergebracht, weil du vor Richard davongelaufen warst und weil ich dachte, das hier wäre eine sicheres Versteck für dich. So ist das. Ich bin hier, um die Druckfahnen von Die Bürde der Pflicht zu lesen und mit einem Typ mit langen Gliedern und großen Ohren zu reden. Ich habe eine Suite gemietet und uns unter falschem Namen eingetragen, weil uns Richard so nicht anrufen und herausfinden kann, daß wir hier sind, aber wenn du ein Einzelzimmer willst, kann ich…«

»Das ist es nicht«, sagte sie und zerknautschte die Decke mit ihren verkrampften Fingern. »Ich meinte nicht, daß du… die Suite ist prima, Jeff. Ich bin froh, daß du keine Einzelzimmer genommen hast, weil ich nachts jemanden um mich haben muß. Und du solltest Richard für das, was passiert ist, keinen Vorwurf machen. Es war meine Schuld. Ich hätte mich nicht mit ihm einlassen sollen. Es hat alles nur noch schlimmer gemacht.« Sie ließ die Decke los und blickte zu mir auf. »Die Träume haben Richard Angst eingejagt. Er fürchtete, daß sie mir schaden würden, und deshalb versuchte er, sie zu beenden, aber das durfte ich nicht zulassen. Ich habe den Träumen gegenüber eine Verpflichtung.«

»Und du befürchtest, ich könnte ebenfalls Angst davor bekommen und anfangen, dir Thorazin ins Essen zu tun. Ich habe dir doch schon gesagt, ich bin nicht Richard.«

»Mir geht es gut. Das Thorazin ist fast schon aus meinem Körper heraus. Ich spüre das. Ich fühle mich schon viel besser. Es gibt keinen Grund dafür, einen Arzt aufzusuchen. Er wird versuchen, die Träume zu unterbinden. Er wird mir irgendein anderes Medikament verschreiben.«

»Ich habe nichts davon gesagt, daß du zu einem Arzt gehen solltest«, sagte ich hilflos, und dann wurde mir klar, daß ich es doch getan hatte. »Du meinst Dr. Barton? Das ist der Typ, den ich für Broun interviewen soll. Er hat Akromegalie, die gleiche Wachstumsstörung, die Lincoln hatte, und er ist nicht einmal ein richtiger Arzt. Er ist Veterinär. Als ich bei ihm anrief, fragte mich seine Frau, ob ich ihn wegen eines Pferdes sprechen wollte.« Ich versuchte ihr zuzulächeln. »Ich weiß, daß du diese Träume träumen mußt. Es ist meine Pflicht, auf dich aufzupassen, während du das tust. Ich verspreche dir, ich werde nicht versuchen, etwas gegen die Träume zu unternehmen.«

»Okay«, sagte sie. Sie glättete die Decke dort, wo sie sie zerknittert hatte.

»Wie wär’s jetzt mit einem Frühstück, und dann statten wir den Highlights von Fredericksburg einen Besuch ab? Bei Mary Washington gibt es diesen Spiegel, zu dem die Leute in Scharen herbeiströmen.«

»In Ordnung«, sagte sie lächelnd. »Wer war Mary Washington?«

»Keine Ahnung«, sagte ich und blickte auf den Prospekt. Ich hatte ihn zu einem Haufen unleserlichen farbigen Papiers zerknüllt. »George Washingtons Mutter? Oder seine Tochter vielleicht? Hatte George Washington überhaupt Töchter?« Sie starrte den Prospekt an. »Ich hole in der Lobby einen neuen.« Ich warf ihn in den Papierkorb.

»Annie, es wird alles gut werden«, sagte ich. »Ich passe auf dich auf.«

»Ich weiß.«

Mary Washington war Georges Mutter. Wir frühstückten in einem Coffeeshop dem Gasthaus gegenüber, und dann gingen wir in die Stadt, um Marys Frisierspiegel und ihre Sonnenuhr in einem kleinen Haus am Fuße des Parks von Kenmore zu besichtigen.

Den ganzen Morgen über beobachtete ich Annie besorgt, aber sie machte den Eindruck, als ginge es ihr gut. Die warme Frühlingsluft und die Bewegung schienen bei ihr Wunder zu wirken. Sie lachte über meine Kommentare darüber, welche Art Mensch Mary Washington wohl gewesen war, wenn man bedachte, daß ihre Tochter sie so weit wie möglich vom Haus entfernt untergebracht hatte, und sie sagte: »Sie hat vielleicht ebensoviel über diesen gräßlichen Frisierspiegel geredet wie dieser Führer.«

Sie lächelte, ein wunderbares, sorgloses Lächeln. Seltsamerweise ließ es sie älter erscheinen, mehr wie eine Frau und weniger wie ein verwildertes Kind, und ich dachte bei mir, gut, ich mache es genau richtig.

Doch nach dem Mittagessen, als wir uns bereits im dritten Antiquitätenladen umsahen, wirkte sie plötzlich müde. Sie hob eine Porzellankatze hoch und begann mit einem Satz, brach ihn jedoch mittendrin ab und ging zum Fenster des Antiquitätenladens, um ängstlich hinaus nach Süden zu schauen, als erwartete sie jeden Moment, A. P. Hills Männer dort auftauchen zu sehen.

»Geht es dir gut?« fragte ich, besorgt darüber, es könnte sich dabei um eine Nachwirkung des Thorazins handeln.

Sie hielt immer noch die Porzellankatze in der Hand.

»Laß uns irgendwo Kaffee trinken gehen«, sagte ich. Ich hatte schon den ganzen Tag über Kaffee in sie hineingeschüttet, Dr. Stones Theorie, daß Koffein schlechte Träume brächte, zum Trotz. Ich konnte mir keine bessere Methode vorstellen, das Thorazin aus ihrem Körper herauszubringen.

»Ich glaube, ich habe genug Kaffee getrunken«, sagte sie lächelnd. »Mir geht’s gut. Ich habe bloß Kopfschmerzen.«

»Nun, wie wär’s dann mit einer Aspirintablette?«

»Nein, mir geht’s gut. Bin bloß ein bißchen müde. Vielleicht sollten wir zum Gasthof zurückgehen.«

»Aber ja. Willst du zu Fuß gehen? Wenn du müde bist, kann ich zurücklaufen und den Wagen holen. Oder wir rufen ein Taxi.«

»Ich glaube nicht, daß es in Fredericksburg Taxis gibt«, sagte sie und stellte die Porzellankatze vorsichtig auf einem Klapptisch ab. »Es besteht kein Grund zur Panik, Jeff. Die Kopfschmerzen kommen von den Nebenhöhlen. Ich bekomme Heuschnupfen. Vielleicht liegt es an der Apfelblüte.«

Auf dem Rückweg schien es ihr gut zu gehen. Ein leichter Wind war aufgekommen, und er wehte ihr das helle Haar aus dem Gesicht und von den Wangen. »Das ist eine hübsche Stadt«, sagte sie, »mit all diesen alten Häuser. War hier eine Schlacht? Im Bürgerkrieg?«

»Ja.« Ich zeigte auf einen klapprigen blauen Ford Sedan mit einem handgemalten Zeichen auf der Seitentür. »Ich habe dir ja gesagt, daß es in Fredericksburg Taxis gibt.«

Wir stiegen über die Außentreppe zu unseren Zimmern hoch. Eine schwarze Katze mit weißen Pfoten sonnte sich auf der zweitobersten Stufe. Sie machte keinerlei Anstalten, uns auszuweichen.

»Hallo, du«, sagte Annie und bückte sich, um sie zu streicheln. Die Katze schloß die Augen und ließ sich gnädig streicheln, als täte sie Annie damit einen Gefallen. »Ich habe mir immer gewünscht, eine Katze zu haben. Mein Vater war allergisch gegen Katzen.«

»Dein Vater?«

»Ja. Er bekam Nesselausschlag davon.«

»Ich weiß überhaupt nichts über dich. Über deine Familie, woher du kommst, was du getan hast, ehe du anfingst Lees Träume zu träumen. Wo lebst du?«

Sie richtete sich auf, ihr Lächeln war verschwunden. Sie sah genauso aus wie an dem Abend, als sich Richard über Lincolns psychologische Probleme ausgelassen hatte. »In einer Kleinstadt. Ungefähr so groß wie Fredericksburg.«

»Broun hat einen Kater«, sagte ich hastig. »Ein selbstsüchtiges Biest. Wie diese hier.« Ich kraulte die Katze unter ihrem schwarzen Kinn und ging ganz nach oben, um Annie die Tür aufzumachen. In diesem Moment haßte ich Richard mehr als je zuvor.

Ich wußte überhaupt nichts von Annie. Nein, falsch:

Ich wußte, daß ihr Vater gegen Katzen allergisch gewesen war und daß sie aus einer Kleinstadt kam, und ihrem Gesichtsausdruck nach war das alles, was sie mir erzählen würde. Ich nahm es ihr nicht übel. Richard wußte alles über sie. Was nicht auf den Formularen gestanden hatte, die sie im Institut ausgefüllt hatte, oder in dem Krankenbericht, den ihr Arzt geschickt hatte, hatte Richard während seiner Therapiesitzungen herausgefunden, und was immer er wissen mochte, er hatte es benutzt. »Ich sehe, daß dein Vater letztes Jahr gestorben ist. Hast du dich für seinen Tod verantwortlich gefühlt? Wie sah er aus? Hatte er einen weißen Bart? Wie der von Robert E. Lee? Handelt dein Traum nicht in Wirklichkeit davon?«

Und als wäre das noch nicht schlimm genug, hatte er womöglich den Morgen damit verbracht, die Telefonnummern auf den Formularen anzurufen, die ›nicht unter obiger Adresse gemeldeten nächsten Verwandten‹, und ihren Aufenthaltsort zu erfahren versucht. Kein Wunder, daß sie mir nichts sagen wollte. Ich könnte mich als zweiter Richard erweisen, und für den Fall, daß sie von mir wegliefe, wollte sie sichergehen, daß ich ihr nicht würde folgen können.

»Broun wird durchdrehen, wenn er wiederkommt«, sagte ich und öffnete mit einem aufmunternden Lächeln die Tür zu meinem Zimmer. »Ich habe der Katze den übriggebliebenen Krabbensalat gegeben.«

Sie folgte mir ins Zimmer. »Wie hat er geschmeckt?«

»Nun, ich wollte nicht, daß Broun es herausfindet, ich fand ihn jedenfalls schrecklich. Ich hatte Angst, daß er uns bei dem Empfang noch zwingen würde, davon zu probieren. Jetzt machst du aber, daß du ein Nickerchen machst, falls du müde bist. Soll ich dir irgend etwas holen?«

Sie rieb sich über die Stirn. »Jeff, ich glaube, ich könnte jetzt doch ein Aspirin vertragen.«

»Ich schau mal nach, ob ich welche habe«, sagte ich, sehr wohl wissend, daß ich beim überstürzten Aufbruch kein Aspirin eingepackt hatte. Ich hätte ihr beinahe angeboten, welches zu holen, aber da war etwas, das ich erst noch erledigen mußte. Ich schloß die Tür und rief Brouns Anrufbeantworter an.

Brouns kalifornischer Wetterbericht wiederholte sich, und Richard hatte angerufen.

»Ich rufe an, um dir zu sagen, daß ich dir nicht böse dafür bin, daß du mich heute morgen von der Polizei hast verhören lassen«, sagte der Onkel Doktor. »Ich weiß, du hast dich bedroht gefühlt, und ich weiß, daß sich Annie bedroht fühlt, aber ich versichere dir, daß das Wohlergehen meiner Patientin mein größtes Anliegen ist.«

Ein Psychiater muß den Patienten davon überzeugen, daß er bei ihm in besten Händen ist.

»Weglaufen ist keine Alternative, Jeff. Du mußt Annie zurückbringen, damit sie in geeignete Behandlung kommt. Ich weiß, du ziehst es vor, mir nicht zu glauben, aber ihre neurotischen Phantasien sind gefährlich. Sie hat sich vollkommen von ihren Träumen distanziert. Sie hat mir erzählt, sie träume Robert E. Lees Träume. Sie befindet sich unmittelbar vor Ausbruch einer psychotischen Krise, und sie nach Kalifornien mitzunehmen, heißt die Krise zu beschleunigen.«

Gut. Er glaubte, wir wären in Kalifornien. Das bedeutete, daß er nicht hier auftauchen würde, während ich weg war. Ich wollte Annie nicht alleinlassen, aber ich mußte alles über das Thorazin herausfinden, das er ihr gegeben hatte. Ich legte auf und ging wieder in Annies Zimmer hinüber. Sie stand am Fenster und schaute zu den Bäumen am Rand des Flusses hinaus.

»Ich habe kein Aspirin dabei. Ich werde welches holen. Ich habe unterwegs einen Drugstore gesehen.«

»Du mußt nicht…«

»Ich muß sowieso noch einmal weg. Ich habe auch vergessen, Rasierzeug einzupacken, und im Gegensatz zu Broun habe ich nicht vor, mir einen Bart wachsen zu lassen. Kann ich dir sonst noch etwas mitbringen?«

»Nein.« Sie brachte ein leidliches Lächeln zustande. Sie begann wieder fiebrig auszusehen.

»Bist du sicher, daß du hier zurechtkommst? Ich bin nur ein paar Minuten weg.«

»Es geht schon«, sagte sie. Sie versuchte ein überzeugenderes Lächeln. Ein Lastwagen rumpelte vor dem Gasthof vorbei, und Annie hob den Kopf und spähte über die Bäume, als hätte sie das leise Donnern der Artillerie gehört.

Ich nahm den Wagen, kaufte den Rasierer und etwas Aspirin in einem Gemischtwarenladen, und dann fuhr ich ins Zentrum zur Bücherei. Ich hatte sie auf unserem Rückweg zum Gasthof gesehen, ein dreistöckiges Backsteingebäude, das wie eine Schule aussah.

Die Nachschlagewerke waren in einem düsteren Kellerraum untergebracht, der von Neonröhren erhellt war. Das einzige Drogenlexikon, das sie hatten, war total veraltet, und es enthielt nichts darüber, wie man Thorazin aus dem Organismus entfernte, allerdings war zu lesen, daß ein abruptes Absetzen einer hohen Dosis zu Erschöpfung und Benommenheit führen konnte.

Was eine hohe Dosis war, stand nicht darin, und es war auch nicht besonders wichtig, da ich keine Ahnung hatte, wieviel ihr Richard gegeben hatte, aber wie hatte er ihr überhaupt etwas geben können? Das Lexikon beschrieb es als so gefährlich, wie ich angenommen hatte.

Es waren Dutzende von Kontraindikationen und Warnungen angeführt, Schläfrigkeit und Gelbsucht und Ohnmachtsanfälle, und es stand eine doppelt umrahmte Anmerkung dabei: »Plötzlicher Tod, besonders nach Herzstillstand, wurde beobachtet, doch es gibt keine ausreichenden Hinweise, daß ein Zusammenhang zwischen solchen Todesfällen und der Verabreichung dieses Medikaments besteht.« Ich fragte mich, ob man es in den zehn Jahren nach Erscheinen des Buchs geschafft hatte, einen Zusammenhang nachzuweisen, und ob Richard sich etwas daraus machte.

Er hatte genau wissen müssen, was Thorazin bei Annie bewirken konnte, und dennoch hatte er es ihr gegeben. Warum? Es wurde nicht zur Heilung von Geisteskrankheiten benutzt. Es wurde dazu benutzt, sie ruhigzustellen.

Ich konnte unter den aufgelisteten Nebenwirkungen nichts über Kopfschmerzen oder Fieber finden, obwohl gesagt wurde, daß es nach der vierten Woche zu Infektionen kommen konnte. Alle aufgeführten Nebenwirkungen und Warnungen schienen sich auf den Langzeitgebrauch des Medikaments zu beziehen, und die letzte Seite beruhigte mich wieder. Allen Warnungen zum Trotz wurde es bei allen möglichen Erkrankungen empfohlen, vom Schluckauf bis zum Wundstarrkrampf.

Ich fuhr zum Gasthof zurück und fand Annie mit der schwarzen Katze spielend auf der Außentreppe vor. »Meine Kopfschmerzen sind weg«, sagte sie, als ich ihr das Aspirin reichte. »Ich fühle mich schon viel besser.«

Wir aßen in dem Coffeeshop zu Abend, wo wir auch gefrühstückt hatten. »Wie fühlst du dich jetzt?« fragte ich sie, als uns die Serviererin die Rechnung brachte. »Hast du dich den ganzen Tag über benommen gefühlt?«

»Nein.«

»Erschöpft?«

»Nein. Warum?«

»Es könnte sein, daß du immer noch Thorazin im Organismus hast.«

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, sagte sie. »Unter uns gesagt, ich habe heute genug Kaffee getrunken, um so ziemlich alles aus meinem Organismus herauszubekommen. Du brauchst dir wegen des Thorazins keine Sorgen zu machen.«

»Okay«, sagte ich und nahm die Rechnung. »Dann mache ich mir auch keine.«

Sie stand auf und blickte durch das Restaurant, als jagte es ihr Angst ein. »Dann bleiben als einziges Problem noch die Träume.«

Ich ging zum Tisch zurück, um das Trinkgeld zu hinterlegen. Auf dem Polster der Sitzbank lag ihre Papierserviette. Sie hatte sie in winzige Stücke zerfetzt.

Als wir wieder auf unserer Suite waren, sagte ich: »Ich glaube, ich werde hier ein bißchen an den Druckfahnen arbeiten.« Ich zog einen grünen Sessel nahe ans Fußende des Betts heran und ging in mein Zimmer hinüber, um die Fahnen zu holen. Ich ließ mir Zeit, Brouns lektoriertes Manuskript und ein paar blaue Kugelschreiber mitzunehmen, damit Annie sich zum Schlafengehen fertigmachen konnte, wobei ich die ganze Zeit über pfiff, damit sie wußte, daß ich da war.

Als ich zurückkam, war sie bereits im Bett, in einem langärmligen weißen Nachthemd, und saß mit ineinandergekrampften Händen aufrecht gegen die Kissen gelehnt.

»Handelt Brouns Buch von Antietam?« fragte Annie.

»Mehr oder minder«, sagte ich. »Er macht andauernd Änderungen. Deshalb muß ich hiermit fertig sein, bevor er aus Kalifornien zurück ist, damit er endlich aufhört, damit rumzuspielen.«

»Was mußt du damit machen?«

»Korrekturlesen. Nach Fehlern suchen, Satzfehlern, fehlenden Zeilen, Zeichensetzung, all so was.« Ich rückte den Sessel näher ans Bett, damit ich meine Füße dagegenstemmen konnte.

»Kann ich dir helfen?« Sie sagte es ziemlich ruhig, aber die Knöchel ihrer verkrampften Hände waren weiß. »Bitte. Ich will nicht einfach nur hier sitzen und aufs Einschlafen warten.«

Ich legte die Druckfahnen beiseite. »Sieh mal, ich muß nicht unbedingt gerade jetzt daran arbeiten. Wir könnten etwas fernsehen oder so.«

»Ich würde dir wirklich gerne dabei helfen. Ich glaube, das Lesen würde mich von den Träumen ablenken. Nehmen wir verschiedene Teile, oder lesen wir uns gegenseitig etwas laut vor?«

»Annie, ich finde nicht, daß das eine gute Idee ist.«

»Weil es von Antietam handelt?«

Weil es von Lees bandagierten Händen handelt und von einem Pferd mit abgeschossenen Beinen und haufenweise toten Soldaten. »Ja.«

»Du liest das sonst laut, nicht wahr?« sagte sie. »Genau aus diesem Grund sollte ich dir helfen. Ich kann feststellen, ob Broun irgendwelche Fehler gemacht hat. Schließlich bin ich schon einmal dort gewesen.«

Ich wußte nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich reichte ihr die Fahnen und einen blauen Korrekturstift. »Ich lese aus dem lektorierten Manuskript vor, und du folgst dem Text und guckst, ob alles da ist und ob sie nicht eine Zeile vergessen haben. Du kannst auch nach Setzfehlern sehen. Mach einfach ein X an den Rand, und ich füge hinterher die Korrekturzeichen ein.« Ich reichte ihr einen Stift, stellte meine Füße auf den Bettrahmen und begann zu lesen:

»Wie spät ist es, was schätzt du?« sagte Ben. Sie kauerten in einem Maisfeld gleich hinter der tiefer gelegenen Straße, auf der das Kämpfen vonstatten ging. Sie hatten über die Köpfe der Männer auf der Straße hinweggefeuert, bis ihnen die Munition ausgegangen war, und dann hatten sie begonnen, sich zwischen den Reihen zerfetzter Maisstauden zurückzuziehen, wobei sie den Toten und Verwundeten die Gewehre abgenommen und sie abgefeuert hatten. Es kam ihnen so vor, als hätten sie das schon stundenlang getan, doch die Luft war so voll Rauch, daß Ben nicht einmal die Sonne sehen konnte. Er fragte sich, ob sie nicht schon den ganzen Tag hier verbracht hatten und ob die Sonne nicht bereits untergegangen war.

»Abend isses noch nicht«, sagte Malachi. Er hatte seine Hand unter einem Soldaten, dem die linke Schulter weggeschossen worden war, und der mit dem Gesicht nach unten zwischen den abgebrochenen Maisstengeln lag. Er hatte blondes Haar. Sein Arm lag neben ihm auf der Erde und hielt immer noch die Springfield. An seinem Ärmel war mit einem Zweig ein Stoffetzen befestigt. Ben legte sein Gewehr nieder und löste den Stoff. Es war ein Taschentuch.

Malachi drehte ihn herum und wühlte in seinen Taschen. Es war Toby.

»Na«, sagte Malachi. »Sieht so aus, als wär’n ihm auch die Patronen ausgegangen, eh’ sie ihn erwischt haben.« Er stieß mit Bens Gewehr nach ihm und drehte ihn mit einem Ruck wieder um. »Hör mal. Sie bringen die Kanonen heran«, sagte Malachi, und Ben fühlte, wie der Acker unter seinen Füßen erzitterte.

»Ich muß…«, sagte Ben und begann sich wieder vorwärts zu bewegen.

Malachi richtete sich auf und packte ihn hinten am Hemd. »Verdammt, was machst du denn da?«

Er zeigte Malachi das Taschentuch. »Ich muß das wieder an Toby festmachen. Wie soll man sonst herausfinden, wer er ist? Wie soll seine Familie sonst erfahren, was mit ihm passiert ist?«

»Da kommen sie schon von allein drauf, aber nicht durch das hier«, sagte er und stieß mit den Finger nach dem Taschentuch. Ben sah es an. Es war so mit Ruß bedeckt, daß er die Buchstaben kaum erkennen konnte. »Jetzt komm schon! Was, zum Teufel, machst du denn jetzt?«

»Ich kenne ihn«, sagte Ben und wühlte in seinen Taschen. »Ich weiß, wo er her ist. Hast du ein Stück Papier?«

Eine Kugel traf Tobys Arm und riß ein weiteres rotes Loch. »Komm jetzt«, rief Malachi, »oder der Typ da hinten reißt dir noch den Arsch auf.« Er packte Ben am Mantel und zerrte ihn durch das Maisfeld voran, bis von Toby nichts mehr zu sehen war.

Nach einer Weile ließ das Gewehrfeuer etwas nach, und Malachi sagte: »Also ich steck mir meine Papiere in die Stiefel.«

»Du kannst auch in den Fuß geschossen werden«, sagte Ben.

»Schon möglich«, sagte Malachi, »aber du wirst kaum auf einen Schlag erledigt sein, und dann kannste denen immer noch sagen, wer’de bist, eh’de abkratzt.«

»Tut mir leid«, sagte ich. »Wir hätten das nicht lesen sollen.«

Sie war eingeschlafen. Ich nahm ihr die Fahnen aus der Hand und trug die Korrekturen ein, bis ich selbst müde zu werden begann, und dann ging ich hinüber und schaute eine Weile aus dem Fenster zum Rappahannock hinüber. Am gegenüberliegenden Flußufer hatten Unionssoldaten kampiert, nicht weiter als eine halbe Meile von hier entfernt. Der Nebel am Fluß hatte ihre Lagerfeuer verborgen, als sie auf den Beginn der Schlacht gewartet hatten. Alle, die über den Bürgerkrieg geschrieben hatten – Generäle, Kriegshistoriker, Journalisten –, waren der Meinung, daß das Schlimmste das Warten gewesen war. Sobald man einmal in der Schlacht war, sagten sie, sei es nicht mehr so schlimm gewesen. Man tat, was man tun mußte, ohne überhaupt darüber nachzudenken, aber vorher, als man darauf wartete, daß sich der Nebel hob und das Signal gegeben wurde, war es beinahe unerträglich.

»Es ist so kalt«, sagte Annie. Sie setzte sich auf und zerrte mit beiden Händen an der Decke, um sie vom Fußende freizubekommen.

»Ich hole dir noch eine Decke«, sagte ich, und dann bemerkte ich, daß sie immer noch schlief. Sie zog heftig an der Tagesdecke, und sie kam frei.

»Bringt Hill hier herauf«, sagte sie und legte sich das Musselin um die Schultern, indem sie es wie ein Cape mit den Händen im Nacken zusammenhielt. »Ich möchte, daß er das hier sieht.« Ihre Wangen waren stark gerötet. Ich fragte mich, ob sie Fieber hatte, wollte sie aber nicht berühren.

Sie ließ die Tagesdecke los und beugte sich vor, als betrachtete sie etwas. Die Tagesdecke rutschte ihr von den Schultern. »Bringt mir eine Laterne«, sagte sie und fummelte an der Borte der Decke herum.

Ich fragte mich, ob ich versuchen sollte, sie aufzuwecken. Ihr Atem ging rasch und flach, und ihre Wangen waren feuerrot. Sie klammerte sich in der verzweifelten Darstellung von irgendwas an der Decke fest.

Ich beugte mich vor, um ihr die Decke wegzunehmen, ehe sie sie zerreißen konnte, und als ich es tat, schaute sie mich direkt mit dem leeren Blick der Schlafenden an und ließ sie los.

»Annie?« sagte ich leise, und sie seufzte und legte sich hin. Die Tagesdecke war hinter ihrem Nacken zusammengeknüllt, und ihr Kopf war unnatürlich abgewinkelt, und ich zog die Tagesdecke vorsichtig unter ihr hervor und zog die Decke über ihre Schultern hoch.

»Ich habe geträumt«, sagte Annie. Sie sah mich an, und diesmal erkannte sie mich. Ihre Wangen waren immer noch gerötet, aber nicht mehr so stark wie zuvor.

»Ich weiß«, sagte ich. Ich hängte die Tagesdecke über das Bettende und setzte mich neben sie. »Willst du mir davon erzählen?«

Sie setzte sich auf, packte das Kissen gegen das Kopfbrett und und zog sich die Musselintagesdecke über die angewinkelten Knie. »Ich stand nachts auf der Veranda meines Hauses und blickte auf den Rasen. Es war Winter, glaube ich, denn es war kalt, aber es lag kein Schnee, und das Haus war irgendwie verändert. Es stand auf einem flachen Hügel, und der Rasen lag ein ganzes Stück unter mir, am Fuß des Hügels. Ich schaute auf den Rasen hinunter, doch ich konnte ihn nicht sehen, weil es zu dunkel war, aber ich hörte jemand schreien. Es war sehr weit entfernt, deshalb konnte ich nicht ganz sicher sein, was ich hörte; ich spähte auf den Rasen hinunter und versuchte zu erkennen, was dort unten vor sich ging.

Ich machte das Licht auf der Veranda an, und dadurch wurde es noch schlimmer. Ich konnte überhaupt nichts mehr sehen. Also machte ich es wieder aus und stand dort im Dunkeln, und in diesem Moment rannte jemand gegen mich; es war ein Unionssoldat. Er hatte eine Nachricht für mich, und ich wußte, es war eine gute Nachricht, aber ich fürchtete, wenn ich das Licht anmachte, würde ich nicht sehen können, was auf dem Rasen vor sich ging.

Dann sah ich ein Licht am Himmel, in großer Entfernung, und ich dachte, oh, wunderbar, jemand hat dort drüben die Verandabeleuchtung angemacht, aber es war etwas anderes, es hüpfte auf und ab, es tanzte, und ich dachte, jemand bringt mir eine Laterne, damit ich die Nachricht lesen konnte, und dann wurde der ganze Himmel rot und grün erhellt, und nun konnte ich den Rasen sehen. Er war übersät mit toten Soldaten.«

»Waren es Unionssoldaten?« fragte ich.

»Ja«, sagte sie, »aber sie trugen keine blauen Uniformen. Einige von ihnen trugen lange Unterhosen, rot und weiß gestreift, und manche waren nackt, und ich dachte, wie kalt ihnen sein mußte, wenn sie dort ohne Kleider lagen. Weißt du, wo wir uns befinden?«

O ja, dachte ich, ich weiß, wo wir uns befinden. Ich hatte sie den ganzen Tag vom Schlachtfeld ferngehalten, aber sie war trotzdem dagewesen. Und wie hatte ich annehmen können, die gewonnenen Schlachten hätten Lee weniger gequält als die verlorenen?

»Sie trugen keine Uniformen, weil die Konföderierten mitten in der Nacht von Marye’s Heights herunterkamen und sie den Toten wegnahmen. Nach der Schlacht von Fredericksburg.«

Sie lehnte sich in das Kissen zurück, als hätte ich etwas Tröstendes gesagt. »Erzähl mir alles über die Schlacht.«

»Nach Antietam zog sich Lee nach Virginia zurück. Die Unionsarmee brauchte endlos lange, bis sie sich ihm zu folgen entschloß, und als sie es tat, geschah es zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt. Die Unionsarmee überquerte den Rappahannock bei Fredericksburg im Dezember und versuchte über das offene Land südwestlich an der Stadt vorbeizumarschieren, doch die Konföderationsarmee hielt noch Marye’s Heights über der Ebene. Sie wies zweifelsfrei nach, daß es unmöglich ist, eine befestigte Höhe vom offenen Gelände aus anzugreifen.«

»Und nach der Schlacht lagen die verwundeten Soldaten herum und schrien um Hilfe?«

»Ja. In der Nacht hatte es Frost gegeben.«

»Und die Konföderierten stahlen ihnen die Kleider«, sagte sie leise. »Und was war mit der Nachricht?«

»Ein Unionssoldat hatte sich am Vorabend im Dunkeln verlaufen und war in eine Vorpostenkette der Konföderierten gelangt. Er wurde gefangengenommen, und die Befehle, die er mit sich führte, wurden Lee überbracht. In derselben Nacht leuchtete das Nordlicht und färbte den ganzen Himmel rot und grün. Beide Seiten betrachteten das als gutes Omen.«

Sie saß lange unter der Decke zusammengekauert da. »Wie spät ist es?« fragte sie.

»Viertel vor zwölf.«

Sie streckte sich aus. »Wenn es diesmal wieder so wie sonst ist, dann dürfte ich heute nacht keine Träume mehr haben. Nach Mitternacht träume ich im allgemeinen nicht mehr.«

»War dieser Traum so wie die anderen, Annie?« fragte ich und dachte an das ›Traumgewitter‹, das laut Dr. Stone dem abrupten Absetzen von Sedativa folgte.

»Nein«, sagte sie. Sie hatte sich auf einen Ellbogen gestützt und lächelte. »Er war leichter. Weil du hier warst, um mir zu sagen, was er bedeutet.« Sie gähnte. »Kann ich morgen lange schlafen?«

»Natürlich. Am Morgen nach der Schlacht schlafen die Soldaten immer lange«, sagte ich, was eine Lüge war. Am Morgen nach der Schlacht ließ man die Soldaten zur nächsten Schlacht marschieren, und zur nächsten, bis sie die erreicht hatten, in der sie starben.

Ich setzte mich in den grünen Sessel und hob die Fahnen auf.

»Du mußt nicht aufbleiben, Jeff«, sagte sie. »Ich werde keine Träume mehr haben. Du kannst dich hinlegen.«

»Ich dachte nur, ich lese noch das Kapitel fertig, an dem wir gerade waren«, sagte ich. »Mach dir wegen mir keine Sorgen. Schlaf weiter.«

Sie war beinahe augenblicklich eingeschlafen, aber ich las weiter. Ben und Malachi gelangten aus ihrem Maisfeld in die zweifelhafte Sicherheit des Westwaldes. Hooker eröffnete mit jeder verfügbaren Kanone das Feuer auf ein anderes Maisfeld, und keiner schaffte es, herauszukommen. Bens Bruder und die Überreste von Mansfields Zwölftem Korps bekamen Befehl, den Ostwald zu halten, und eröffneten in dem Rauch und dem Chaos das Feuer auf ihre eigenen Truppen. Als Mansfield sie zu stoppen versuchte, wurde er von einer konföderierten Kugel in die Brust getroffen. Die Wunde war tödlich, aber er brachte es fertig, abzusteigen und sein verwundetes Pferd in Sicherheit zu bringen, ehe er starb.