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Was hat man in Virginia für Pferde gezüchtet,
An die man sich erinnerte nach ihrem Tod,
Die man begrub nicht weit vom Friedhof bei der Kirche,
Daß wenn die Reiter sich erhöben aus dem Schlaf,
Niemand und nichts sie wieder von der Erde hexte,
Auf der sie spurlos ritten durch das Gras
Mit altem Schneid und müheloser Hand wie einst.

Stephen Vincent Benet

 

TRAVELLER STARB AN WUNDSTARRKRAMPF, zwei Jahre nach dem Tod von Robert E. Lee. Ich schlug das eines Februartages nach, an dem Tag, als ich loszog, um herauszufinden, wo Abraham Lincolns Sohn Willie begraben lag. Ich hatte über ein Jahr nach dem Grab gesucht, und als ich es schließlich in einer Biographie von Mary Todd Lincoln erwähnt fand, rannte ich aus der Bibliothek, das Buch noch in der Hand. Ich löste einen Alarm aus, und eine der Bibliothekarinnen kam auf die Treppe hinaus und rief mir hinterher: »Jeff, alles in Ordnung mit dir? Jeff!«

Es schneite heftig an jenem Tag, feuchten Frühlingsschnee. Ich brauchte fast eine Stunde, um zu dem alten Friedhof in Georgetown hinauszufahren. Ich weiß nicht, was ich zu finden hoffte, vielleicht einen Hinweis darauf, wo Annie war und was mit ihr passiert war, irgendeine Botschaft, die mir erklärte, was mit ihnen allen passiert war, mit Tom Tita und Ben und den anderen Soldaten, die im Bürgerkrieg ihr Leben gelassen hatten und unter Granitplatten begraben lagen, nicht größer als ein Fetzen Papier.

Aber es gab dort nichts, nicht einmal Willie Lincolns Gebeine, und ich fuhr zu Brouns Haus zurück und holte Freemans vierbändige Biographie von Lee hervor und versuchte herauszufinden, was mit Traveller geschehen war.

So wie bei allen anderen Vorfällen, die sich ereignet hatten, gab es einerseits zu viele Hinweise, und auch wieder nicht genug. Aber endlich fand ich, was ich wissen wollte, auf die gleiche Weise, wie ich Willies Aufenthalt entdeckt und wie ich herausgefunden hatte, was Annie träumen ließ. Denn war das Nachschlagen ungeklärter Sachverhalte etwa nicht meine Stärke? Traveller war zwei Jahre alt geworden. Er war in einen Nagel getreten und hatte Wundstarrkrampf bekommen. Man mußte ihn erschießen.

Ich lernte Annie vor zwei Jahren kennen, an dem Abend von Brouns Presseempfang. Der Empfang sollte eine vorgezogene Party anläßlich der Veröffentlichung seines zwölften Romans, Die Bürde der Pflicht, sein, mit einem Stapel Druckfahnen, die der Presse überreicht werden sollten, aber die gab es nicht. Es gab noch nicht einmal ein fertiggeschriebenes Buch.

Der Presseempfang war für die letzte Märzwoche festgesetzt worden, aber Ende Februar bastelte Broun immer noch an dem lektorierten Manuskript herum, brachte Änderungen an und veränderte die Änderungen wieder, und eine Woche vor dem Empfang war ich wieder in West Virginia und versuchte herauszufinden, wo genau Lee Traveller gekauft hatte.

Dieses Detail war für das Buch in keiner Weise von Bedeutung, denn unzweifelhaft hatte Lee bei Antietam im September 1892 Traveller geritten, aber das war genau die Art Probleme, um die Broun das ganze Buch über eine Menge Wirbel veranstaltet hatte, und ich war besorgt.

Er hatte jede Menge Probleme mit Die Bürde der Pflicht. Für gewöhnlich brachte er seine Bürgerkriegsgeschichten pünktlich wie ein Uhrwerk heraus, von der Idee über die Skizze bis zum Manuskript und den korrigierten Fahnen, was der Grund dafür war, daß seine Verleger, McLaws und Herndon, vorgegriffen und den Empfang anberaumt hatten, bevor sie das lektorierte Manuskript wieder zurück hatten.

Ich hätte es ebenso gemacht. Während der vier Jahre, während der ich für Broun recherchiert hatte, hatte er nie einen Termin verpaßt. Aber bei Die Bürde der Pflicht war das Ende noch nicht einmal in Sicht, und als ich ihn von West Virginia aus anrief, war er noch mit größeren Änderungen beschäftigt.

»Ich glaube, ich füge am Buchanfang noch ein Kapitel ein, Jeff«, sagte er. »Um zu erklären, warum sich Ben Freeman freiwillig meldet.«

»Ich dachte, Sie hätten das lektorierte Manuskript schon längst zurückgeschickt«, sagte ich.

»Das habe ich auch, mein Sohn. Vor drei Wochen. Aber dann fing ich an, mir über Ben Sorgen zu machen. Er verpflichtet sich einfach so, aus keinem besonderen Grund. Würdest du das tun?«

»Nein, aber eine Menge Rekruten haben es getan. Ich rufe an, weil ich ein bißchen Ärger wegen Traveller habe. In einem Brief an eine seiner Töchter schreibt Lee, er hätte Traveller im Herbst 1861 gekauft, aber aus den Dokumenten hier geht hervor, daß er ihn nicht vor 1862 kaufte, während des Carolina-Feldzugs.«

»Sie müssen einen Grund dafür gehabt haben, sich zu melden«, sagte Broun. »Wie wär’s, wenn Ben einem Mädchen den Hof machte, das jemand anderen liebt?«

McLaws und Herndon würden ihm den Hals umdrehen, wenn er zu diesem späten Zeitpunkt noch weitere Charaktere hinzufügen würde. »Ich glaube, der Anfang ist gelungen«, sagte ich. »Ben braucht keinen triftigen Grund dafür, daß er sich verpflichtet. Alle anderen hatten im Bürgerkrieg auch keinen. Die meisten Rekruten hätten Ihnen nicht einmal sagen können, worum es bei dem Krieg überhaupt ging, geschweige denn, warum sie mitmachten. Ich würde weitermachen und alles so lassen, wie es ist, und das gleiche gilt für Traveller. Ich fahre morgen nach Lewisburg rauf und sehe die Gerichtsakten durch, aber ich bin mir fast sicher, daß Lee das Pferd nicht 1861 gekauft hat.«

»Bist du rechtzeitig zum Empfang zurück?« fragte Broun.

»Ich dachte, Sie würden ihn verschieben, weil das Buch noch nicht so weit ist.«

»Die Einladungen sind schon raus. Versuch rechtzeitig zurück zu sein, mein Sohn. Ich brauche dich hier, damit du ihnen erklärst, warum das Buch so lange auf sich warten läßt.«

Ich wollte ihn bitten, mir das zu erklären, aber ich tat es nicht. Statt dessen hetzte ich drei Tage lang durchs ganze Breenbrier County, auf der Suche nach einer gekritzelten Notiz oder einer vorläufigen Vereinbarung, die die Angelegenheit auf die eine oder andere Art entscheiden würde, und dann fuhr ich in einem fürchterlichen Schneegestöber nach Hause, kam aber noch rechtzeitig zum Empfang.

»Du siehst aus, als hättest du noch nie einen Einsatz mitgemacht, mein Sohn«, sagte Broun, als ich am späten Nachmittag dort eintraf.

»Habe ich aber«, sagte ich und zog den Parka aus. Der Schnee war mir den ganzen Weg von White Sulphur Springs gefolgt und hatte sich fünfzig Meilen vor D.C. schließlich in Eisregen verwandelt. Ich war froh, daß Broun in seinem oben gelegenen Arbeitszimmer den Kamin angezündet hatte. »Ich habe rausgefunden, was Sie über Traveller wissen wollten.«

»Schön, schön«, sagte er, während er Bücher von einem hochlehnigen Stuhl herunternahm und ihn vor das Feuer stellte. Er hängte meinen Parka über die Rückenlehne. »Ich bin froh, daß du wieder da bist, Jeff. Ich glaube, ich habe das Buch endlich in den Griff bekommen. Wußtest du, daß Lincoln von seiner eigenen Ermordung geträumt hat?«

»Ja«, sagte ich und fragte mich, was, um alles in der Welt, das mit einem Roman über Antietam zu tun hatte. »Er sah im Traum seinen Leichnam im Weißen Haus, nicht wahr?«

»Er träumte, daß er aufgewacht wäre und ein Weinen hörte«, sagte Broun, scheuchte seinen Siamkater vom großen ledernen Armsessel herunter und zog den Sessel vor den Kamin. Er schien überhaupt keine Eile zu haben, obwohl der Empfang um sieben beginnen sollte. Er trug die schäbige Strickjacke, in der er für gewöhnlich schrieb, und eine ausgebeulte Hose, und er hatte sich offensichtlich nicht mehr rasiert, seitdem ich ihn verlassen hatte. Vielleicht hatte man den Empfang zu guter Letzt doch noch abgesagt.

Broun bedeutete mir, mich zu setzen. »Als er die Treppe hinunterging, sah er niemanden«, fuhr er fort, »aber im östlichen Zimmer lag in einem Sarg eine Leiche. Das Gesicht der Leiche war von einem schwarzen Tuch bedeckt, und Lincoln fragte die neben der Tür stehende Wache, wer der Tote sei, und die Wache antwortete: ›Der Präsident. Er wurde von einem Attentäter umgebracht.‹«

Er schaute mich gespannt an und wartete darauf, daß ich etwas sagte, aber ich hatte keine Ahnung, was das hätte sein können. »Er hatte diesen Traum einen Monat, bevor er starb, oder?« sagte ich lahm.

»Zwei Wochen. Am zweiten April. Ich hatte davon gelesen, aber während du weg warst, rief McLaws und Herndons Werbeagentin an und fragte mich, welches Buch ich nach Die Bürde der Pflicht schreiben würde. Sie brauchte das für die Pressemitteilung, die sie auf dem Empfang verteilen wollte, und ich sagte ihr, daß ich das nicht wüßte, aber dann fing ich an, über ein Lincoln-Buch nachzudenken.«

Das Lincoln-Buch. Darum ging es also. Ich hatte das Gefühl, ich müßte glücklich sein. Wenn er sich auf ein neues Buch einließe, dann gäbe er womöglich Die Bürde der Pflicht auf. Der Haken bei der Sache war, daß das Lincoln-Buch kein neues Buch war. Broun nannte es das Buch seiner Midlife-Crisis, obwohl er nicht damit begonnen hatte, ehe er sechzig geworden war. »Ich hatte Angst, ich könnte sterben, ehe ich etwas Bedeutendes geschrieben hatte, und vielleicht habe ich die immer noch. Ich bekam das verdammte Ding einfach nicht in den Griff«, sagte er mir lachend, als ich das erste Mal bei ihm zur Arbeit erschien, aber ich hatte den Verdacht, er meinte es ziemlich ernst. Ein Jahr später hatte er die Arbeit daran noch einmal aufgenommen, aber immer noch existierte kaum mehr davon als ein Plan.

»Ich möchte, daß du morgen nach Arlington hinausfährst, Jeff.« Er kratzte über die grauen Stoppeln auf seiner Wange. »Ich muß wissen, ob man Willie Lincoln dort begraben hat.«

»Er liegt in Springfield begraben. In der Gruft der Lincolns.«

»Aber nicht während des Bürgerkriegs. Sein Leichnam wurde erst 1865, als Lincoln ermordet wurde, nach Springfield überführt. Willie starb 1862. Ich möchte wissen, wo er während dieser drei Jahre begraben war.«

Ich hatte keine Ahnung, was Willie Lincoln mit Lincolns Traum von seiner Ermordung zu tun hatte, aber ich war zu erschöpft, um danach zu fragen. »Sie haben den Empfang abgesagt, nicht wahr?« sagte ich und hoffte wider alle Vernunft, er würde ja sagen. »Die Straßen sind in einem schrecklichen Zustand.«

»Nein, das läuft noch.« Broun blickte auf seine Uhr. »Ich muß mich langsam anziehen. Diese verdammten Reporter kommen immer zu früh.« Ich mußte so ausgesehen haben, wie ich mich fühlte, denn er sagte: »Wir müssen uns erst um acht dem Kampf stellen, und ich werde mich um das Vorgeplänkel kümmern. Warum genehmigst du dir nicht ein kurzes Schläfchen?«

»Ich glaube, ich nehme Sie beim Wort«, sagte ich und stemmte mich vom Stuhl hoch.

»Oh, würdest du mir vorher noch einen Gefallen tun?« sagte Broun. »Würdest du Richard Madison anrufen und dich vergewissern, daß er heute abend kommt? Seine Freundin sagte, sie würden kommen, aber ich möchte, daß du anrufst und dich davon überzeugst.«

Lincolns Träume und Willie Lincolns Leichnam und jetzt auch noch mein alter College-Stubenkamerad. Ich gab es auf, so aussehen zu wollen, als wüßte ich, wovon er überhaupt sprach.

»Er hat angerufen, während du weg warst«, sagte Broun und kratzte an den Stoppeln. »Meinte, er müßte dich sofort sprechen. Ich sagte ihm, ich hätte deine Nummer nicht, aber du würdest zurückrufen, und ob ich dir irgendeine Nachricht übermitteln sollte, aber er bat mich nur, dir zu sagen, du möchtest ihn anrufen, und als du anriefst, hatte ich keine Gelegenheit, es dir zu sagen, deshalb rief ich ihn an und sagte ihm, du würdest heute zurück sein.«

Es mußte einen Schlüssel zu all dem geben. »Sie haben ihn zu dem Empfang eingeladen?« fragte ich.

»Ich habe die Freundin zum Empfang eingeladen. Richard war nicht da. Das Mädchen meinte, er wäre im Schlafinstitut, und ich fragte sie, was er dort machte, und sie sagte: ›Er erzählt den Leuten, was ihre Träume bedeuten‹, und als ich aufgehängt hatte, fing ich an, über Lincolns Träume nachzudenken und darüber, was ein Psychiater dazu sagen würde, deshalb rief ich sie noch einmal an und lud beide zum Empfang ein, um ihn danach zu fragen. Aber weil ich noch nie mit Richard gesprochen habe und weil er wollte, daß du ihn anrufst, halte ich es für eine gute Idee, wenn du dort anrufst und dich erkundigst, ob sie kommen. Und dann legst du dich am besten hin, mein Sohn. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment zusammenbrechen.«

Er ging hinaus. Ich stand eine Minute lang vor dem Kamin und fragte mich, warum mich Richard angerufen hatte. Wir waren damals gute Freunde gewesen, als wir im Duke Stubenkameraden waren, aber wir hatten einander in den sechs Jahren nach Ende des Studiums kaum gesehen. Er war wegen des praktischen Jahrs nach New York gegangen und dann nach D.C. zurückgekehrt, um seine Assistentenzeit am Schlafinstitut zu verbringen, was bedeutete, daß er zu beschäftigt war, um irgend jemanden zu treffen. Er hatte mich letztes Jahr genau einmal angerufen, und zwar, um mir einen Job anzubieten. Einer seiner Patienten, ein hohes Tier vom Pentagon, machte eine Untersuchung über die Langzeitfolgen des Vietnamkrieges und brauchte einen Forscher.

»Kein Interesse«, hatte ich gesagt. »Ich bin mir noch nicht einmal über die Langzeitfolgen des Bürgerkriegs im klaren.«

»Bei diesem Job hättest du die Möglichkeit, etwas Wichtiges zu leisten, anstatt deine Zeit bei einem Auftragsschreiberling mit der Suche nach obskuren Fakten zu verschwenden, für die sich eh’ niemand interessiert«, hatte er gesagt.

Ich hatte den ganzen Tag über herauszufinden versucht, warum General Longstreet bei Antietam einen Pantoffel getragen hatte. Er hatte Blasen an der Ferse gehabt, eine Tatsache, die Richard sicherlich in die Kategorie ›Tatsachen, für die sich niemand interessiert‹ gesteckt hätte. Longstreet interessierte sich vermutlich dafür, trotz allem, denn schließlich versuchte er einen Krieg zu führen, und das gleiche tat Broun, was der Grund war, warum ich für ihn arbeitete, aber ich war nicht in der Stimmung, Richard das zu erklären.

»Wenn dieser Pentagon-Job so toll ist, wie kommt es dann, daß der Typ Patient bei dir ist?« sagte ich statt dessen.

»Er hat eine Schlafstörung.«

»Nun, ich schlafe nachts großartig«, hatte ich gesagt. »Sag ihm danke, oder besser nicht danke.« Ich fragte mich, ob er jetzt angerufen hatte, um mir wieder einen Job anzubieten. Broun hatte gesagt, Richard hätte ihm nicht sagen wollen, worüber er mit mir sprechen wollte, was wahrscheinlich bedeutete, daß es sich so verhielt, und ich war nicht in der Verfassung, mir das anzuhören.

Ich nahm statt dessen eine heiße Dusche und versuchte anschließend zu schlafen, aber ich mußte immer noch an Richard denken und faßte den Entschluß, ihn anzurufen und es hinter mich zu bringen. Ich ging in Brouns Arbeitszimmer hinüber, wo das Telefon stand. Ich dachte, vielleicht ginge die Freundin ran, mit der er gesprochen hatte, aber sie ging nicht ran. Richard aber, und er hatte keinerlei Jobangebote.

»Wo, zum Teufel, hast du gesteckt? Ich habe versucht, dich anzurufen«, sagte er.

»Ich war in West Virginia«, sagte ich. »Einen Mann treffen, wegen eines Pferdes. Worüber wolltest du mit mir sprechen?«

»Über nichts Besonderes. Jetzt ist es jedenfalls zu spät. Broun meinte, er würde dafür sorgen, daß du mich anrufst«, sagte er in fast anklagendem Ton. Warum wurde ich andauernd in Gespräche verwickelt, die weder Kopf noch Fuß zu haben schienen?

»Es tut mir leid, daß ich nicht angerufen habe. Ich bin eben nach Hause gekommen. Aber hör zu, was immer es ist, wir können heute abend auf dem Empfang darüber sprechen.«

Am anderen Ende herrschte Totenstille.

»Du kommst doch, oder etwa nicht?« sagte ich. »Broun liegt wirklich etwas daran, sich mit dir über Lincolns Träume zu unterhalten.«

»Ich kann nicht kommen«, sagte er. »Es ist vollkommen unmöglich. Ich habe einen Patienten, den ich…«

»Wir liegen näher am Schlafinstitut als deine Wohnung. Du kannst im Institut Brouns Nummer hinterlassen, und sie können dich anrufen, wenn es einen Notfall gibt. Ich würde dich wirklich gerne sehen, und ich möchte diese neue Freundin von dir kennenlernen.«

Erneut Totenstille. Schließlich sagte er: »Ich glaube nicht, daß Annie…«

»Mit dir kommen sollte? Natürlich sollte sie. Ich werde mich gut um sie kümmern, während du mit Broun sprichst. Ich werde ihr alles über deine wilde Studentenzeit im Duke erzählen.«

»Nein. Sag deinem Boss, es tut mir leid, aber ich kann ihm nichts über Lincolns Träume erzählen, das ihn interessieren würde.«

Etwa an diesem Punkt angelangt, begann mein ganzer Körper zu schmerzen. »Dann sag du ihm das. Sieh mal«, sagte ich, »du mußt nicht die ganze Zeit bleiben. Der Empfang beginnt um acht. Du kannst mit Broun sprechen und diese Annie, oder wie sie heißt, immer noch um neun zu Hause im Bett haben und ihre REM-Phasen beobachten oder was auch immer ihr Psychiater tut. Bitte. Wenn du nicht kommst, schickt mich Broun in diesem Schneesturm nach Indiana, damit ich herausfinde, welche Alpträume Lincoln als Jugendlicher hatte. Komm schon, tu’s für mich, deinen alten Stubenkameraden.«

»Ich kann nicht länger bleiben als bis neun.«

»Kein Problem«, sagte ich. Ich nannte ihm Brouns Anschrift und legte auf, ehe er nein sagen konnte, und dann saß ich einfach da vor dem Kamin. Brouns Kater sprang auf meinen Schoß, und ich streichelte ihn und dachte daran, aufzustehen und mich ins Bett zu legen.

Broun weckte mich. »Wie lange habe ich geschlafen?« sagte ich und rieb mir, um wach zu werden, über das Gesicht. Wie lange es auch gewesen sein mochte, die Schmerzen waren schlimmer als vorher.

»Es ist halb sieben«, sagte Broun. Er hatte inzwischen ein Dinnerjacket mit Faltenhemd und schmaler Krawatte angezogen. Er hatte sich immer noch nicht rasiert. Vielleicht wollte er sich einen Bart stehenlassen. Falls ja, war es eine schreckliche Idee. Die gräulichen Stoppeln schienen alle Farbe aus seinem Gesicht zu ziehen. Er wirkte gerissen und verrucht, wie ein skrupelloser Pferdehändler. »Ich hätte dich nicht aufgeweckt, aber ich wollte, daß du dir das einmal anschaust.« Er schob mir einen Stoß maschinenbeschriebener Blätter in die Hand.

»Worum geht es denn?« sagte ich. »Willie Lincoln?«

Er stocherte im Feuer herum, das beinahe ganz heruntergebrannt war, während ich geschlafen hatte. »Es ist diese Eingangsszene, die mir Sorgen gemacht hat. Ich konnte mich nicht damit abfinden, daß Ben ohne einen Grund anmustert, deshalb habe ich es umgeschrieben.«

»Wissen McLaws und Herndon davon?« Brouns Kater sprang von meinem Schoß und begann mit dem Schürhaken zu spielen.

»Ich bring’s morgen bei ihnen vorbei, aber ich wollte, daß du es dir vorher anschaust. Ben brauchte irgendein Motiv, um Soldat zu werden.«

»Warum? Was ist mit dieser Stelle weiter hinten, wo er sich in Nelly verliebt? Er hat auch dafür kein Motiv. Sie gibt ihm einen Teelöffel Laudanum, und Zack!, schon ist er bereit, für sie alles zu tun.«

Die Katze umschlang den Schürhaken fest mit einer Pfote, aber Broun bemerkte es nicht. Er starrte ins Feuer. »Es war der Krieg. Die Leute taten so etwas während des Kriegs, sich verlieben, sich aufopfern…«

»Sich freiwillig melden«, sagte ich. »Die meisten Rekruten im Bürgerkrieg hatten keinerlei Motiv dafür, sich zu melden. Es gab einen Krieg, und sie unterschrieben auf der einen Seite oder auf der anderen.« Ich versuchte, ihm das Kapitel zurückzugeben. »Ich glaube nicht, daß Sie ein neues Kapitel brauchen.«

Er stellte den Schürhaken zurück in den Ständer. Die Katze legte sich davor; ihr Schwanz schlug hin und her. »Wie auch immer, ich möchte, daß du das liest«, sagte Broun. »Hat dein Stubenkamerad angerufen?«

»Ja.«

»Kommt er?«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ja.«

»Gut. Gut. Dann kommen wir dieser verdammten Traumgeschichte endlich auf den Grund. Denk dran, mir Bescheid zu sagen, sobald er da ist.« Er bewegte sich zur Tür. »Ich kümmere mich mal um den Partyservice.«

»Sollten Sie sich nicht besser rasieren?«

»Rasieren?« sagte er voller Abscheu. »Siehst du nicht, daß ich mir einen Backenbart stehenlasse?« Er nahm eine Pose ein, mit den Händen unter dem Revers. »So wie Lincoln.«

»Sie sehen nicht wie Lincoln aus«, sagte ich grinsend. »Sie sehen aus wie Grant nach einem Saufgelage.«

»Das gleiche könnte ich von dir sagen, mein Sohn«, sagte er und ging hinunter, um mit den Leuten vom Partyservice zu sprechen.

Ich versuchte das neue Kapitel zu lesen und wünschte, ich hätte die Zeit, ein paar meiner eigenen Träume auf den Grund zu kommen. Ich fühlte mich müder, als ich vor dem Nickerchen gewesen war. Ich konnte nicht einmal meine Augen auf Brouns Manuskript scharf einstellen. Die Reporter würden jede Minute hier sein, und dann würde ich für Stunden mit dem Rücken zur Wand stehen und jedermann erklären, warum Brouns Buch noch nicht fertig war, und morgen würde ich nach Arlington fahren und im Schnee herumstochern müssen, auf der Suche nach Willies Grab.

Wenn ich herausfinden könnte, wo er begraben lag, käme ich vielleicht darum herum, den ganzen Tag lang Schnee von alten Grabsteinen zu wischen. Ich legte das überarbeitete Kapitel beiseite und suchte nach Sandburgs Jahre des Kriegs.

Broun hat nie viel von Bibliotheken gehalten – er hat Bücher im ganzen Haus verstreut, und immer wenn er eins ausgelesen hat, stellt er es in das nächstbeste Regal. Einmal schlug ich ihm vor, die Bücher zu ordnen, und er sagte: »Ich weiß, wo sie alle stehen.« Vielleicht wußte er es wirklich, aber für mich galt das nicht, und deshalb hatte ich sie auf eigene Faust geordnet – Grant und der Westfeldzug standen im großen Eßzimmer im oberen Stock, Lee im Wintergarten und Lincoln im Studierzimmer. Es half nicht viel. Broun ließ die Bücher immer noch dort liegen, wo er sie ausgelesen hatte, aber es war immerhin besser als nichts. Ich hatte zumindest eine reelle Chance, das zu finden, was ich brauchte. Im allgemeinen. Dieses Mal jedenfalls nicht.

Sandburgs Jahre des Kriegs war nicht dort, wo ich es hingestellt hatte, und Oates auch nicht. Ich brauchte fast eine Stunde, um sie zu finden, Oates im Bad im ersten Stock, Sandburg unten im Wintergarten unter einer von Brouns afrikanischen Veilchen. Ehe ich mit ihnen auch nur wieder nach oben gelangt war, tauchte eine junge Frau von Leute auf und versuchte, mich über Brouns neues Buch auszuquetschen.

»Wovon handelt es?« fragte sie.

»Antietam«, sagte ich. »Es steht in der Pressemitteilung.«

»Das meine ich nicht. Das neue, mit dem er gerade anfängt.«

»Da wissen Sie so viel wie ich«, sagte ich, reichte sie an Broun weiter und ging mit den Büchern, die ich gefunden hatte, ins Studierzimmer zurück und informierte mich über Willie Lincoln. Er war 1862 gestorben, im Alter von elf Jahren. Unten im Weißen Haus hatten sie einen Empfang gegeben, während er oben im Sterben lag. Und vielleicht hatten dauernd Leute auf die Klingel gedrückt, dachte ich, als es läutete.

Es waren weitere Reporter, und dann war es einer der Lieferanten und dann weitere Reporter, und ich begann zu glauben, daß Richard nun doch nicht kommen würde, aber als es das nächstemal an der Tür schellte, war es Richard. Zusammen mit Annie.

»Wir können nicht besonders lange bleiben«, sagte Richard noch vor dem Eintreten. Er sah müde und erschöpft aus, was nicht gerade eine Empfehlung für das Schlafinstitut war. Ich fragte mich, ob sein Aussehen etwas mit seinem Anruf während meiner Abwesenheit zu tun hatte.

»Ich freue mich, daß ihr beide kommen konntet«, sagte ich und wandte mich Annie zu. »Ich bin Jeff Johnston. Ich habe mit diesem Typ auf der gleichen Bude gewohnt, ehe aus ihm ein Erfolgs-Psychiater geworden ist.«

»Ich freue mich, dich kennenzulernen, Jeff«, sagte sie mit rauher Stimme.

Sie war überhaupt nicht so, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Richard war während des Medizinstudiums meist mit scharfen kleinen Krankenschwestern ausgegangen, und später, als er am Institut zu arbeiten angefangen hatte, mit Washingtons Schickeria-Damen auf dem Weg nach oben. Er hatte jemandem wie Annie nie auch nur einen Blick geschenkt. Sie war klein, hatte kurzes blondes Haar und blaugraue Augen. Sie trug einen schweren grauen Mantel, Schuhe mit niedrigen Absätzen und sah aus wie achtzehn.

»Die Party ist oben«, sagte ich. »Es ist ein ziemliches Irrenhaus, aber…«

»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte Richard, doch er sah dabei nicht auf seine Uhr. Er sah Annie an, als wäre sie diejenige, die in Eile war. Ich führte sie ins Haus.

»Wie wär’s, wenn ich Broun herunterhole?« sagte ich, obwohl ich keineswegs sicher war, daß ich ihn von den Reportern würde loseisen können. »Ihr könnt hier im Wintergarten warten.« Ich führte sie hinein.

Der Wintergarten war, wie alle anderen Räume im Haus, hervorragend zum Verlegen von Büchern geeignet, obwohl er eigentlich für tropische Pflanzen vorgesehen war. Er hatte Glasfenster wie ein Gewächshaus und eine Heizung, die ihn fünf Grad wärmer hielt als den Rest des Hauses. Broun hatte als Ersatz eine Reihe afrikanischer Veilchen auf einen Tisch vor die Fenster gestellt und ein antikes kleines Sofa, das mit Pferdefell bezogen war, und ein paar Stühle hinzugefügt, aber der Rest des Raums war mit Büchern angefüllt. »Gebt mir eure Mäntel«, sagte ich.

»Nein«, sagte Richard mit einem ängstlichen Seitenblick auf Annie. »Nein. Wir bleiben nicht so lange.«

Ich stürmte die Treppe hinauf und erwischte Broun. Der Partyservice hatte gerade eben das Buffet hergerichtet, also würde man ihn nicht vermissen. Ich sagte Broun, daß Richard hier sei, aber nicht lange bleiben könne, und geleitete ihn zur Treppe, aber die Reporterin von Leute hängte sich an ihn, und es dauerte gut fünf Minuten, bis er von ihr wegkommen konnte.

Sie waren noch da, aber schon auf dem Sprung. Richard stand an der Tür des Wintergartens und sagte: »Es ist schon fast neun. Ich glaube…«

»Erfreut, Sie kennenzulernen, Dr. Madison. Sie sind also Jeffs alter Stubengenosse«, sagte Broun und stellte sich zwischen Richard und die Tür. »Und Sie müssen Annie sein. Wir haben miteinander telefoniert.«

»Ja«, sagte sie. »Ich wollte Sie treffen, Mr. Brou…«

»Wie ich höre, wollten Sie mit mir über Abraham Lincoln sprechen«, sagte Richard und schnitt ihr das Wort ab, ehe sie auch nur Brouns Namen herausbringen konnte.

»Ja«, sagte Broun. »Ich weiß Ihr Kommen zu schätzen. Ich habe ein paar Nachforschungen über Lincoln angestellt. Er hatte ein paar äußerst merkwürdige Träume…« – er lächelte Annie an –, »und weil Sie mir sagten, Dr. Madison erkläre den Leuten die Bedeutung ihrer Träume, dachte ich, er könnte mir vielleicht etwas über Lincolns Träume sagen.« Er wandte sich wieder an Richard. »Haben Sie schon zu Abend gegessen? Dort oben gibt es ein wundervolles Buffet – falls die Reporter nicht schon alles aufgegessen haben. Hummer und Schinken und ein herrliches Krabben-Dingsbums, das…«

»Ich habe nicht sehr viel Zeit«, sagte Richard, wobei er Annie ansah. »Ich habe Jeff bereits am Telefon gesagt, daß ich nicht glaube, Ihnen helfen zu können. Man kann anderer Leute Träume nicht analysieren, indem man sie sich aus zweiter Hand nacherzählen läßt. Man muß alles über den Betreffenden wissen.«

»Was auf Broun zutrifft«, sagte ich.

»Ich benötige vor allem Informationen über die modernen Traumtheorien«, sagte Broun und bemächtigte sich Richards Arm. »Ich verspreche Ihnen, daß ich nur wenige Minuten Ihrer Zeit in Anspruch nehmen werde. Wir schnappen uns unterwegs etwas zu essen, und…«

»Ich glaube nicht…«, sagte Richard, mit einem weiteren ängstlichen Seitenblick auf Annie.

»Sie haben absolut recht«, sagte Broun, seine Hand hielt Richards Arm fest umspannt. »Warum sollte sich die junge Dame bei einem Haufen alter Geschichte langweilen, wenn sie statt dessen auf eine Party gehen kann? Jeff, du leistest ihr Gesellschaft, nicht wahr? Besorgst ihr etwas von diesem Krabben-Dingsbums und etwas Champagner?«

Richard blickte Annie an, als erwartete er, daß sie Einspruch erheben würde, doch sie sagte nichts, und ich hatte den Eindruck, daß er erleichtert war.

»Jeff wird sich gut um sie kümmern«, sagte Broun herzlich, wie ein Mann, der ein Geschäft abzuschließen versuchte. »Nicht wahr, Jeff?«

»Ich kümmere mich um sie«, sagte ich und sah sie an. »Ich verspreche es.«

»Den Traum, mit dem ich Probleme habe, träumte Lincoln zwei Wochen vor seiner Ermordung«, sagte Broun, indem er Richard zielstrebig zur Treppe geleitete, die zu seinem Arbeitszimmer hochführte. »Er träumte, daß er im Weißen Haus aufgewacht wäre und jemanden weinen hörte. Als er die Treppe hinunterging…« Sie tauchten in das Durcheinander der Geräusche und Menschen am Kopf der Treppe ein. Ich drehte mich um und sah Annie an. Sie stand hinter mir und blickte ihnen nach.

»Hättest du Lust, zur Party raufzugehen?« sagte ich. »Broun wird aufgebracht sein, wenn du nicht dieses Krabben-Dingsbums probierst.«

Sie lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, daß Richard so lange bleiben wird.«

»Ja, er schien nicht besonders begeistert von der Aussicht, Lincolns Träume zu analysieren.« Ich führte sie in den Wintergarten zurück. »Er hat andauernd davon gesprochen, aufbrechen zu müssen. Macht ihm einer seiner Patienten das Leben schwer?«

Sie ging zu den Fenstern hinüber und schaute hinaus. »Ja«, sagte sie. »Richard sagte mir, du wärst Historiker.«

»Hat er dir auch gesagt, ich wäre verrückt, mein Leben mit der Suche nach obskuren Fakten zu verbringen, die für niemanden von Bedeutung sind?«

»Nein«, sagte sie und schaute zu, wie sich der Regen allmählich in Schnee verwandelte. »Das ist ein Ausdruck, den er in letzter Zeit für mich reserviert hat.« Sie wandte sich um und sah mich an. »Ich bin bei ihm in Behandlung. Ich habe eine Schlafstörung.«

»Oh«, sagte ich. »Kann ich deinen Mantel haben?« sagte ich, um überhaupt etwas zu sagen. »Broun hat eine Backstube aus diesem Raum gemacht.«

Sie gab ihn mir, und ich ging hinaus und hängte ihn in die Garderobe, während ich mir einen Reim auf das zu machen versuchte, was sie mir gerade eben gesagt hatte. Richard hatte nicht widersprochen, als ich sie seine Freundin genannt hatte, und Broun hatte mir gesagt, sie wäre in Richards Wohnung ans Telefon gegangen, aber wenn sie seine Patientin war, wie kam es dann, daß er mit ihr zusammenlebte?

Als ich in den Wintergarten zurückkam, betrachtete sie Brouns afrikanische Veilchen. Ich ging zum Fenster hinüber und schaute hinaus, krampfhaft überlegend, worüber ich mit ihr reden könnte. Ich konnte sie wohl kaum danach fragen, ob sie mit Richard schlief oder ob ihre Schlafstörung etwas mit ihm zu tun hatte.

»Ich muß morgen in dieser Schweinerei zum Nationalfriedhof nach Arlington raus«, sagte ich. »Ich soll herausfinden, wo Willie Lincoln begraben wurde, für Broun. Willie war Abraham Lincolns kleiner Sohn. Er starb während des Bürgerkriegs.«

»Machst du die ganze Bürgerkriegs-Recherche für Broun?« sagte Annie und hob eines der Veilchen hoch.

»Den größten Teil der Lauferei. Weißt du, am Anfang, als mich Broun gerade eingestellt hatte, wollte er mich kaum etwas recherchieren lassen. Ich brauchte fast ein Jahr, ihn dazu zu bringen, mich seine Besorgungen erledigen zu lassen, und jetzt wünschte ich, nicht so gute Arbeit geleistet zu haben. Es sieht so aus, als wollte es zu schneien anfangen.«

Sie stellte den Blumentopf auf den Tisch zurück und sah zu mir auf. »Erzähl mir vom Bürgerkrieg«, sagte sie.

»Was willst du wissen?« fragte ich. Ich wünschte auf einmal, ich hätte ausgiebig geschlafen, um diesem Gespräch mit klarem Kopf folgen zu können, um ihr Geschichten über den Krieg zu erzählen, die irgendwie diesen traurigen Ausdruck aus ihren blaugrauen Augen vertrieben. »Ich bin ein Experte für Antietam. Der blutigste Tag des ganzen Bürgerkriegs. Vielleicht auch der wichtigste, obwohl Broun da widersprechen würde. General Lee brauchte einen Sieg, damit England die Konföderation anerkannte, und deshalb fiel er in Maryland ein, bloß es klappte nicht. Er mußte sich nach Virginia zurückziehen und…«

Ich brach ab. Ich redete mich selbst in den Schlaf, und Gott allein wußte, was ich Annie antat, die wahrscheinlich noch nie von Antietam gehört hatte. »Wie wäre es mit Robert E. Lee? Und seinem Pferd. Ich weiß so ziemlich alles, was man über dieses verdammte Pferd wissen kann.«

Sie strich sich das kurze Haar aus dem Gesicht und lächelte. »Erzähl mir von den Soldaten«, sagte sie.

»Die Soldaten, aha. Nun, die meisten waren Farmerssöhne, ohne Bildung. Und sie waren jung. Das Durchschnittsalter der Soldaten im Bürgerkrieg war dreiundzwanzig.«

»Ich bin dreiundzwanzig«, sagte sie.

»Ich glaube nicht, daß du allzuviel zu befürchten gehabt hättest. Im Bürgerkrieg wurden keine Frauen eingezogen«, sagte ich, »obwohl sie vielleicht dazu gezwungen gewesen wären, wenn der Krieg noch länger gedauert hätte. Die Konföderation hatte nur noch alte Männer und dreizehnjährige Jungen. Wenn du dich für Soldaten interessierst, ein ganzer Haufen davon liegt in Arlington begraben«, sagte ich. »Hättest du Lust, morgen mit mir dort rauszufahren?«

Sie hob einen anderen Blumentopf hoch und fuhr mit den Fingern an den Blättern entlang. »Nach Arlington?« sagte sie.

Richard und ich hatten im Duke vier Jahre lang zusammen gewohnt. Ich hatte seine Mädchen nie auch nur angeschaut, und heute hatte ich ihm gesagt, ich würde mich um sie kümmern. »Arlington eignet sich prima zum Besichtigen«, sagte ich, als hätte ich die letzten drei Tage und Nächte nicht mit Aufputschmitteln und Kaffee durchgemacht und mir nichts sehnlicher gewünscht, als zu Broun zurückzukommen und bis zum Frühling durchzuschlafen, und als lebte sie nicht mit meinem alten Stubenkameraden zusammen. »Es sind eine Menge berühmter Leute dort begraben, und das Haus ist für die Öffentlichkeit geöffnet.«

»Das Haus?« sagte sie und beugte sich über ein weiteres der Veilchen.

»Robert E. Lees Haus«, sagte ich. »Das Anwesen war bis zum Krieg seine Plantage. Dann wurde es von der Union besetzt. Sie begruben Unionssoldaten im Vorgarten, um sicherzustellen, daß er niemals zurückkam, und das tat er auch nicht. Im Jahre 1864 wandelten sie es in einen Nationalfriedhof um. Ich habe in letzter Zeit eine Menge über Robert E. Lee recherchiert.«

Sie sah mich an. Und sie hatte ihre Hand in den Blumentopf gesteckt. »Hatte er eine Katze?« sagte sie.

Ich drehte mich um und blickte hinter mir zur Tür, weil ich dachte, Brouns Siamkater wäre heruntergekommen, um der Party zu entkommen, aber er war nicht da. »Was?« sagte ich und blickte auf ihre Hand.

»Hatte Robert E. Lee eine Katze? Als er in Arlington lebte?«

Ich war zu müde, das war alles. Wenn ich bloß ein Nickerchen gemacht hätte, anstatt über Willie Lincoln nachzulesen und mit Reportern zu reden, dann hätte ich das alles verkraftet – daß ich sie einlud, wo sie doch mit Richard zusammenlebte, daß sie mich fragte, ob Lee eine Katze gehabt hatte, während sie im Blumentopf herumscharrte, als versuchte sie, ein Grab zu schaufeln.

»Welche Art Katze?« sagte ich.

Sie hatte das Veilchen an den Wurzeln hochgezogen und hielt es fest in der Hand. »Ich weiß nicht. Einen gelben Kater. Mit dunkleren Streifen. Er war da, in dem Traum.«

»In welchem Traum?« sagte ich und sah zu, wie sie den leeren Blumentopf fallen ließ. Er zersprang zwischen ihren Füßen.

»Ich träume immer diesen Traum«, sagte sie. »Ich befinde mich darin an dem Haus, in dem ich aufgewachsen bin, und ich stehe auf der Vorderterrasse und halte Ausschau nach dem Kater. Es hat geschneit, nassen Frühlingsschnee, und mir kommt der Gedanke, daß er im Schnee begraben wurde, aber dann sehe ich ihn draußen im Obstgarten, wie er sich den Weg durch den Schnee bahnt, mit kleinen, hohen, lustigen Schritten.«

Ich wußte nicht, was als nächstes kommen würde, aber bei dem Wort Obstgarten setzte ich mich auf die Lehne des Zweiersofas und blickte ängstlich über die Schulter, um zu sehen, ob Richard oder Broun im Anmarsch waren. Es war niemand auf der Treppe.

»Ich rief nach ihm, aber er beachtete mich überhaupt nicht, deshalb ging ich ihm nach.« Sie hielt das Veilchen wie ein Sträußchen vor sich und zupfte Blätter davon ab, mit abwesenden, verzweifelten Bewegungen. »Ich schaffte es wohlbehalten bis zum Baum, und ich versuchte, den Kater hochzuheben, aber er wollte mich nicht lassen, und ich versuchte ihn zu fangen, und ich trat auf etwas…« Sie hatte jetzt alle Blätter abgerissen und machte sich nun an die Blüten. »Es war ein Unionssoldat. Sein Arm steckte in einem blauen Ärmel, und er streckte die Hand aus dem Matsch heraus. Er hielt noch sein Gewehr, und am Ärmel war ein Stück Papier befestigt. Jemand hatte ihn im Obstgarten begraben, aber nicht tief genug, und als der Schnee angefangen hatte zu schmelzen, hatte er seinen Arm freigegeben. Ich bückte mich und machte das Papier los, aber als ich es ansah, war das Papier leer. Mir kam der Gedanke, daß es eine Art Nachricht wäre, und das machte mir Angst. Ich trat zurück, und etwas gab unter meinem Fuß nach.«

Von dem Veilchen waren nur noch die mit Erde bedeckten Wurzeln übrig, und sie zerdrückte sie in ihrer Faust. »Es war die Mütze eines weiteren Soldaten. Ich war nicht auf seinen Kopf getreten, aber wo der Schnee geschmolzen war, da sah ich ihn liegen, mit dem Gesicht nach unten und unter sich das Gewehr. Er hatte blondes Haar. Der Kater ging zu ihm und leckte sein Gesicht, so wie er meins immer leckte, um mich aufzuwecken.

Wer auch immer sie begraben hatte, er hatte einfach nur ein bißchen Dreck über sie geschaufelt, da, wo sie gefallen waren, und der Schnee hatte sie verhüllt, aber jetzt begann er zu schmelzen. Ich konnte sie nicht ganz sehen, bloß einen Fuß oder eine Hand, und ich wollte nicht auf sie treten, aber überall, wo ich hintrat, sackte ich bis zu den Leichen unter dem Schnee durch. Und die Katze lief einfach über sie hinweg.« Sie hatte fallengelassen, was von dem Veilchen übriggeblieben war, und blickte hinter mich zur Tür. »Sie lagen überall im Obstgarten und auf dem Rasen, bis hin zur Vordertreppe.«

Ich hörte jemand die Treppe heruntertrampeln und bewegte mich, zum erstenmal an diesem Abend, als wäre ich wach. Ich griff hinter Annie und hob eine Handvoll Erde und zerrupfte Blätter vom Boden auf. Als Richard hereinkam, seinen Mantel über dem Arm, standen wir beide nach vorn gebeugt, die Köpfe zusammen, und sammelten die Scherben auf, und meine Hände waren so schmutzig wie ihre.

Ich richtete mich mit einer Handvoll Erde und Tonscherben auf. »Habt ihr beide nun herausgefunden, was Lincolns Träume ausgelöst hat?« fragte ich.

»Nein. Ich habe dir doch gesagt, daß ich ihm nicht weiterhelfen kann«, sagte Richard. Er blickte an mir vorbei Annie an. »Wir müssen gehen. Hol deinen Mantel.«

»Ich werde ihn holen«, sagte ich und ging hinaus zur Garderobe.

Broun kam die Treppe heruntergepoltert. »Ist er noch da?«

Ich deutete zum Wintergarten. Er eilte hinein, und ich folgte ihm mit Annies Mantel. »Es tut mir ja so leid, Dr. Madison«, sagte Broun. »Diese verdammte Leute-Reporterinhat mich auf dem Weg nach unten aufgehalten. Ich wollte noch sagen…«

»Sie haben mich nach meiner Meinung gefragt, und ich habe Sie Ihnen mitgeteilt«, sagte Richard steif.

»Das stimmt«, sagte Broun. »Ich weiß das zu schätzen. Und vielleicht haben Sie recht, und Lincoln steuerte tatsächlich auf eine psychotische Krise zu, aber Sie müssen bedenken, daß es schon eine Reihe von Anschlägen auf sein Leben gegeben hatte, und mir scheint, daß es normal für ihn gewesen wäre…«

Richard schlüpfte in den Mantel. »Sie möchten, daß ich Ihnen erkläre, die Träume seien normal gewesen? Nun, das kann ich nicht. Ein Traum wie dieser ist offensichtlich das Symptom einer schweren Neurose.«

Ich blickte Annie an. Sie hatte sich nicht bewegt. Sie stand neben mir, die Hände voller Blätter und Scherben, mit einem Ausdruck im Gesicht, der mir sagte, daß sie das alles schon einmal gehört hatte.

»Lincoln brauchte sofortige professionelle Hilfe«, sagte Richard, »und ich habe nicht vor, danebenzustehen und zu schweigen. Als Arzt habe ich die Pflicht…«

»Ich glaube, Lincoln ist für Hilfe nicht mehr besonders ansprechbar, selbst wenn sie von einem Arzt kommen sollte«, erwiderte Broun.

»Wir müssen gehen«, sagte Richard ärgerlich und knöpfte seinen Mantel zu.

»Nun gut, selbst wenn Sie anderer Meinung sind, bin ich dennoch froh, daß Sie gekommen sind«, sagte Broun und legte seinen Arm um Richards Schulter. »Es tut mir nur leid, daß Sie nicht bleiben und noch etwas essen können. Dieses Krabben-Dingsbums ist wundervoll.« Er geleitete Richard in die Diele hinaus.

Ich hielt den grauen Mantel und fragte mich, ob ich nicht in Wirklichkeit schlief und das alles träumte. Annie nahm den Mantel von meinem Arm, und ich half ihr hinein. »Wie hieß die Katze?« sagte ich. »In deinem Traum?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie. »Es ist nicht meine Katze.« Sie schlug die Augen nieder, um sich den Mantel zuzuknöpfen, und dann sah sie wieder zu mir hoch. »Es ist nicht mein Traum«, sagte sie. »Ich weiß, du wirst mir nicht glauben, weil es Richard auch nicht tut. Er glaubt, ich steuerte auf eine psychotische Krise zu, und du glaubst wahrscheinlich auch, ich wäre verrückt, aber es ist nicht mein Traum. Ich träume ihn, aber er gehört jemand anderem.«

»Ihr… Er holt den Wagen«, sagte Broun und ließ die Szenerie auf sich wirken.

»Es tut mir leid wegen Ihrer afrikanischen Veilchen«, sagte Annie. »Ich habe mir eins angeschaut, und da…«

»Macht nichts, macht nichts.« Er führte sie zur Tür und weiter nach draußen, wobei er die ganze Zeit über sprach. »Ich bin wirklich froh, daß Sie zu unserem Empfang kommen konnten.«

Als er zurückkam, befand ich mich auf allen vieren vor dem Bücherschrank und suchte nach dem zweiten Band Freeman. »Ich hatte eben ein sehr eigentümliches Gespräch mit deinem Stubengenossen«, sagte er. Er setzte sich auf die Sofalehne und betrachtete den Haufen Erde und die Scherben. Er kratzte sich seinen schmuddeligen Bart, wobei er noch mehr wie ein Pferdehändler wirkte. »Er sagte mir, Lincolns Traum sei der symbolische Ausdruck eines tiefverwurzelten Traumas, das möglicherweise aus seiner Kindheit stammt.«

Ich fand Der Graue Fuchs und schlug im Index unter ›Katzen‹ nach, und dann unter ›Lee, Tierliebe‹. »Was haben Sie denn von einem Psychiater anderes erwartet?« sagte ich und wünschte, er wäre zur Party zurückgegangen, damit ich herausfinden konnte, ob Lee eine Katze gehabt hatte.

»Ich sagte ihm, das tiefverwurzelte Trauma sei möglicherweise der Bürgerkrieg gewesen, und daß es für ihn absolut normal gewesen wäre, im Weißen Haus von Mordanschlägen und Särgen zu träumen. Wußtest du, daß Willie im östlichen Zimmer aufgebahrt war?«

»Hatte Robert E. Lee eine Katze?« sagte ich.

Broun schaute mich an. »Lincoln hatte Katzen. Kätzchen. Er liebte Kätzchen.«

»Lee, verdammt noch mal, nicht Lincoln. Als er in Arlington lebte, hatte er da eine Katze?«

»Keine Ahnung«, sagte er in demselben beschwichtigenden Tonfall, den er auch Richard gegenüber gebraucht hatte. »Vielleicht steht bei Freeman etwas von einer Katze.«

»Vielleicht, aber ich habe, verdammt noch mal, nicht die mindeste Ahnung, wo der Freeman steckt. Sie haben den ersten Band auf dem Speicher, den dritten unter Ihrem Bett, und den vierten verarbeiten Sie zu Mulch und nehmen ihn für Ihre Veilchen. Weiß der Kuckuck, wo der zweite ist. Wenn Sie eine Bibliothek hätten wie andere Leute auch, anstelle dieses gottverdammten verworrenen Durcheinanders…«

»Dein Stubengenosse meinte«, fuhr Broun ungerührt fort, »all die halbbegrabenen Toten in dem Traum wären Ausdruck von Lincolns Todessehnsucht.«

Ich blickte vom Buch auf. Er beobachtete mich mit seinen hellen kleinen Pferdehändleraugen. »Hast du irgendeine Vorstellung, was er damit meinte?«

»Nein«, sagte ich, hob die verstreuten Bücher auf und begann sie ins Regal zurückzustellen. »Ich gehe jetzt ins Bett. Ich muß morgen nach Arlington raus.«

Er stand auf und klopfte mir auf die Schulter. »Mach dir deswegen keine Sorgen«, sagte er. »Das hat Zeit. Du bist gerade eben von einer langen Reise zurückgekommen, und ich weiß, daß du müde bist. Leg dich ruhig ins Bett, mein Sohn. Ich werde mich um die Meute dort oben kümmern.« Seine Hand ruhte immer noch auf meiner Schulter. »Hattest du schon Gelegenheit, die Szene zu lesen, die ich dir gegeben habe?«

»Nein«, sagte ich.

»Ich habe Ben mit seinem Bruder kämpfen lassen, wegen eines Mädchens. Ich frage mich, wie viele Soldaten das wohl taten, anmustern wegen eines Mädchens?«

Ich blickte auf das Buch hinunter, das ich gerade in der Hand hatte. Es war der fehlende zweite Band. »Keine Ahnung«, sagte ich und machte, daß ich von ihm wegkam.