5

 

Um Weihnachten 1861 herum, während des Carolina-Feldzugs, kaufte Robert E. Lee Traveller für einhundertsiebenundfünfzig Dollar, zuzüglich eines Aufschlags von fünfundzwanzig Dollar, um den fallenden Wert des Konföderationsgeldes zu kompensieren. »Seitdem war er mein treuer Begleiter«, schrieb er Markie. »Er trug mich durch die Siebentagesschlacht rund um Richmond, bei Sharpsburg, Fredericksburg und am letzten Tag bei Chancellorsville, nach Pennsylvania, nach Gettysburg und zurück zum Rappahannock… bis zu seinem Ende in Appomattox Court House.«

 

DIESMAL BAT MICH BROUN NICHT DARUM, die Szene durchzugeben. Er gab sie am nächsten Morgen selbst durch, und dann fuhr er weg, um mit einem Lincoln-Fachmann in Georgetown zu sprechen. »Ich fliege morgen nach Kalifornien«, sagte er feindselig. »Hast du herausgefunden, wo Willie begraben wurde?«

»Nein«, sagte ich. »Ich gehe jetzt gleich zur Bibliothek. Wollen Sie, daß ich Ihnen vorher das Ticket besorge?«

»Du kannst es heute nachmittag abholen«, sagte er.

»Gut«, sagte ich und wünschte, ich hätte etwas sagen können, um seinen Ärger über mich zu besänftigen. Ich konnte mich nicht entschuldigen, denn eine Entschuldigung wäre gleichbedeutend mit einer Erklärung gewesen, und erklären konnte ich ihm nichts. Vielleicht war es auch ganz gut, daß er nicht mit mir sprach, denn so konnte er mir auch keine Fragen stellen. »Was ist mit den Druckfahnen?«

»Was soll mit ihnen sein?«

»McLaws und Herndon haben heute morgen angerufen, als Sie noch nicht auf waren. Sie sagten, sie würden sie per Expreß herunterschicken, sie wollen sie in spätestens zwei Wochen zurück, und keine größeren Änderungen, damit der Umbruch nicht gekippt wird.«

»Du kannst sie schon einmal durchsehen, und ich mache sie fertig, wenn ich zurück bin.«

»Das wird wann sein?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht in einer Woche.«

Ich wartete, bis er sich auf den Weg nach Georgetown gemacht hatte, dann ging ich nach oben und vergewisserte mich, daß der Anrufbeantworter auf ›Nachricht‹ gestellt war. Ich fuhr hinüber und holte Brouns Ticket beim Reisebüro ab, und dann ging ich in die Bibliothek.

Kate hatte die Bibliographie noch nicht fertig, und ich sagte ihr, ich hätte es damit überhaupt nicht eilig, ich würde eine Weile dableiben. Ich verbrachte den Rest des Tages dort, indem ich nach Informationen über Willie suchte und über Annie nachdachte.

Sie hatte am Abend zuvor nicht angerufen. Broun war zum Abendessen aus gewesen, und ich hatte den ganzen Abend in seinem Arbeitszimmer damit verbracht, auf ihren Anruf zu warten. Gegen zehn war ich zu dem Schluß gekommen, daß Richard sie irgendwie vom Telefon fernhielt, aber jetzt, wo es Morgen war, konnte ich mir das eigentlich nicht vorstellen.

Richard hatte klar und deutlich gesagt, er wolle nicht, daß ich mit ihr spräche, aber er würde deshalb wohl kaum das Telefon abstellen lassen oder sie festbinden, damit sie nicht dranging. Sie war seine Patientin, nicht seine Gefangene, und sie hatte sich ihm schon einmal widersetzt. Er hatte sie nicht davon abhalten können, Arlington zu besuchen. Er würde sie auch nicht davon abhalten können, mich anzurufen, wenn sie es wirklich wollte.

Wenn sie es wirklich wollte. Vielleicht wollte sie es nicht. Sie hatte einen beinahe desinteressierten Eindruck gemacht, als ich sie angerufen und ihr meine Unterstützung angeboten hatte. Wie kam ich dazu zu glauben, daß sie über Sonderbefehl 191 mehr hören wollte als über die im Unbewußten verborgenen Traumata? Sie hat dich fallengelassen, sagte ich mir, und sie ist immer noch bei Richard. Du brauchst nicht Freuds Traumdeutung, um herauszufinden, was das bedeutet. Sie will nicht mit dir reden. Also hör auf, sie anzurufen und finde endlich heraus, was, in aller Welt, mit Willie geschah.

Ich konnte das ebenfalls nicht glauben, doch ich zog alle möglichen Bücher über Lincoln hervor und versuchte, mich auf die Nachforschungen zu konzentrieren. Ich fand kein einziges Wort über Willies Beerdigung. Immerhin fand ich heraus, was mit dem Pony geschehen war, das er ›bei schlechtem Wetter‹ geritten hatte, als er an irgend etwas erkrankt war, das ihn umgebracht hatte. Mehrere Monate nach Willies Tod gerieten die zum Weißen Haus gehörenden Stallungen in Brand. Lincoln rannte über die Wiese und sprang über eine Buchsbaumhecke, um es zu retten, aber er kam zu spät. Die Wachen scheuchten ihn ins Weiße Haus zurück, denn sie fürchteten, das Feuer sei von einem Attentäter mit der Absicht gelegt worden, ihn herauszulocken. Willies Pony verbrannte bei lebendigem Leib.

Nach jeweils etwa einer Stunde ging ich zum Münztelefon hinaus und rief den Anrufbeantworter an, aber er hatte keine Nachrichten gespeichert. Um zwei Uhr war mir das Kleingeld ausgegangen, und ich mußte Kate bitten, mir einen Dollar in Vierteldollarstücke zu wechseln. »Ich habe Ihre Bibliographie in ein paar Minuten fertig«, sagte sie.

Ich ging hinaus und rief den Anrufbeantworter an. Brouns Agentin hatte angerufen und wollte wissen, warum, zum Teufel, Broun noch immer Änderungen vornahm. Sie hatte eben mit McLaws und Herndon gesprochen, und diese mußten neu umbrechen. Sie sprachen davon, Broun die Extrakosten zu berechnen.

Ich rief Annie an.

»Ich bin froh, daß du anrufst«, sagte Richard. »Ich wollte mich für meinen Ausbruch gestern entschuldigen.«

»Ich möchte mit Annie sprechen.«

»Sie schläft gerade«, sagte er, »und ich möchte sie nicht aufwecken. Ich weiß, ich war vorgestern etwas von der Rolle. Ich habe mir solche Sorgen wegen ihres Zustands gemacht. Sie war besessen von der Idee, sie könnte ihren Traum faktisch verifizieren.«

Er hörte sich vollkommen anders als der Mann, der mich gewarnt hatte, ich sollte Annie in Ruhe lassen. Seine Stimme war ruhig und geschäftsmäßig. »Das ist ein geläufiges Problem, aber ein gefährliches. Der Patient versucht, sich von bedrohlichen Traumbildern dadurch zu distanzieren, daß er zu glauben beginnt, sie besäßen eine eigene, objektive Realität.«

Jetzt erkannte ich die Stimme. Er hatte während des ganzen Studiums daran gearbeitet. Die Stimme war einer der wichtigsten Werkzeuge eines Psychiaters, hatte er mir gesagt, als er sich mit Psychoanalyse beschäftigte. Die richtige Stimme konnte dazu benutzt werden, das Vertrauen des Patienten zu erlangen, sein Selbstbewußtsein zu steigern und den Patienten davon zu überzeugen, daß dem Psychiater seine ureigensten Interessen am Herzen lagen. Ich hatte ihm gesagt, es wäre mir egal, was man damit erreichen konnte, er sollte sie bloß nicht mir gegenüber gebrauchen.

Jetzt gebrauchte er sie.

»Indem sie sich einredet, das Haus in ihrem Traum sei das in Arlington«, sagte er, »versucht sie sich vor dem latenten Trauminhalt zu schützen. Aus dem halbbegrabenen Toten wird ein Unionssoldat statt das Bild ihres persönlichen Traumas, die Katze wird zur wirklichen Katze anstatt zum Symbol ihres Wunsches, die verdrängte Erinnerung, die ihre Träume verursacht, wieder bewußt zu machen.«

»Die Katze ist eine wirkliche Katze, das heißt ein Kater. Er heißt Tom Tita. Als Lee von Arlington wegzog, ist er zurückgeblieben.«

»Du verwechselst manifesten Inhalt mit latentem Inhalt«, sagte er voller Anteilnahme. »Wir träumen alle von realen Dingen, von Gegenständen und Menschen, denen wir begegnet sind, über die wir gelesen oder die wir im Film gesehen haben – Erinnerungen. Sie stellen den visuellen Gehalt unserer Träume dar. Aber das Unbewußte bedient sich dieser realen Menschen und Objekte und Erinnerungen zu seinen eigenen Zwecken. Diesen Prozeß nennt man Traumarbeit. Nehmen wir an, Annie hatte als Kind eine Katze.«

»Sie hatte niemals eine Katze. Und sie hat diesen Kater auch nicht gesehen oder irgendwo von ihm gelesen. Er heißt Tom Tita.«

»Ich bin sicher, daß sie davon überzeugt war, als sie darauf bestand, nach Arlington zu fahren, und aus diesem Grund habe ich die Fahrt abgelehnt. Aber ich habe mich geirrt. Die Fahrt hat zu einer Katharsis geführt, zu einem Durchbruch. Sie hat erkannt, daß das Haus in ihrem Traum wirklich ihr eigenes Haus war und daß der halbbegrabene Soldat ein Symbol ihrer eigenen unterdrückten Schuld darstellt.«

»Was symbolisiert der Kater?« Und was ist mit ihren bandagierten Händen? hätte ich beinahe gesagt, als mir klar wurde, daß Richard, der ruhige und mitfühlende und anteilnehmende Richard, mit keinem einzigen Wort ihren zweiten Traum erwähnt hatte. Und was bedeutete das? Daß sie ihm den Traum nicht erzählt hatte? Oder daß sie nicht glauben wollte, was ich ihr erzählt hatte, und sich dafür entschieden hatte, Richards Erklärungen Glauben zu schenken: unterdrückte Schuldgefühle und manifester Inhalt und Traumarbeit. Begriffe, die nicht mehr bedeuteten als Gallenfieber und rheumatische Erregung und für den Patienten von gleichem Nutzen waren.

»Ich möchte mit Annie sprechen«, sagte ich.

»Ich werde ihr sagen, daß du angerufen hast, sobald sie aufgewacht ist«, sagte der Onkel Doktor. »Ich möchte dich aber warnen, daß sie vielleicht nicht mit dir wird sprechen wollen. Sie identifiziert dich mit der Ablehnung ihrer Psychose.«

Ich legte auf und kehrte wieder zu Lincoln zurück, der ebenfalls schreckliche Träume gehabt hatte. Aber niemand hatte ihn davon zu überzeugen versucht, daß das östliche Zimmer nicht das östliche Zimmer war. Niemand hatte ihm erzählt, der Tote mit dem schwarzen Tuch über dem Gesicht sei ein Symbol für verdrängte Schuldgefühle oder ein neuraler Impuls, den seine Hormone zufällig ausgelöst hatten. Niemand hatte ihn danach gefragt, was er vor dem Zubettgehen gegessen hatte.

Kate brachte mir die Bibliographie. »Die wir haben, habe ich mit Sternchen versehen«, sagte sie, auf mit Tinte geschriebene Anmerkungen am Rand deutend, »und die Zweigstellen gekennzeichnet, wo sie stehen. Wollen Sie, daß ich sie aus den Zweigstellen herschicken lasse?«

»Nein, das ist nicht nötig. Ich hole sie morgen selbst.«

»Wovon handelt Brouns neues Buch?«

»Abraham Lincoln«, sagte ich.

»Oh, ich wußte nicht, daß Abraham Lincoln krank war.«

»Was?«

»Prodromale Träume werden von Leuten geträumt, die krank sind, aber es noch nicht wissen. An welcher Krankheit litt Abraham Lincoln?«

»An schlechten Träumen«, sagte ich.

Broun war zurück, als ich nach Hause kam, und stand im Wintergarten und betrachtete seine afrikanischen Veilchen. Ich reichte ihm die Bibliographie. »Hat jemand angerufen?« fragte ich.

»Ich weiß nicht«, sagte er steif. »Ich habe den Apparat angelassen, damit dir keine deiner Nachrichten entgeht.

Hast du herausbekommen, wo Willie Lincoln begraben wurde?«

»Nein.« Ich ging die Treppe hoch. »War Lincoln krank, als er erschossen wurde?«

»Er war besessen vom Bürgerkrieg«, sagte er bitter.

Ich ging ins Arbeitszimmer und schloß die Tür, doch der Anrufbeantworter hatte keine Nachrichten gespeichert, also hatte Annie nicht angerufen.

Ich verbrachte den größten Teil des nächsten Tages damit, die in der Bibliographie aufgeführten Bücher einzusammeln, damit Broun sie mitnehmen konnte. Die Druckfahnen kamen per Eilzustellung am Nachmittag. Es war den ganzen Tag über bewölkt, kalt außerdem. Brouns Flugzeug ging erst um halb sechs, und als wir zum Flugplatz aufbrachen, begann es neblig zu werden.

»Ich möchte, daß du für mich nach Virginia runterfährst«, sagte Broun gezwungen, sobald wir auf den Rock Creek Parkway eingebogen waren. »Ich weiß, du hältst nichts von diesem Herumgehetze, aber es ist wichtig für mich, daß du mit einem Arzt in Fredericksburg sprichst.«

Nach Fredericksburg waren es nur fünfzig Meilen. Falls Annie anrufen sollte, konnte ich in anderthalb Stunden zurück sein. Falls sie anrufen sollte. »Wie heißt der Arzt?«

Er durchwühlte seine Jackentasche. »Barton. Dr. Barton. Hier ist die Adresse.« Er hatte ein gefaltetes Stück Papier herausgefischt. Er faltete es auseinander. »Dr. Stone hat mir seinen Namen gegeben. Dieser Dr. Barton leidet an Akromegalie. Normalerweise wird das behandelt, ehe es zum offenen Ausbruch von Symptomen kommt, aber er ist so alt, daß es bei ihm nicht dazu kam. Ich möchte, daß du herausfindest, was für Träume er hat.« Er machte eine Pause, als erwartete er, daß ich Einwände hätte.

»Wann soll ich fahren? Morgen?«

»Wann immer es dir gelegen erscheint«, sagte er.

Ich fuhr am Lincoln Memorial vorbei und auf die Brücke. »Ich hätte das mit dem Herumgehetze nicht sagen sollen«, sagte ich. »Ich weiß, wie wichtig dieses Buch für Sie ist.«

»Eine Obsession sagtest du, glaube ich.«

Ich sah die Villa Arlington vor uns auf dem schneebedeckten Hügel und dachte daran, daß Richard zu Annie gesagt hatte, sie sei vom Krieg und vom Töten besessen. »Ich hätte das ebenfalls nicht sagen sollen.«

Wir bogen auf die nach Süden führende Straße ein. »Lincoln litt an Akromegalie«, sagte Broun, als wollte er sich für seine frühere Schroffheit entschuldigen, als ich ihn gefragt hatte, ob Lincoln krank gewesen sei. »Deshalb war er so groß. Es ist eine Drüsenkrankheit. Die Knochen wachsen zu stark. Die Hände und die Nase werden breit, und die Füße werden groß. Leute, die an Akromegalie leiden, bekommen Rheuma und Diabetes und leiden an Melancholie. Es kann tödlich sein.«

»Und Sie glauben, das hat ihn umgebracht?« sagte ich sarkastisch und bereute es sofort.

»Ich dachte, es könnte eine Erklärung für die Träume sein«, sagte er, wandte sich ab und schaute aus dem Seitenfenster in die neblige Dunkelheit hinaus.

Ich fragte mich, ob ihm bei all diesen Theorien über verdrängte Schuldgefühle und neurale Impulse schon in den Sinn gekommen war, daß die Träume überhaupt keine Erklärung brauchten. Lincoln träumte, er wäre von einem Attentäter getötet worden, und zwei Wochen später lag er tot im östlichen Zimmer. Er hatte seinen Sohn verloren, und das Gesicht des kleinen Jungen erschien ihm im Traum, um ihn zu trösten. Was hatte eine Drüsenstörung dabei zu suchen?

Ich fragte ihn nicht danach. Ich wollte eine Art von Waffenstillstand herstellen, ehe Broun nach Kalifornien abflog. »Morgen besuche ich Dr. Barton«, sagte ich, als wir zum Flughafen abbogen.

Er wandte den Kopf und sah mich an, und ich wußte, er wollte ebensowenig Streit wie ich. »Denk dran, Mrs.

Betts von nebenan die Katze zu geben und ihr zu sagen, daß sie die Pflanzen gießt. Ich habe den Anrufbeantworter auf ›Nachricht‹ gestellt, aber nicht gesagt, wo du bist, für den Fall, daß du dir ein paar Tage freinehmen willst. Ich habe dich zu sehr beansprucht in letzter Zeit. Es gibt in Fredericksburg einen netten Gasthof. Du könntest runterfahren und ein paar Tage bleiben, gönn dir einen kleinen Urlaub. Bleib, bis ich aus Kalifornien zurück bin, wenn dir danach ist.«

»Jemand muß den Umbruch bearbeiten«, sagte ich, »und in Kalifornien werden Sie keine Zeit dazu haben. Hören Sie, machen Sie sich wegen mir keine Sorgen. Ich laß es leicht angehen. Ich fahre nach Fredericksburg runter, und dann komme ich zurück und arbeite an den Fahnen.«

»Schön, aber besorg dir wenigstens dafür eine Hilfe. Sonst dauert es zu lange. Warum fragst du nicht das Mädchen, ob sie dir hilft, diese hübsche kleine Blondine von dem Empfang neulich, wie hieß sie noch gleich?«

»Annie«, sagte ich. »Aber ich bezweifle, daß sie Lust hätte, stundenlang herumzusitzen, ein Buch laut zu lesen und nach Satzfehlern zu suchen.«

Er kratzte sich an seinem Stoppelkinn. »Ich habe euch an diesem Abend beobachtet. Ich hatte den Eindruck, sie würde so ziemlich alles tun, wenn du sie danach fragen würdest. Und umgekehrt.«

»Sie ist Richards Freundin.«

»Weißt du das aus erster Hand? Oder hat Richard dir das gesagt?«

»Sie werden noch Ihr Flugzeug verpassen«, sagte ich. »Machen Sie sich wegen der Druckfahnen keine Sorgen. Ich schaff’s schon, wenn ich sie auf Band spreche und mir dann vorspiele.«

Er holte seinen Koffer aus dem Kofferraum und reichte mir dann das gefaltete Papier. »Paß gut auf dich auf, mein Sohn«, sagte er.

»Sie auch«, sagte ich. »Wenn Sie herausgefunden haben, woher Lincolns Träume kamen, geben Sie mir Bescheid.«

 

Ich fuhr nach Hause und begann mit der Arbeit an den Druckfahnen, einem langen Kapitel über Bens Bruder, der in Mansfields dem Untergang geweihten zwölften Armeecorps war, und einem weiteren, eher noch längeren, über Colonel Fitzhugh, dessen Männer ihn den ›alten Stutzer‹ nannten, und das seitenlang von den Pflichten eines Gentlemans und dem glorreichen Süden handelte.

»Ich dachte, das Buch wäre über Antietam«, hatte ich zu Broun gesagt, als ich diese Kapitel das erste Mal gelesen hatte. »Und das hier ist das zweite Kapitel, und es ist noch immer Frühling 1862. Die Schlacht von Antietam war doch erst Mitte September.«

»Es handelt nicht von Antietam«, hatte Broun gedonnert, das erste Mal, daß ich ihn über eine Kritik von mir wütend werden sah. »Es handelt von der Pflicht, verdammt noch mal!« Er hatte sich damals geweigert, irgend etwas davon herauszunehmen, und jetzt sah ich, daß er, obwohl er so viele Änderungen vorgenommen hatte, daß ich das Buch kaum noch wiedererkannte, alle Passagen über die Pflicht stehengelassen hatte. Erst im neunten Kapitel gelangte man endlich zum neunzehnten September und zurück zu Malachi, Toby und Ben:

Als Ben erwachte, war es noch dunkel. »Mir war, als hätte ich etwas gehört«, sagte er und richtete sich auf.

»Noch nicht«, sagte Malachi. Es war zu dunkel, als daß man ihn hätte sehen können.

»Wie spät ist es?« fragte Ben. »Ich dachte, ich hätte Gewehrfeuer gehört.« Es hatte aufgehört zu regnen, und im Osten schien es ein wenig heller zu werden, doch er konnte es nicht genau erkennen.

»Erst drei Uhr«, sagte Malachi, und dann mußte Ben wieder eingeschlafen sei, denn als er die Augen öffnete, war es so hell, daß er Malachi sehen konnte. Er hockte vor seinem kleinen Kochfeuer, stocherte in der kalten Asche und versuchte, etwas Glut zu finden, aber das Feuer war vollständig erloschen. Ein kalter Nebel trieb so tief über das Maisfeld, neben dem sie kampiert hatten, daß er nicht einmal die Quasten der Maiskolben erkennen konnte.

»Wie soll’n wir kämpfen, wenn’s neblig ist?« sagte Ben und zog seine Decke fest um die Schultern. Er klapperte mit den Zähnen.

»Der Nebel löst sich auf, wenn die Sonne erst mal da ist, und dann wird’s heiß«, sagte Malachi, und er hörte sich so ruhig und hellwach an, als befände er sich wieder auf seiner Farm, und es wäre drei Uhr morgens, der Beginn eines großartigen Arbeitstags.

»Wie wär’s, wenn wir jetzt ausbüchsen täten?« fragte Ben. Seine Zähne klapperten so laut, daß er das Gewehrfeuer gar nicht hätte hören können. »Könnt uns keiner sehen, in dem Nebel.«

»Ich dachte, du wärst der, der sich freiwillig gemeldet hat. Und hier hast du’s, wofür du dich gemeldet hast.«

»Ich weiß«, sagte er. »Ich hatte einfach nicht daran gedacht, daß ich getötet werden könnte.«

»Wie soll ein Mensch denn bloß schlafen, wenn ihr gackert wie die Hühner?« sagte Toby. Er gähnte. »Sollt ihr abhau’n? Erwischt es euch? Mich, mich erwischt es nich’. Nich’ Toby Banks. No, Sir, hab’s meiner Mama versprochen, daß mir nix passiert.« Er zog sich die Decke über die Füße und drehte sich auf die Seite, und Ben legte sich wieder hin und beobachtete, wie der Nebel über Malachi und das kalte Feuer hinwegtrieb.

Toby knuffte ihn mit dem Fuß wach. »Sitzt die ganze Nacht auf und machst dir Sorgen, und während der Schlacht schläfst du dann«, sagte er. »Paß bloß auf, daß der alte Stutzer nicht mitkriegt, daß du pennst.«

Ben setzte sich auf. Die Sonne war aufgegangen, und der Nebel war weg. Dampf stieg über dem Maisfeld auf, wie Rauch. Malachi hatte ein neues Feuer gemacht. Er röstete Maiskolben in der Glut. »Ich bin schon fast eine Stunde auf, das Kriegsgeschrei üben«, sagte Toby.

Ben stand auf, faltete sein Bettzeug und versuchte wach zu werden. Toby pfiff etwas, ein Tanzliedchen, doch als Ben sich umwandte und ihn ansah, verstummte er. Er war damit beschäftigt, irgend etwas auf ein schmutziges weißes Taschentuch zu schreiben. »Ich will, daß die Yankees wissen, wer da auf sie schießt«, sagte er. Er schnitzte an einem Zweig herum, bis kaum noch etwas davon übrig war, dann benutzte er ihn als Nadel, um das Taschentuch an seinem Hemd zu befestigen. »Heißt ja nicht, daß ich einen so nah rankommen laß, daß er’s lesen kann.« Er ging zum Feuer hinüber und klaubte einen der Maiskolben aus der Glut. Er war außen verkohlt, aber er schmeckte wundervoll.

 

Sie weckte mich aus tiefem Schlaf. Ich hatte den Eindruck, daß es beinahe Morgen war, und ich konnte mir nicht vorstellen, wer mich um diese Zeit anrufen könnte. Ich nahm den Hörer ab, und als ich das tat, klingelte es wieder, und ich dachte: »Es ist der Anrufbeantworter«, und drückte etwas, das ich für den Wiedergabeknopf hielt und hatte noch Zeit, mich darüber zu wundern, daß keine Nachricht gespeichert war, ehe es wieder klingelte und mir klar wurde, daß es die Türklingel war.

Auf der Vordertreppe stand Annie. Sie hatte ihren grauen Mantel an und trug einen Matchbeutel. Neben ihr auf der Treppe stand ein Koffer. Es war dunkel und neblig draußen, und ich dachte: »Der Nebel löst sich auf, wenn die Sonne erst mal da ist, und dann wird’s heiß.«

»Kann ich hierbleiben?« sagte sie.

Mir kam es immer noch so vor, als ob das Telefon geklingelt hätte. »Hast du angerufen?« sagte ich.

»Nein«, sagte sie. »Ich weiß, ich hätte dich vorwarnen sollen, aber… wenn es dir ungelegen kommt, kann ich in ein Hotel gehen.«

»Mir war so, als hätte ich das Telefon gehört«, sagte ich und rieb mir das Gesicht, als vermutete ich darin einen rauhen Bart, wie Broun einen hatte. »Wie spät ist es?«

Sie mußte den Matchbeutel von einer Hand in die andere nehmen, um auf ihre Uhr zu schauen. »Zehn Uhr dreißig. Ich habe dich aufgeweckt, nicht wahr?«

Nein, hast du nicht, hätte ich beinahe gesagt. Das war das Problem. Sie hatte es mit all ihrem Geklingele an der Haustür nicht fertiggebracht, mich aufzuwecken. Ich schlief immer noch und träumte von ihr, und das war nicht der Traum irgendeines anderen. Sie sah wundervoll aus, wie sie da in ihrem grauen Mantel stand, ihr helles Haar ein wenig vom feuchten Nebel gekräuselt. Sie sah aus, als wäre sie soeben aus einem langen und erquickenden Schlaf erwacht, mit klaren und hellen Augen und einem gesunden Rosa auf den Wangen.

»Natürlich kannst du bleiben«, sagte ich, immer noch nicht munter genug, um sie zu fragen, warum sie hier war oder um mich überhaupt darüber zu wundern. Ich stieß die Tür auf und beugte mich neben ihr herunter, um den Koffer hochzuheben. »Du kannst so lange bleiben, wie du willst. Broun ist nicht da. Er ist in Kalifornien. Du kannst so lange bleiben, wie du willst.«

Ich geleitete sie die Treppe zum Arbeitszimmer hoch, immer noch unfähig, das Gefühl abzuschütteln, es sei schon sehr spät. Der Anrufbeantworter blinkte hektisch – ich mußte ihn bei meiner schläfrigen Fummelei auf ›Rückruf‹ gestellt haben. Ich fragte mich, welchen bedauernswerten Menschen ich während der letzten zehn Minuten wohl belästigt hatte. Ich drückte den ›Pause‹-Knopf und gähnte. Ich war immer noch nicht wach. Ich sollte besser einen Kaffee machen.

»Möchtest du Kaffee?« fragte ich Annie, die in der Tür des Arbeitszimmers stand und erholt und hellwach und wundervoll aussah.

»Nein«, sagte sie.

Meine Hand lag immer noch auf den Bedienungsknöpfen des Anrufbeantworters. »Ich habe mir wegen dir Sorgen gemacht. Ich habe dich anzurufen versucht. Hattest du wieder einen Traum?«

»Nein«, sagte sie. »Die Träume haben aufgehört.«

»Sie haben aufgehört?« sagte ich. »Einfach so?« Ich war immer noch nicht wach.

Der Anrufbeantworter blinkte immer noch. Ich hämmerte auf die Knöpfe. Das Tonband klickte. »Annie ist weg«, sagte Richard. »Ich denke, sie wird zu dir kommen. Du mußt sie dazu bringen, daß sie zurückkommt. Sie ist krank. Ich habe es nur getan, um ihr zu helfen. Ich hatte keine andere Wahl.«

»Was getan?« fragte ich.

Sie holte etwas aus ihrem Matchbeutel hervor. »Er hat mir das hier ins Essen getan«, sagte sie und reichte mir zwei Kapseln in einem Plastikbeutel. Eine der Kapseln war zerbrochen, und die Unterseite des Beutels war mit einem weißen Pulver bestäubt.

»Was ist das?« sagte ich. »Elavil?«

»Thorazin«, sagte sie. »Ich habe die Flasche in seiner Arzttasche gefunden.«

Thorazin. Ein Medikament, das stark genug war, um ein Pferd umzuhauen. »Richard hat dir das gegeben?« fragte ich und schaute den Beutel blöde an.

»Ja«, sagte sie. Sie setzte sich in den Clubsessel. »Als ich von Arlington zurückgekommen war, fing er an, es in mein Essen zu tun.«

Bei meinem letzten Anruf hatte ich sie gefragt, ob sie geschlafen hätte, und sie hatte mir gesagt, Richard habe ihr eine Tasse Tee gemacht und sie ins Bett geschickt. Sie war so schläfrig gewesen, daß sie auf meine Fragen kaum hatte antworten können. Weil Richard ihr Thorazin in den Tee getan hatte. »Thorazin wird in psychiatrischen Kliniken eingesetzt. Bei unkontrollierbaren Patienten.«

»Ich weiß«, sagte sie.

»Wieviel hat er dir davon gegeben?«

»Ich weiß nicht. Er… Ich habe gestern abend und heute noch nichts gegessen.«

Ich hatte sie vor drei Tagen nach Arlington hinausgefahren. Sie konnte nicht länger als zweieinhalb Tage unter Thorazin gestanden haben, also konnte nicht allzuviel in ihrem Organismus sein, aber welche Dosis hatte Richard ihr gegeben? Jede Dosis war zuviel.

»Annie, hör zu, laß mich das Krankenhaus anrufen. Dort wird man wissen, was zu tun ist. Wir müssen dieses Zeug aus deinem Körper herausbekommen.«

»Jeff, erzähl mir, was mit dem Pferd geschehen ist«, sagte sie ruhig. »Mit dem grauen Pferd, von dem ich geträumt habe. Es ist doch nicht nach vorn auf die Knie gefallen, oder?« Ich sah nach ihren Händen und erwartete, daß sie die Sessellehnen umklammerten, doch sie lagen ruhig in ihrem Schoß. »Bitte sag es mir.«

Ich kniete vor ihr nieder und faßte ihre Hände. »Annie, der Traum ist unwichtig. Was wichtig ist, das ist, daß du eine gefährliche Droge im Körper hast. Ich weiß nicht, welche Symptome sie hervorrufen kann, aber wir müssen uns darüber informieren. Es könnte irgendwelche Entzugserscheinungen geben. Du mußt in ein Krankenhaus. Dort weiß man, was zu tun ist.«

»Nein«, sagte sie völlig unbeeindruckt. »Sie werden mir etwas geben, damit die Träume aufhören.«

»Nein, werden sie nicht. Sie werden versuchen, das Thorazin aus deinem Organismus herauszubekommen, und sie werden Untersuchungen anstellen, wieviel genau dir Richard gegeben hat und für wie lange. Was ist, wenn er dir schon seit Wochen Medikamente gibt? Was ist, wenn Thorazin nicht das einzige ist, was er dir gegeben hat?«

»Du verstehst mich nicht. Sie werden mich unter Drogen setzen.«

»Man kann dir nichts ohne deine Einwilligung geben.«

»Aber Richard hat es getan. Ich kann in kein Krankenhaus gehen. Die Träume sind wichtig. Sie sind überhaupt das Wichtigste.«

»Annie…«

»Nein, jetzt mußt du mir zuhören, Jeff. Ich bin draufgekommen, daß er mir etwas gibt, als du angerufen hast. Als ich aufwachte und ans Telefon ging, war ich so benommen, und dann hast du mich gefragt, ob Richard mir irgendwas geben würde. Ich wußte, das mußte es sein. Aber ich habe dir nichts gesagt.«

»Warum nicht?« fragte ich sanft.

»Weil die Träume dadurch aufgehört hatten.« Ihre Hände waren eiskalt. Ich rieb sie behutsam zwischen meinen Händen. »Als du anriefst, hatte ich den ganzen Nachmittag über geschlafen, und ich hatte keinerlei Träume gehabt. Dann riefst du an und erzähltest mir vom Sonderbefehl 191, und ich wollte nicht einmal zuhören. Ich wollte einfach nur weiterschlafen. Ich wollte für immer schlafen.«

»Das kam vom Thorazin«, sagte ich.

»Ich wollte für immer schlafen, aber ich konnte nicht. Sogar unter dem Einfluß von Thorazin, sogar wenn ich schlief, wußte ich, daß die Träume wichtig waren und daß ich sie träumen mußte. Deshalb bin ich hergekommen. Weil ich wußte, daß du mir helfen würdest. Ich wußte, daß du mir würdest sagen können, was die Träume bedeuten.«

»Annie, hör zu!« Ich schaute ängstlich in ihre blaugrauen Augen, um zu sehen, ob die Pupillen geweitet waren. Sie waren es nicht. Die Augen blickten klar und wach. Vielleicht hatte sie wirklich nur ein paar Tage lang unter Thorazin gestanden. »Läßt du mich wenigstens Brouns Hausarzt anrufen? Er ist kein Psychiater oder etwas in der Art. Er ist einfach nur praktischer Arzt.«

»Er wird Richard anrufen.«

»Nein, das wird er nicht«, sagte ich und wünschte, ich könnte mir dessen sicher sein. Wenn ich ihm sagte, daß Richard einer Patientin ohne deren Wissen Thorazin gegeben hatte, würde er sogleich denken, es handele sich um eine Geisteskranke. Er würde Richard anrufen, und Richard würde ihm sagen, sie sei hochgradig instabil und leide an Verfolgungswahn. Er würde die Onkel-Doktor-Stimme gebrauchen, und Brouns Arzt würde ihm glauben. Und was dann? Würde er Annie ins Schlafinstitut zurückbringen, oder würde Richard auftauchen und sie holen?

»Laß mich dir wenigstens einen Kaffee machen«, sagte ich und tätschelte ihre Hände. »Wir müssen diesen Mist aus deinem Körper herauskriegen.«

Sie schlang ihre Finger um meine. »Erzähl mir von dem Pferd. Bitte.«

»Es gehörte D. H. Hill. Es wurde unter ihm zusammengeschossen.« Ich hielt ihre Hände fest, als erwartete ich, daß sie sie mir wegziehen würde. »Seine Vorderbeine wurden abgeschossen.«

»Sah Lee, wie es passierte?«

»Ja«, sagte ich. »Ich wollte dir nicht glauben, als du mir von Tom Tita und Hills rotem Hemd und dem verschwundenen Befehl erzähltest«, sagte sie mit immer noch ruhiger Stimme, doch ihr Griff wurde fester. »Aber ich wußte, daß es stimmte, selbst unter Thorazin. Ich erkannte die Bedeutung der Träume am Abend des Empfangs, sobald du mir von der Villa Arlington erzählt hattest, aber ich wollte es nicht glauben.«

Sie senkte den Kopf, bis er beinahe unsere Hände berührte. »Dieser arme Mann!« sagte sie. »Durch das Thorazin habe ich die meiste Zeit geschlafen, und selbst wenn ich wach war, kam es mir so vor, als würde ich schlafen. Es war wunderbar. Vorher hatte ich nicht schlafen können, weil ich mich so sehr davor fürchtete, von dem Soldaten im Obstgarten zu träumen, und jetzt konnte ich schlafen und schlafen und träumte überhaupt nicht. Es war wundervoll. Ich war so froh, daß Richard es mir gegeben hatte.«

Sie blickte zu mir auf. »Aber selbst’ im Schlaf dachte ich noch daran, wie schrecklich es gewesen sein muß, daß man damals kein Thorazin hatte, daß es nichts gab, um diese schrecklichen Träume zu beenden. Er muß sie wieder und wieder geträumt haben, bis er ebenfalls Angst vor dem Einschlafen hatte.« Sie hielt meine Hände so fest umklammert, daß es schmerzte. »Und deshalb muß ich die Träume träumen, deshalb bin ich zu dir gekommen. Du mußt mir helfen, sie zu träumen. Damit er etwas Schlaf bekommt.«

»Wer?« fragte ich, wußte aber schon die Antwort.

»Robert E. Lee. Es sind seine Träume, nicht wahr?« sagte sie, und es war nicht einmal eine Frage. »Ich träume Robert E. Lees Träume.«

Ich konnte beinahe das Maisfeld riechen und es in diesem ruhigen, warmen Morgendunst rascheln hören, und ich wußte, die Gewehre würden bald das Feuer eröffnen, und die Schlacht würde beginnen.

»Ja«, sagte ich.

Ich machte Annie etwas zu essen und ließ sie etwas Kaffee trinken. Ich fragte mich, ob ich sie herumgehenlassen sollte, damit sie nicht einschlief, wie man es bei einer Überdosis tat, aber sie hatte schon tagelang geschlafen. Ich wünschte, Broun hätte ein Medizinhandbuch von nach 1865 gehabt, damit ich die Nebenwirkungen hätte nachschlagen können.

Das Telefon klingelte. »Das ist Richard, bestimmt«, sagte sie und ergriff wieder meine Hände. »Er wird herkommen und mich holen.«

Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. »Er wird nicht wissen, wo wir sind«, sagte ich. »Die Nachricht auf dem Anrufbeantworter sagt, daß Broun in Kalifornien ist. Er wird denken, ich hätte ihn begleitet.«

»Was ist, wenn er herkommt?«

»Wir werden nicht da sein«, sagte ich. »Ich muß nach Fredericksburg, um ein paar Nachforschungen für Broun anzustellen. Du kannst mich begleiten. Er wird keine Ahnung haben, wo wir hingefahren sind.«

Annie war eingeschlafen, bevor ich den Satz beendet hatte, immer noch ihre Hände um meine gelegt, den Kopf leicht gegen die Lehne des Clubsessels geneigt, ihre Wangen so rosig wie die eines Kindes. Ich löste meine Hände aus ihren und ging eine Decke aus meinem Zimmer holen, und dann, endlich hellwach, packte ich eine Tasche, brachte meine und Annies Sachen ins Auto und kehrte anschließend ins Arbeitszimmer zurück und las Druckfahnen.

Richard rief während der nächsten drei Stunden alle zehn Minuten an und hörte dann auf, und ich löschte alle Lampen im Studierzimmer und ging nach unten, um nachzusehen, ob alle Türen verschlossen waren. Ich ging in den dunklen Wintergarten und stellte mich ans Fenster, sah zu, wie Richard vorfuhr und auf der gegenüberliegenden Straßenseite parkte, und dachte daran, wie der Bürgerkrieg begonnen hatte.

Lincoln hatte Lee den Oberbefehl über die Unionsarmee angeboten, doch er konnte ihn nicht annehmen. Auch wenn er die Sezession ablehnte, war ihm der Gedanke an Krieg zu verhaßt. »Ich war unfähig, mich zu entschließen, meine Hand gegen meine Verwandten, meine Kinder, meine Heimat zu erheben«, schrieb er seiner Schwester. »Ich weiß, du wirst mich dafür tadeln; aber du mußt so gut von mir denken, wie du nur kannst, und glauben, daß ich bestrebt war, das zu tun, was ich für richtig hielt.«

»Ich konnte keinen anderen Weg einschlagen, ohne unehrenhaft zu handeln«, schrieb er nach dem Krieg, nachdem er zweihundertfünfzigtausend seiner eigenen Männer umgebracht hatte; und Lincoln, dieser andere mit Massenmord betraute gute Mensch, hatte gesagt: »Wir wollen darauf vertrauen, daß Recht Stärke bewirkt, und in diesem Glauben wollen wir unsere Pflicht tun, so wie wir sie verstehen.«

Unsere Pflicht, so wie wir sie verstehen. »Ich mußte es tun«, hatte Richard gesagt und hatte mit einer Patientin geschlafen, hatte ihr ohne ihr Wissen gefährliche Medikamente gegeben, und ich hatte versprochen, mich um sie zu kümmern, also konnte ich ihm das nicht durchgehen lassen, selbst wenn er mein alter Stubenkamerad war. »Er hat sich einfach eines Tages gemeldet«, hatte Brouns Romanfigur Ben gesagt, »und ich spürte, daß ich dasselbe tun mußte.« Und jetzt waren wir auf einmal Feinde.

Um sieben ging ich nach oben und weckte Annie. Ich rief die Nachbarin an und sagte ihr, daß ich mich doch noch entschlossen hätte, Broun nach Kalifornien zu begleiten, und bat sie, auf die Katze aufzupassen, ich würde ihr Futter neben die Tür stellen, damit sie es zusammen mit der Katze holen konnte, wann immer sie wollte.

Dann sagte ich: »Und würden Sie der Polizei mitteilen, daß wir verreist sind? Broun kümmert sich im allgemeinen nicht um solche Sachen, aber gegenüber auf der Straße parkt ein Wagen, und seitdem ich Broun gestern abend zum Flughafen gebracht habe, sitzt ein Mann darin. Ich kann nicht erkennen, ob er das Haus beobachtet oder nicht, und vielleicht bin ich verrückt zu glauben, es bedeute etwas. Aber Broun besitzt eine Menge Erstausgaben.«

Als der Streifenwagen neben Richard hielt, brachte ich Annie durch die Hintertür zur Garage hinaus, und wir flohen nach Süden, ins Land der Träume.