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Robert E. Lee sah Traveller zum erstenmal während des Big Sewell Mountain-Feldzugs in West Virginia. Er ritt damals, auf Richmond, einen großen braunen Hengst, der ihm von einigen seiner Bewunderer in Richmond geschenkt worden war. Das Pferd Richmond hatte nicht das nötige Stehvermögen oder die Veranlagung zum Krieg. Es ermüdete schnell und wieherte und bockte, wann immer andere Pferde in der Nähe waren. Als Lee in den Süden beordert wurde, nahm er Richmond nicht mit. Er nahm ein Pferd mit, das ›Brauner Schecke‹ genannt wurde und später blind wurde und in den Ruhestand versetzt werden mußte. Nach Manassas gab General Jeb Stuart Lee eine sanfte Stute mit Namen ›Lange Lucy‹, um Traveller zu entlasten. Im Jahre 1864 verließen Lucy die Kräfte, und Lee schickte sie zur Erholung hinter die Front. Dort wurde sie gestohlen und an einen Sanitätsoffizier aus Virginia verkauft.

 

ICH WACHTE NICHT VOR ZEHN am nächsten Morgen auf, wobei ich den Eindruck hatte, das Telefon habe geklingelt. Es mußte geklingelt haben. Das Lämpchen brannte. Ich stellte den Anrufbeantworter an und hörte die Anrufe ab, während ich mich anzog. Es waren zwei. Der erste war von Broun. Sie hatte den verfärbten Klang von Brouns Autotelefon. »Jeff, ich habe mich nach New York aufgemacht«, sagte er. »Ich habe meinen Herausgeber heute morgen angerufen. Er meint, es sei zu spät, eine Episode hinzuzufügen, sie druckten schon die Fahnen aus, deshalb bringe ich ihm die Szene persönlich, um sicherzustellen, daß sie noch hineinkommt. Ich komme heute abend zurück. Oh, und vergiß die Fahrt nach Arlington. Ich habe heute morgen darüber nachgedacht. Arlington wurde erst 1864 in einen offiziellen Friedhof umgewandelt, und Willie starb 1862. Wir finden später heraus, wo er begraben wurde. Bleib zu Hause und ruh dich ein bißchen aus, mein Sohn. Es wird Schnee erwartet. Oh, und ich habe die Bücher in Ordnung gebracht.«

Ich schaute aus dem Fenster. Es hatte anscheinend gerade genug gegraupelt, um die Straßen während der Nacht mit einer Eisglasur zu überziehen, und dann aufgehört, aber jetzt fing es wieder an. Es waren nur ein paar große Flocken, und sie schmolzen, noch ehe sie den Gehsteig berührten, aber so hatte es auch in West Virginia angefangen, und dann war ein Blizzard daraus geworden.

Die Nachricht war schon eine Weile zu Ende, ehe das Gerät und ich es bemerkten. Broun hatte sich geweigert, einen dieser Dreißig-Sekunden-und- Schluß-Apparate zu kaufen. »Niemand, mit dem zu sprechen sich lohnt, kann sein Anliegen in dreißig Sekunden erklären«, waren seine Worte gewesen, aber in Wirklichkeit war er darauf aus, lange Passagen seiner Druckfahnen über Anrufbeantworter durchgeben zu können oder mich auf Band diktieren zu lassen, was ich etwa in Springfield herausgefunden hatte, damit er es sich anhören und ich es nach meiner Rückkehr ins Reine schreiben konnte. Er hatte eine hochkomplizierte Anlage in die Wand hinter seinem Schreibtisch einbauen lassen, mit einem sprachgesteuerten Tonbandgerät, das dreistündige Botschaften aufnehmen konnte, mit jeder Menge ausgefallenen Fernbedienungsfunktionen und Knöpfen für schnelles Umspulen und zum Löschen.

Ich zog einen Pullover an und wartete auf die zweite Nachricht. Sie kam von Richard. »Ich bin im Institut«, sagte er. »Ich würde gerne mit dir sprechen.« Er hörte sich über Telefon so ärgerlich an wie gestern abend, als er gegangen war.

Ich löschte beide Nachrichten und rief statt dessen Annie in Richards Wohnung an. »Hier ist Jeff«, sagte ich, als sie sich meldete.

»Ich habe gerade eben versucht, dich anzurufen«, sagte sie, »aber deine Nummer war besetzt. Mußt du immer noch nach Arlington rausfahren, um deine Nachforschungen zu machen? Ich möchte dich begleiten.«

»Ich wollte heute fahren«, sagte ich. »Bist du sicher, daß du mitwillst? Es soll ziemlich schlimm werden.« Der Schnee fiel jetzt rascher und begann auf dem Gehsteig liegenzubleiben. Ich konnte mir vorstellen, wie sie beim Telefon in Richards Wohnzimmer stand und in den Schnee hinausschaute.

»Es schneit bei uns nicht besonders stark«, sagte sie. »Ich würde gern mitkommen.«

»Ich hol dich ab«, sagte ich. »Ich bin in ungefähr einer Stunde bei dir.«

»Fahr nicht den ganzen Weg durch die Stadt. Es gibt gleich vor Arlington eine U-Bahn-Station. Wir treffen uns dort, in Ordnung?«

»Okay«, sagte ich. »Ich bin in einer halben Stunde da.«

Ich nahm eine Thermosflasche und goß den Rest von Brouns Frühstückskaffee hinein, um ihn mitzunehmen. Ich war die halbe Nacht auf gewesen, weil ich eine Antwort auf Annies Frage gesucht hatte, ob Lee eine Katze gehabt hatte. Es hatte weder im zweiten Band Freeman etwas gestanden, noch in Connellys Mann aus Stein. Ich war auf einen Brief von Lee an seine Tochter Mildred gestoßen, in dem von Baxter und Tom dem Kneifer die Rede war, aber beides waren Mildreds Katzen, und es war jedenfalls ziemlich unwahrscheinlich, daß sie die zahlreichen Umzüge während des Krieges überstanden hatten. Robert E. Lee jr. hatte zu dem Brief die Anmerkung gemacht, daß sein Vater ›auf seine Art‹ Katzen gemocht hätte, das hieß dort, wo sie hingehörten, was darauf hinzudeuten schien, daß Lee letztendlich keine eigene Katze gehabt hatte. Nichts, was ich in dem Durcheinander von Brouns Büchern fand, enthielt einen Hinweis darauf, daß die Familie eine Katze gehabt hatte, als sie in Arlington wohnte. Ich hatte schließlich eine der Freiwilligen anrufen müssen, die Besichtigungen der Villa Arlington durchführten. Ich weckte sie aus einem tiefen Schlaf, doch selbst im halbwachen Zustand wußte sie die Antwort. »Es steht in den Briefen an Markie Williams«, sagte sie und erklärte mir, wo ich sie finden konnte.

Sobald ich auf die Rock Creek Allee eingebogen war, verwandelte sich der Schnee in eine Mischung aus gleichen Teilen Regen und Schnee, die glatter war als jede ihrer Komponenten einzeln. Ich brauchte fast zwanzig Minuten, um am Lincoln Memorial vorbei und über die Brücke zu kommen.

Annie wartete auf dem Gehsteig neben der Treppe zur U-Bahnstation und kuschelte sich in ihrem grauen Mantel vor dem Schneeregen. Sie trug graue Handschuhe, aber sie hatte nichts auf dem Kopf, und ihr helles Haar war naß vom Schnee.

»Ich war schon einmal in diesem Unwetter, auf dem Rückweg von West Virginia«, sagte ich, als sie einstieg. Ich stellte die Wagenheizung höher. »Was hältst du davon, wenn wir die ganze Sache abblasen und irgendwo essen gehen?«

»Nein«, sagte sie. »Ich will hinfahren.«

»Okay«, sagte ich. »Wir werden allerdings nicht viel zu sehen bekommen.« Arlington war immer geöffnet, selbst an Tagen wie diesem. Es war schließlich ein Friedhof, und keine Touristenattraktion, aber was das Haus betraf, hatte ich so meine Zweifel.

Der Schneeregen wurde immer heftiger. Ich konnte nicht einmal so weit wie bis zum Marinedenkmal sehen, geschweige denn über die Brücke. »Das bringt doch nichts«, sagte ich. »Warum machen wir nicht…«

»Ich habe Richard gestern abend gefragt, ob er mich nicht nach Arlington rausbringen könnte. Auf dem Heimweg. Und heute morgen wieder. Er wollte nicht. Er meinte, ich würde unterdrückte Gefühle auf einen äußeren Gegenstand projizieren und mich gegen die Konfrontation mit einem Trauma sträuben, das so schrecklich sei, daß ich mir seine Existenz nicht eingestehen könne.«

»Glaubst du das auch?« fragte ich.

»Ich weiß nicht«, sagte sie.

»Wie oft hast du von den Soldaten in dem Obstgarten geträumt?«

»Ich weiß es nicht genau. Ich träume diesen Traum jede Nacht, seit über einem Jahr.«

»Seit über einem Jahr?« fragte ich entgeistert. »Dann bist du schon so lange am Schlafinstitut?«

»Nein«, sagte sie. »Ich bin vor etwa zwei Monaten nach Washington gekommen. Mein Arzt hat mich an Dr. Stone überwiesen, weil ich das wäre, was man einen Leichtschläfer nennt. Ich wache andauernd auf.«

»Dr. Stone?«

»Er ist der Leiter des Instituts, aber er war in Kalifornien, und deshalb kam ich zu Richard. Ich blieb eine Woche im Institut, in der sie alle möglichen Tests machten, und dann sollte ich weiter ambulant behandelt werden, aber der Traum wurde noch schlimmer.«

»Schlimmer? Wie das?«

»Als ich anfing, diesen Traum zu träumen, konnte ich mich hinterher nicht an besonders viel erinnern. Der tote Soldat kam darin vor und der Schnee und der Apfelbaum, aber er war nicht sehr klar. Ich meine, er war nicht eigentlich verschwommen, aber entfernt, irgendwas in der Art. Und dann, zwei Wochen, nachdem ich ins Institut gekommen war, wurde er plötzlich klarer, und wenn ich aus ihm aufwachte, war ich so in Panik, daß ich nicht wußte, was ich tun sollte.« Ihre Hände in den grauen Handschuhen waren fest in ihrem Schoß zusammengepreßt.

»Bist du ins Institut zurückgegangen?«

»Nein.« Sie blickte auf ihre Hände hinab. »Ich rief Richard an und sagte ihm, daß ich Angst hätte, allein zu sein, und er sagte, ich sollte ein Taxi rufen und gleich rüberkommen, und daß ich bei ihm bleiben könnte.«

Darauf hätte ich gewettet, dachte ich. »Du sagtest, der Traum wurde klarer? Du meinst, so wie wenn man eine Kamera scharfstellt?«

»Nein, nicht genau. Der Traum selbst veränderte sich nicht. Er war einfach nur erschreckender. Und irgendwie klarer. Mir begannen Einzelheiten aufzufallen, wie die Nachricht auf dem Arm des Soldaten. Sie war immer schon dagewesen, aber ich hatte sie vorher einfach nicht bemerkt. Und mir fiel auf, daß der Apfelbaum blühte. Ich glaube, das hat er im ersten Traum nicht.«

Die Scheibenwischer fingen an zu vereisen. Ich öffnete das Seitenfenster und langte nach vorn, um den Wischer gegen die Vorderscheibe zu schlagen. Ein schmaler Eisstreifen löste sich und glitt an der Scheibe hinab. »Was ist mit der Katze? War sie von Anfang an in dem Traum?«

»Ja. Glaubst du, Richard hat recht damit, daß ich verrückt bin?«

»Nein.« Ich steuerte sehr vorsichtig vom Bordstein wieder auf die Straße zurück.

Ich konnte die geschwungene Mauer der Einfahrt erst erkennen, als wir sie beinahe erreicht hatten, und von der Villa Arlington sah ich überhaupt nichts. Meistens sieht man sie schon vom Einkaufszentrum die ganze Entfernung über den Potomac hinüber; mit ihren breiten Veranden und lederbraunen Säulen wirkt sie wie ein goldener griechischer Tempel, und nicht wie eine Plantage.

»Robert E. Lee hatte eine Katze, nicht wahr?« sagte sie.

»Ja«, sagte ich und lenkte auf das Eisentor zu, das zu dem Besucherzentrum führte, zeigte einer Wache im Regenmantel und mit plastikumhüllten Hut kurz den Ausweis vor, der es Broun erlaubte, auf den Friedhof zu fahren, anstatt auf dem Besucherparkplatz zu parken, und fuhr den Hügel hinauf bis zur Rückseite der Villa Arlington. Wir konnten durch den Schneeregen hindurch immer noch kaum mehr als die groben Umrisse des Gebäudes erkennen, selbst dann noch nicht, als ich den Wagen an seiner Rückseite neben dem Anbau geparkt hatte, der in einen Souvenirladen umgewandelt worden war, doch Annie sah das Haus gar nicht an. Sobald ich den Wagen geparkt hatte, stieg sie aus und ging nach vorne zum Garten, als wüßte sie genau, wohin sie sich wenden mußte.

Ich folgte ihr und blinzelte durch den Schnee zum Haus hinüber, um zu sehen, ob es für Besucher geöffnet war. Ich konnte es nicht erkennen. Auf dem Parkplatz standen keine weiteren Wagen, und es führten keine Fußstapfen zum Haus, aber der Schnee fiel schnell genug, daß er sie überdeckt hätte haben können. Die einzige Möglichkeit, es herauszufinden, würde sein, zur Vordertür zu gehen, doch Annie stand bereits vor dem ersten Grab am Rand des Gartens und suchte mit gesenktem Kopf auf dem nassen Grabstein nach dem Namen, als nähme sie den Schnee überhaupt nicht wahr.

Ich ging hinüber und stellte mich neben sie. Der Schnee haftete noch nicht am Gras, von kleinen isolierten Klumpen abgesehen, die schmolzen und wieder gefroren und zwischen den Grashalmen Eisnetze ausspannten, aber der Wind hatte genug Schnee gegen die Grabsteine geweht, um sie beinahe unlesbar zu machen. Ich konnte den Namen auf dem ersten kaum erkennen.

»John Goulding, Leutnant, Sechzehntes New Yorker Kavallerieregiment«, las Annie vor.

»Das sind nicht die Soldaten, die ursprünglich hier begraben wurden«, sagte ich. »Das waren alles niedere Dienstgrade. Offiziere wurden auf dem Hügel vor der Villa begraben.«

Der zweite Grabstein war mit Schnee bedeckt. Ich beugte mich vor und wischte ihn mit der Hand ab, wobei ich wünschte, ich hätte Handschuhe angehabt. »Siehst du? Gustave von Branson, Leutnant, Kompanie K, Drittes Freiwilligenregiment, Vermont. Leutnant von Branson wurde erst 1865 hier beigesetzt, nachdem Arlington in einen Nationalfriedhof umgewandelt worden war. Dann ließ Commander Meigs die Mannschaften verlegen.« Ich richtete mich, die nasse Hand an der Jeans reibend, auf und wandte mich um. »Und zwar nach…«

Annie war weg. »Annie?« sagte ich blöde, schaute die Reihe der Grabsteine entlang und dachte, daß sie vielleicht hinter mich getreten war, aber sie war nicht da. Sie muß ins Haus gegangen sein, dachte ich. Es muß heute trotz allem geöffnet haben.

Ich ging eilig über den Kiesweg und stieg die spiegelglatten Stufen zur Veranda hoch. Der Wind blies Schnee gegen die geflieste Veranda und gegen die bräunlichen Säulen, so daß sie fast weiß aussahen.

Ich versuchte die Tür zu öffnen und hämmerte dann dagegen. »Haben Sie geöffnet?« schrie ich und versuchte, durch die Fenster hindurch etwas zu erkennen, aber ich hämmerte noch einen ganze Minute lang weiter, als glaubte ich, Annie sei eingeschlossen worden, ehe mein Verstand mir sagte, daß ihr möglicherweise kalt geworden und sie zum Auto zurückgegangen war, und ich ging ums Haus herum, um nachzusehen.

Sie war nicht im Wagen, und der Souvenirladen war fest verschlossen, und ich hörte auf, so zu tun, als wäre ich nicht beunruhigt, und eilte wieder zur Vorderseite des Hauses, um vom Hügel auf die Wiese hinunterzuschauen, wo die Leichen begraben worden waren.

Während ich zum Wagen und zurück gelaufen war, hatte der Wind zugenommen, und ich konnte vom Hügel aus nicht weiter als ein paar Meter sehen. »Annie!« rief ich. »Annie!«

Ich war mir nicht sicher, ob ich ihre Antwort hätte hören können, aber ich rief wieder, bereit dazu, mich den Hügel hinunterzustürzen, und dann erhaschte ich einen flüchtigen Blick auf etwas Graues, das sich zwischen den Bäumen auf der anderen Seite der Villa Arlington bewegte, und rannte ihr nach. Sie mußte auf der Custis-Promenade sein, dem breiten zementierten Weg, der von der weiter unten liegenden Straße heraufführte. Er beschrieb einen weiten Bogen um den Hügel, damit er nicht den Eindruck des Gebäudes verdarb, und als ich ihn hinunterrannte, fragte ich mich, ob man die Toten aus dem gleichen Grund verlegt hatte, nämlich weil sie die Aussicht gestört hatten.

Der Weg war kaum von Schnee bedeckt, wo er durch die Bäume geschützt war, die man über seine ganze Länge hin gepflanzt hatte, und ich nahm in dem Versuch, sie einzuholen, immer zwei der geborstenen, unebenen Stufen auf einmal, und plötzlich fand ich mich an der geschwungenen Wand und der marmornen Terrasse des Kennedy-Mahnmals wieder. Die Ewige Flamme brannte auf dem Grab inmitten eines Kreises unbehauener, rauchgeschwärzter Steine, auf denen der niederfallende Schnee schmolz.

Ich blickte zurück, den Hügel hinauf. Der Schnee wehte beinahe horizontal über den Hügel weg, und die Villa Arlington konnte ich nicht sehen, dafür aber Annie. Sie stand auf halber Höhe des Hügels hinter einer niedrigen Mauer und blickte auf den schneebedeckten Rasen hinunter, wo nun niemand mehr begraben war. Ich mußte direkt hinter ihr vorbeigelaufen sein und die Abzweigung auf meiner kopflosen Jagd die Treppe hinunter übersehen haben. Sie sah mich nicht, der ich hilflos dastand und zu ihr hinaufschaute, und auch nicht die Ewige Flamme, die vor den nassen Schneeflocken, die auf sie herabfielen, zurückzuschrecken schien, aber ich konnte sie trotz des Schnees und der zwischen uns liegenden Entfernung deutlich ausmachen. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck sehen.

Sie hatte am Abend zuvor, als sie mir den Traum erzählt hatte, verängstigt ausgesehen, aber das war nichts verglichen mit dem Schrecken, der ihr jetzt im Gesicht stand. Und ich konnte sie sehen, die blondhaarigen Soldaten mit den über das verschneite Gras geworfenen Armen, die Gewehre unter ihren Leibern und die Tinte auf den Papierfetzen, die an ihre Ärmel geheftet waren, und die sich allmählich verwischte, als der Schnee auf das Papier traf und schmolz. Ich konnte das alles, sogar die Katze, in ihrem Gesicht wie in einem Spiegel sehen, und ich wußte, ich hätte sie nicht hierherbringen dürfen.

»Annie!« schrie ich und spurtete die steile Böschung hinauf, wobei meine Schuhe auf dem vereisten Gras ausrutschten. »Halt dich fest!« rief ich, als glaubte ich, sie könne hinfallen. »Ich komme!«

Ich kletterte über die mit Kieseln besetzte Betonmauer. »Ich hab dich aus den Augen verloren«, sagte ich atemlos und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Ist mit dir alles in Ordnung?«

»Ja«, sagte sie und blickte unverwandt den Hügel hinunter. »Erzähl mir von Robert E. Lee.«

Die Schultern ihres Mantels waren mit Schnee bedeckt. Ihr Haar war durch und durch naß. Sie mußte die ganze Zeit über hier gestanden haben, während ich nach ihr gesucht hatte.

»Ich hätte dich nicht hierherbringen sollen«, sagte ich. »Du erkältest dich und holst dir noch den Tod. Laß uns zum Auto zurückgehen.«

»Ist er je wieder zurückgekommen?«

»Ich kenne ein tolles Lokal gleich hinter der Brücke. Großer Kamin. Großartiger Kaffee. Wir können uns dort über Lee unterhalten.« Ich nahm sie beim Arm. »Ich werde dir alles sagen, was du wissen willst.«

Es war ihr nicht anzumerken, daß sie meine Hand auf ihrem Arm überhaupt spürte. »Ist er nach dem Krieg hierher zurückgekommen?«

»Nein«, sagte ich. »Er hat es nur einmal gesehen. Aus dem Fenster eines Zugabteils.«

Sie nickte, als hätte ich etwas bestätigt, das sie schon lange wußte.

»Laß uns wenigstens auf die Veranda der Villa Arlington gehen. Dort sind wir aus dem Wind heraus.«

»Er war ein guter Mensch, nicht wahr? Es heißt doch immer, er sei ein guter Mensch gewesen, oder?«

Ich wollte sie aus dem Schnee und aus ihrem feuchten Mantel und den patschnassen Schuhen heraushaben und sie vor ein Feuer setzen, damit sie keine Lungenentzündung bekam, aber sie hätte sich nicht von der Stelle gerührt, ehe ich nicht ihre Fragen beantwortet hatte. Ich ließ ihren Arm los. »Er war ein guter Mensch, vermute ich, wenn man jemanden als gut bezeichnen kann, der das Abschlachten von zweihundertfünfzigtausend Männern zu verantworten hat«, sagte ich. »Er war tapfer, würdevoll, nachsichtig, freundlich zu Kindern und Tieren. Jedermann mochte ihn, sogar Lincoln.«

»Seine Soldaten liebten ihn«, sagte Annie. Sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen und wrang sie in den Händen.

»Ja«, sagte ich. »Einmal kam bei Cold Harbour ein Trupp seiner Soldaten vorbei. Sie sahen ihn, wie er sich unter einem Baum ausruhte, und gaben die Losung weiter, ›Marse Robert‹ sei eingeschlafen. Die ganze Kolonne passierte ihn quasi auf Zehenspitzen, damit er nicht aufwachte. Seine Soldaten liebten ihn. Sein Pferd liebte ihn.«

»Zweihundertfünfzigtausend Männer«, sagte sie. »Wenn er ein guter Mensch war, wie hielt er es dann aus? All diese jungen Burschen. Da ist er bestimmt niemals drüber weggekommen, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht.«

»Vielleicht kann er deshalb nicht schlafen. Wegen all dieser Jungen.« Sie wandte sich mir zu und sah mich an. »Das ist das Haus aus meinem Traum. Im Traum sieht es wie mein Haus aus, aber es ist nicht mein Haus.

Es ist dieses Haus. Und es ist nicht mein Traum.« Sie wandte sich ab und schaute wieder zum Kennedy Memorial am Fuß des Hügels hinab. Die Ewige Flamme, die im Kreis der geschwärzten Steine brannte, sah aus wie das Lagerfeuer von Soldaten. »Erzähl mir von der Katze.«

»Hattest du jemals eine Katze? Als Kind?« fragte ich.

»Nein«, sagte sie. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?« sagte sie. Sie hatte beide Handschuhe fallengelassen. Ihre Hände, die flach auf der niedrigen rauhen Mauer lagen, waren rot und naß.

»Nein.«

»Richard meint, mir wäre etwas zugestoßen, als ich klein war, etwas, an das ich mich nicht mehr erinnere und das mich diese Träume träumen läßt, und der Apfelbaum und die Leichen und die Katze, das wären alles Symbole für das, was damals geschah. Er sagt, das unbeschriebene Papier am Ärmel des Soldaten sei ein Symbol für die Botschaft, die mir mein Unterbewußtsein zu übermitteln versucht, nur hätte ich zuviel Angst, um sie zu lesen.«

»Robert E. Lees Tochter hatte einen Kater, der Tom Tita hieß«, sagte ich. »Einen gelben Tigerkater. Er wurde versehentlich zurückgelassen, als die Lees Arlington verließen. Als eine Cousine, Markie Williams, nach Arlington fuhr, um ein paar Sachen zu holen und sie den Lees zu schicken, fand sie die Katze. Sie war auf dem Speicher eingeschlossen und hatte sich von Mäusen ernährt.«

»Was passierte mit ihr?«

Ich bückte mich und hob ihre Handschuhe auf. »Das weiß ich nicht.« Ich reichte sie ihr. »Sie berichtet nichts darüber, daß sie sie mitgenommen hätte. Ich nehme an, sie hat sie bei den Unionssoldaten gelassen, die Arlington besetzt hatten. Ich weiß nicht, was mit ihr geschah.«

»Mir ist kalt«, sagte sie und ging vor mir her zurück zum Weg und hinauf zum Haus.

Die Veranda bot wenig Schutz. Der Schnee begann sich auf den hölzernen Treppenstufen zu häufen und hatte auf den sechseckigen Fliesen geschwungene Verwehungen gebildet. »Warum setzen wir uns nicht ins Auto und reden weiter?« sagte ich. »Es ist eisig hier draußen.«

Sie setzte sich auf eine schwarz gestrichene Bank. »Hast du das in einem Buch gefunden?« sagte sie. »Das mit der Katze?«

»In einem Brief«, sagte ich.

»Ich könnte das ebenfalls vor langer Zeit einmal gelesen und dann wieder vergessen haben. Ich könnte irgendwo gelesen haben, daß Arlington einmal Lee gehört hat, und auch das vergessen haben.«

»So wie Bridey Murphy«, sagte ich. »Sie stand unter Hypnose. Sie hatte keine Träume.«

»Richard meint, Träume wären nicht das, wofür wir sie halten. Sie wären Emotionen in der Gestalt von Bildern und Symbolen, und in der Sekunde, in der man aufwacht, versucht man die Bedeutung des Traums vor sich selbst dadurch zu verbergen, daß man Dinge hinzufügt und andere vergißt, damit der Traum eine andere Bedeutung bekommt. Vielleicht ist das genau das, was ich tue. Ich mache tote Unionssoldaten aus ihnen, und in Wirklichkeit sind sie etwas anderes.«

»Was?« fragte ich.

»Ich weiß nicht.«

»Was für ein Gewehr hatte der Soldat? Der, auf den du getreten bist. Du sagtest, daß er immer noch sein Gewehr umklammert hielt. Was für ein Gewehr war das?«

»Ich glaube, es war ein Spielzeuggewehr«, sagte sie. »Es sah aus wie ein Gewehr, aber es war ein Rolle Zündplättchen darin, wie bei einer Spielzeugpistole.« Sie sah zu mir auf. »Soll das heißen, daß ich in unserem Obstgarten jemanden mit einem Schreckschußrevolver erschossen habe und mich dann dazu gebracht habe, es zu vergessen?«

Der Schnee fiel um uns herum wie ein Vorhang. Ich konnte kaum weiter als bis zum Rand der Veranda sehen. »Eins der im Bürgerkrieg benutzten Gewehre war die sogenannte Springfield. Zum Verfeuern von Steinkugeln benutzte sie eine Papierrolle mit Zündhütchen, wie die Zündplättchenrolle in einer Spielzeugpistole.«

»Ich hatte noch einen anderen Traum gestern nacht«, sagte sie.

»Wir können nicht hier draußen sitzenbleiben. Du kannst mir im Wagen davon erzählen«, sagte ich, stand auf und bot ihr meine Hand. Sie ergriff sie mit ihrer eiskalten Hand, und ich half ihr auf. Am liebsten hätte ich ihre beiden Hände genommen und an meine Brust gedrückt und wieder etwas Wärme in sie hineinmassiert, aber sie ließ mich los, sobald sie auf den Beinen war und zog wieder ihre klitschnassen Handschuhe an. Wir gingen zum Wagen zurück.

Ich ließ den Motor an und drehte die Heizung und das Gebläse so hoch, wie es eben ging. Ich schaltete nicht die Scheibenwischer ein, und der angehäufte Schnee entzog das Haus und den Garten und die Gräber unserem Blick.

»Ich stand unter dem Apfelbaum, nur war er auf einem Hügel, und unten war ein Fluß, und wo eigentlich mein Haus hätte stehen sollen, war die presbyterianische Kirche, in die ich als kleines Mädchen immer gegangen bin«, sagte sie. Sie zog die Handschuhe aus und begann sie in den Händen zu wringen, und dann hörte sie damit auf und steckte sie in ihre Tasche.

»Es war Nachmittag, und Richard war da. Er trug seine Hausschuhe, und er blickte den Hügel hinunter, aber ich konnte nicht erkennen, was er beobachtete, und ich ärgerte mich, weil er das tat, anstatt mir beim Suchen zu helfen.« Sie brach ab und starrte auf die blinde Windschutzscheibe.

»Beim Suchen helfen? Wonach?« fragte ich.

»Nach der Botschaft. Es gab hunderteinundneunzig davon, aber eine fehlte, und ich sagte zu Richard: ›Wir müssen sie finden‹, aber er wollte einfach nicht sein Fernrohr absetzen, er zeigte nur den Hügel hinunter und sagte: ›Frag Hill. Er weiß, wo sie ist‹, und zuerst dachte ich, er meinte den Hügel, auf dem wir standen, aber dann sah ich einen Mann auf einem grauen Pferd, und ich ging hinunter und sagte wütend: ›Wo ist sie?‹, aber er beachtete mich ebenfalls nicht. Er versuchte, von seinem Pferd herunterzukommen, aber das Pferd war vornübergefallen, irgendwie auf die Knie. Seine Knie waren gebeugt…«

Sie versuchte es mir zu zeigen, aber ihre Ellbogen wollten sich nicht in der richtigen Weise abbiegen lassen, und ich wußte bereits, wie das Pferd ausgesehen hatte. Ich schloß die Augen.

»Er hatte einen Fuß im Steigbügel und versuchte, sein anderes Bein über das Sattelhorn zu bekommen, aber er schaffte es nicht, und nach einer Weile ging ich wieder den Hügel hinauf zu Richard und sagte: ›Wir müssen sie finden.‹ Er gab mir ebenfalls keine Antwort, weil er durch sein Teleskop über die Kirche hinaus nach Süden schaute. Ich wollte ihm das Fernrohr schon wegnehmen, aber gerade in dem Moment sah ich, was er beobachtete. Es war eine langgezogene Linie von Unionssoldaten, die sich von Süden her näherten. ›Wessen Truppen sind das?‹ fragte ich, und Richard reichte mir das Teleskop, aber meine Hände waren bandagiert, und ich konnte es nicht halten, deshalb ließ ich ihn weiter gucken, und er sagte: ›Es sind Föderierte‹, und ich sagte: ›Nein. Es ist Hill‹, und in diesem Moment kam der Mann, der auf dem Pferd gesessen hatte, das auf seinen Knien gelegen hatte, auf einem anderen Pferd heraufgeritten, bloß trug er inzwischen ein rotes Wollhemd, und ich war so froh, ihn zu sehen, denn es bedeutete, daß er, auch wenn wir sie nicht finden konnten, die Botschaft dennoch bekommen hatte.«

Ich sagte nichts. Ich fuhr mit meinen Händen über den Rand des Steuers und überlegte, wie ich sie heimbringen konnte, ehe der Schnee schlimmer wurde und wir beide hier oben festsaßen.

»Vielleicht hat Richard recht«, sagte sie, »und was auch immer in der verschwundenen Botschaft steht, ist das, was immer es sein mag, woran ich mich nicht erinnern kann.«

»Was ist mit den Bandagen an deinen Händen? Was ist mit den konföderierten Soldaten in blauen Uniformen? Und der Zahl hundertundeinundneunzig? Was soll das alles bedeuten?«

»Ich weiß nicht«, sagte sie leichthin und zog ihre Handschuhe wieder an. »Richard wird mir das sagen müssen. Er ist der Psychiater.«

»Brouns neues Buch handelt von Antietam«, sagte ich. »Ich habe die letzten sechs Monate damit verbracht, alles Gedruckte über die Schlacht zu durchstöbern.«

»Und du weißt, warum meine Hände bandagiert waren?«

»Lee brach sich die rechte Hand und verstauchte sich unmittelbar vor dem Marsch nach Maryland die linke. Bei Antietam trug er die Schienen und die Verbände immer noch. Lee hatte eine dringende Nachricht an A. P. Hill in Harper’s Ferry geschickt, in der er ihm befahl, er solle seine Männer so rasch wie möglich heraufschicken, und deshalb glaubte er, als er einige Soldaten aus dem Süden näher rücken sah, daß es Hills Truppen wären, aber die Soldaten trugen blaue Uniformen.

Er fragte einen seiner Adjutanten: ›Wessen Truppen sind das?‹ Der Adjutant sagte ihm, es wären Unionssoldaten und bot Lee an, das Teleskop zu benutzen, aber Lee hielt seine bandagierten Hände hoch und sagte: ›Kann’s nicht halten. Wessen Truppen sind das?‹ Der Adjutant schaute noch einmal hin, und diesmal konnte er die konföderierten Gefechtsflaggen erkennen.

Es waren A. P. Hills Leute, gerade von Harper’s Ferry herübergekommen, nach einem Gewaltmarsch von siebzehn Meilen. Hill ritt ihnen voran. Er trug ein rotes Hemd.« Ich klammerte mich ans Lenkrad. »Sie trugen Unionsuniformen, die sie aus dem Vorratslager hatten, das ihnen bei Harper’s Ferry in die Hände gefallen war.«

Annie wandte sich ab und blickte durch das Seitenfenster zu den Gräbern hinüber, die sie nicht sehen konnte. »Ich möchte nach Hause«, sagte sie.