15

 

Nach der Kapitulation wurde Lee die Stelle des Direktors an einem kleinen College in Lexington angeboten. Er ritt auf Traveller dorthin, um eine Wohnung für seine Familie vorzubereiten. »Er reist morgen ab«, schrieb seine Frau, »und zwar auf dem Pferderücken, weil es ihm so lieber ist und weil er sich nicht einmal zeitweise von seinem geliebten Roß trennen will, seinem Gefährten in so manch harter Schlacht.«
In Lexington ritt er Traveller täglich und hielt zwischendurch an, um kleine Mädchen aufsitzen zu lassen und um sich mit Studenten zu unterhalten. Die Lange Lucy, die gestohlene Stute, wurde gefunden und zurückgebracht, und eine von Lees Töchtern begleitete ihn für gewöhnlich, wenn er mit Traveller ausritt. Im Laufe der Zeit erschöpfte ihn Travellers harte Gangart mehr und mehr, und als er eine Vortragsreise unternahm, benutzte er die Bahn. »Sag ihm, daß ich ihn schrecklich vermisse und daß ich unsere Trennung nur einmal bereut habe«, schrieb Lee an seine Frau, »das heißt, die ganze Zeit über, seit wir auseinander sind.«

 

ICH FUHR MIT ANNIE zu Brouns Haus. »Wir können die Fahnen später zur Post bringen«, sagte ich. »Dieses Zeug wird sich in Schnee verwandeln, wenn wir noch weiter nach Norden kommen. Ich fahre heute nicht mehr nach New York. Ich muß nach den Nachrichten sehen und die Post durchgehen.«

Ich hatte Richard gesagt, er sollte einige Straßen entfernt parken, damit Annie den Wagen nicht sähe, aber die Haustür war unverschlossen, und Brouns Siamkater saß auf der untersten Stufe. Mein erster Gedanke war, daß er irgendwie eingeschlossen worden war, als wir nach Fredericksburg aufgebrochen waren, doch dann sah ich, daß die Post ordentlich auf dem Dielentisch gestapelt war und daß ein Jackett über dem Treppengeländer hing. Annie stand in der Tür zum Wintergarten, noch im grauen Mantel und mit angezogenen Handschuhen und den linken Arm vom rechten unterstützt, und betrachtete die afrikanischen Veilchen. Sie waren gegossen worden – auf dem Tisch waren Lachen trüben Wassers.

»Bist du das, Jeff?« sagte Broun und kam die Treppe heruntergepoltert. Er trug einen schwarzen Mantel, der aussah, als hätte er darin geschlafen. »Gott sei Dank!« sagte er und umarmte mich. Sein Bart war in der Woche, die er weggewesen war, überhaupt nicht gewachsen, und die rauhen Stoppeln kratzten mich am Ohr. »Bist du in Ordnung? Ich habe jedes einzelne Motel in Fredericksburg angerufen, aber du warst nirgendwo registriert.« Er schob mich auf Armeslänge von sich und musterte mich mit seinen scharfen kleinen Augen. »Du hast Richards Nachricht also bekommen?«

»Welche Nachricht?« sagte ich. Ich trat von ihm zurück und schlüpfte aus dem Mantel. »Mir geht’s gut, jetzt, wo die verdammten Fahnen fertig sind. Was für ein Durcheinander! Vertauschte Kapitel, fehlende Kapitel, all sowas. Ich habe schließlich Annie hier angerufen und sie überredet, runterzukommen und mir zu helfen. Du erinnerst dich doch noch an meinen Boss, nicht wahr Annie?« sagte ich. Ich hängte meinen Mantel über den Treppenpfosten. »Den Mann, der für unser ganzes Elend während der letzten Tage verantwortlich ist? Broun, erinnerst du dich, Annie?«

»Ja, natürlich«, sagte Broun und schüttelte ihre Hand.

»Hallo«, sagte sie ernst. Ich konnte ihren Gesichtsausdruck nicht deuten.

»Es ist kalt hier draußen in der Diele«, sagte ich. »Haben Sie die Heizung nicht angestellt? Laßt uns in den Wintergarten gehen.« Ich nahm Annie beim Arm und führte sie in das Zimmer. »Gut, hier ist es wärmer. Annie, laß mich diesen nassen Mantel nehmen.«

Broun kam uns nach und blieb in der Tür stehen. »Warum hast du mir nicht gesagt, daß du krank bist, Jeff?« sagte er. »Schon an dem Abend, als du von Springfield zurückgekommen bist, dachte ich mir, daß etwas nicht stimmt. Warum hast du mir nicht gesagt, daß du Brustschmerzen hast? Ich hätte meine Reise abgesagt. Warst du bei einem Arzt?«

»Ich habe gerade die Untersuchungsergebnisse vom Labor bekommen. Es gibt da nach dem Bericht des Hausarztes ein Problem beim EKG«, hatte Richard gesagt. »Hast du irgendwelche Brustschmerzen bemerkt?« Broun hatte gedacht, die Nachricht beträfe mich, und war herbeigeeilt, um mir zu helfen, aber dazu war es zu spät. Ich sah Annie an. Sie hatte ihre Handschuhe ausgezogen und war immer weiter rückwärts gegangen, bis sie an den Tisch mit den afrikanischen Veilchen gestoßen war. Sie stand dort, wrang ihre Handschuhe und beobachtete mich, darauf wartend, was ich sagen würde.

»Ich bin nicht derjenige, der krank ist«, sagte ich. »Annie ist es. Ich habe sie zurückgebracht, um sie in ein Krankenhaus zu bringen.« Ich nahm ihre Hände in meine. »Ich habe Richard angerufen«, sagte ich. »Er wird jeden Augenblick da sein.«

Einen Moment lang stand sie sehr ruhig, als wollte sie etwas sagen, und dann taumelte sie vorwärts so wie Lee, als Traveller gescheut hatte, die Handschuhe immer noch in der Hand.

»Du leidest an einer Angina des Herzens«, sagte ich. »Deshalb tut dir das Handgelenk weh. Lee hatte während des ganzes Krieges Angina, Schmerzen in der Schulter, den Arm entlang, im Rücken. Er starb an einem Herzanfall. Die Träume sind eine Warnung. Du mußt dich untersuchen lassen.«

»Und deshalb hast du Richard angerufen.«

»Ja.«

Sie setzte sich auf das Sofa. »Du hast es mir versprochen«, sagte sie.

»Das war, bevor ich wußte, daß dich die Träume umbringen würden. Ich tue das zu deinem eigenen Besten.«

»Wie Richard«, sagte sie und knetete die Handschuhe auf ihrem Schoß.

Ich kniete mich neben sie. »Annie, hör mir zu, der Traum, den du heute morgen hattest, handelte nicht von Antietam. Ich habe dich angelogen. Die Versammlung, von der du geträumt hast, fand in der Grace Church in Lexington statt. Lee ging zu der Versammlung und saß den ganzen Nachmittag in der Kälte, und dann ging er im Regen nach Hause und bekam einen Herzanfall! Ich werde nicht zulassen, daß dir das gleiche passiert!«

»Ich muß es tun.« Sie knetete die Handschuhe. »Ich muß es durchstehen. Bitte versuch das zu verstehen«, sagte sie ernst und freundlich. »Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Ich habe versprochen, seine Träume zu träumen. Der arme Mann… Ich muß versuchen, ihm zu helfen. Ich kann ihn nicht im Stich lassen. Er liegt im Sterben.«

»Er stirbt nicht, Annie!« rief ich. »Er ist tot. Er ist seit mehr als einhundert Jahren tot! Du klammerst dich an die Hand einer Leiche. Du kannst nichts für ihn tun! Verstehst du das nicht?«

»Ich habe es versprochen.«

»Und ich habe ebenfalls etwas versprochen, aber ich will verdammt sein, wenn ich dich wegen eines gottverdammten Anrufbeantworters sterben lasse! Darum handelt es sich nämlich in Wirklichkeit, um eine Art biologisch gespeicherter Nachricht, die sich einschaltet, wenn du im Begriff stehst, einen Herzanfall zu bekommen, und dir die Botschaft zukommen läßt, daß du einen Arzt aufsuchen sollst.«

»Nein, das ist es nicht«, sagte Annie. »Es sind Lees Träume.«

»Lees Träume«, sagte Broun. Er griff nach dem Türrahmen und lehnte sich dagegen, als könnte er nicht mehr stehen.

»Du hast prodromale Träume, Annie! Sie werden durch die Angina ausgelöst!«

Broun machte einen Schritt auf Annie zu. »Träumen Sie Robert E. Lees Träume?« sagte er mit einer angestrengten, unsicheren Stimme, als bekäme er nicht genügend Luft.

»Nein«, sagte ich.

»Ja«, sagte Annie.

Broun tastete hinter sich blind nach einem Sessel und setzte sich schwerfällig. »Lees Träume«, sagte er.

»Annie, verstehst du nicht?« sagte ich. »Du bist in Gefahr. Ich muß dich in ein Krankenhaus bringen.«

»Ich kann nicht. Ich habe es versprochen.«

»Was hast du versprochen? Nach Bloody Angle zu marschieren und dich umbringen zu lassen? Du bist nicht Lees Soldat! Seine Soldaten mußten bei ihm bleiben. Sie hätte man wegen Fahnenflucht erschossen.«

»Das ist nicht der Grund, warum sie bei ihm blieben.«

Es stimmte, barfuß und blutend waren sie ihm immer noch nicht fortgelaufen, nicht einmal zum Schluß. »Wir werden weiter für Sie kämpfen, Marse Robert.«

»Als sich Lees Soldaten verpflichteten, da wußten sie, daß sie getötet werden könnten. Du nicht. Du hast dich überhaupt nicht einmal verpflichtet.«

»Ich habe mich verpflichtet«, sagte Annie. »An dem Tag, als wir nach Shenandoah fuhren. Damals wurde mir klar, daß ich ihn nicht im Stich lassen durfte, daß ich bei ihm bleiben und ihm helfen mußte, die Träume zu träumen.«

»An dem Tag, als wir nach Shenandoah fuhren, wußtest du nicht, daß du Angina hast!«

»Doch, das wußte ich.« Sie legte die Handschuhe auf ihrem Schoß ab. »Ich fand es am Morgen in der Bücherei heraus. Mein Handgelenk tat weh, und ich dachte, es wäre vielleicht eine Nebenwirkung der Medikamente, die ich genommen hatte; deshalb schlug ich es nach. Es stand da, Elavil sei bei Patienten mit Herzbeschwerden kontraindiziert.«

»Elavil?« sagte ich begriffsstutzig.

»Als ich wegen meiner Schlaflosigkeit vor einem Jahr beim Arzt war, sagte er mir, ich hätte ein kleineres Herzleiden.«

»Warum hast du mir nichts davon erzählt? Ich hätte mit dir zum Arzt gehen können.«

»Ich konnte zu keinem Arzt gehen.« Sie sah mich an. »Die Träume sind ein Symptom. Wenn man die Krankheit heilt, verschwinden die Symptome. Und ich darf ihn nicht im Stich lassen.«

»Warum hast du mir nichts erzählt?« sagte ich noch einmal.

Sie antwortete nicht. Sie saß da, die Hände im Schoß.

»Weil ich damit versucht hätte, die Träume zu stoppen«, sagte ich an ihrer Stelle. So wie ich es gerade zu tun versuchte.

Es läutete an der Tür. Broun legte seine Hände auf die Sessellehnen und machte eine Bewegung, um aufzustehen, dann setzte er sich wieder hin und beobachtete weiter Annie. Sie stand auf. Ihre Handschuhe fielen unbeachtet zu Boden. »Du hast es mir versprochen«, sagte sie.

»Ich tue das zu deinem eigenen Besten«, sagte ich und öffnete Richard die Tür.

Er trug keinen Mantel. Sein Pullover und seine Jeans waren vollkommen durchnäßt. Auch sein Haar war naß, und er sah erschöpft und besorgt aus, genauso, wie er am Abend des Empfangs ausgesehen hatte, als er noch mein alter Stubenkamerad, mein Freund gewesen war.

»Wo ist sie?« sagte er und stürmte an mir vorbei in den Wintergarten.

Annie war an den Tisch mit den afrikanischen Veilchen gestoßen und stand mit hängenden Armen daneben. Sie hatte eins der Veilchen heruntergeworfen, und schmutziges Wasser tropfte von der Tischkante auf den Boden.

»Gott sei dank bist du in Ordnung!« sagte er und faßte sie am Handgelenk. »Ich habe das Krankenhaus angerufen, und wenn wir dort sind, haben sie schon ein Zimmer vorbereitet. Hast du irgendwo Schmerzen?«

»Ja«, sagte sie und schaute durch den Raum zu mir herüber. Broun erhob sich.

»Wo? Im Arm?«

»Nein«, sagte sie und sah mich weiter an. »Nicht im Arm.«

»Also, wo dann? Rücken, Kiefer, wo? Das ist wichtig!« sagte er wütend, wartete ihre Antwort jedoch nicht ab. Er wandte sich nach Broun um, und dabei zog er Annie mit sich, wobei ihr Arm ruckartig angehoben wurde, wie der einer Leiche.

»Ruf einen Krankenwagen«, sagte er.

»Nein«, sagte Annie, zu Broun, nicht zu mir. »Bitte.«

Ich hatte geglaubt, ich könnte es tun. Sie hatte bereits jene andere Kapitulation durchlebt. Ich hatte nicht gedacht, daß diese so schwer für sie sein würde. Aber jene Kapitulation war etwas anderes gewesen. Lincoln hatte Grant angewiesen ›es ihnen leicht zu machen‹, und das hatte Grant getan. Er hatte Lee am Appotomax nicht gefangengenommen. Er hatte nicht einmal Lees Säbel verlangt. Er hatte dafür gesorgt, daß an die Männer Rationen ausgeteilt wurden und daß die Offiziere ihre Pferde behalten durften, und dann hatte er Lee gehenlassen.

Ich blickte zu Broun hinüber, der in seinem schwarzen Mantel mit hängenden Armen dastand, als hätten ihn Erschöpfung und Mitleid übermannt, und dann wieder zu Richard. Ich hätte mich Lincoln ergeben können, dachte ich. Ich hätte mich Grant ergeben können. Aber Longstreet nicht. Nicht Longstreet.

»Laß sie los«, sagte ich. Richard wandte sich mir zu und sah mich an. »Wir brauchen keinen Krankenwagen. Wir haben schon mit einem Arzt gesprochen. In Fredericksburg. Dr. Barton.«

»Was hat er gesagt? Warum hat er sie nicht in ein Krankenhaus eingewiesen?«

»Das hat er. Er nahm sie mit und machte ein EKG und Bluttests. Er fragte sie, ob sie irgendwelche Medikamente genommen hätte, und sie sagte ihm, Elavil.« Ich wartete ab, wie er darauf reagierte.

»Davon hast du am Telefon nichts gesagt.«

»Doktor Barton wollte wissen, warum ihr jemand bei Herzbeschwerden Elavil verschrieben hat.«

Annie und Broun standen vollkommen unbewegt und beobachteten ihn. Es war so still im Raum, daß ich hören konnte, wie das Wasser vom Tisch der afrikanischen Veilchen auf den Boden tropfte.

»Ein mildes Sedativum war bei der Schlaflosigkeit der Patientin indiziert«, sagte er mit seiner Onkel-Doktor-Stimme. »Der Bericht von Annies Hausarzt erwähnte nichts weiter als ein funktionelles Herzgeräusch, und ihr EKG hat das bestätigt. Es gab keine Symptome, die auf eine Herzerkrankung hindeuteten, und Elavil ist nur in Fällen von hochdosierter und langandauernder Einnahme kontraindiziert. Ich habe eine milde Dosis verordnet, die Patientin sorgfältig beobachtet und das Medikament sofort wieder abgesetzt, als es keinen Einfluß auf ihre Symptome erkennen ließ.«

»Ihre Symptome«, sagte ich. »Ihre Träume, meinst du wohl?«

»Ja«, sagte er. Er ließ Annies Handgelenk immer noch nicht los.

»Ich habe Dr. Barton nach den Träumen gefragt«, sagte ich. »Er meinte, er wüßte nicht, wodurch sie hervorgerufen werden, bis er heute morgen das Ergebnis ihres Bluttests sah. Es wurden Spuren von Thorazin darin festgestellt. Er meinte, wahrscheinlich wäre das Thorazin für die Träume verantwortlich. Er fragte Annie danach, wer ihr das Thorazin verschrieben habe, und sie sagte, niemand. Sie sagte, sie wüßte nicht, wovon er redete, und sie hätte nie Thorazin eingenommen.«

»Thorazin war indiziert«, sagte er. »Es wird in Fällen von Schlafstörungen routinemäßig verschrieben.«

»Dr. Barton meinte, Thorazin würde Geisteskranken auf geschlossenen Abteilungen verordnet, und nicht Leuten, die schlecht träumen.«

»Darum geht es also, oder? Du glaubst immer noch, daß sie Robert E. Lees Träume träumt.«

»Dr. Barton meinte, es sei verbrecherisch, wenn ein Arzt einem Patienten Medikamente ohne dessen Wissen verabreicht. Er meinte, ein Arzt könnte deswegen seine Zulassung verlieren. Stimmt das, Richard? Könntest du deine Zulassung verlieren?«

»Du Bastard«, sagte mein alter Stubenkamerad und ließ Annies Handgelenk los. »Ich habe nur versucht, dir zu helfen, Annie. Das war meine Pflicht als Arzt.«

»Erzähl du mir nichts von Pflicht«, sagte Annie, ihren Arm wie ein Baby an ihrer Brust wiegend, »jedenfalls so lange nicht, wie du mich nicht meine tun läßt.«

Broun gab ein Keuchen von sich. Sein Gesicht war unter dem Bart leichenblaß. Er sah krank aus, wie ein Schriftsteller, der die Worte, die er niedergeschrieben hat, plötzlich in Realität verwandelt sieht.

»Rufen Sie den Krankenwagen«, sagte Richard zu Broun.

»Nein«, sagte Broun. »Sie träumt Robert E. Lees Träume.«

»Du hast es ihm ebenfalls eingeredet, nicht wahr?« sagte er zu mir. »Ihr seid alle verrückt, wißt ihr das?«

»So wie Lincoln?« sagte Broun.

»Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte Richard, und Broun wandte sich um und stolperte die Treppe hinauf.

»Ich habe Annie gesagt, daß ich ihr Thorazin verschreiben wollte und sie über die Nebenwirkungen informiert«, sagte der Onkel Doktor. »Sie hat die erste Dosis selbst eingenommen. Thorazin beeinträchtigt manchmal das Kurzzeitgedächtnis des Patienten.«

»Nach dem Bürgerkrieg schrieb Longstreet lange, komplizierte Briefe darüber, daß er Lee bei Pickett’s Charge nicht hängengelassen hatte«, sagte ich, »und warum alles Lees Schuld war. Aber es funktionierte nicht. Es gab zu viele Augenzeugen.«

»Soll das etwas aus Lees Träumen sein?«

»Nein«, sagte ich. »Das soll eine Warnung sein. Ich habe zwei Kapseln Thorazin und alle Nachrichten, die du auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hast. Du läßt sie in Ruhe, oder ich schicke sie deinem Chef, Dr. Stone, ins Schlafinstitut. Ich werde ihm sagen, daß du einer Patientin ohne deren Wissen Thorazin gegeben hast. Ich werde ihm sagen, daß du einer Patientin mit einem Herzleiden Elavil gegeben hast.«

Broun kam die Treppe herunter, den Anrufbeantworter in der Hand. Er hatte ihn aus der Wand herausgerissen. Das abgerissene Ende des Anschlußkabels schleifte neben ihm über den Boden.

»Wenn du immer noch einen Krankenwagen rufen willst, dann mußt du das Telefon nebenan benutzen, Richard«, sagte ich, »allerdings bezweifle ich, daß unsere Nachbarin dich hineinlassen wird. Nicht nachdem sie dich schon einmal hat festnehmen lassen.«

»Du Bastard«, sagte er wieder. »Damit kommst du bei mir nicht durch. Ich habe dich angerufen, wußtest du das? Um dir zu sagen, daß ich eine Patientin hätte, die schreckliche Träume träumte, und daß ich nicht wüßte, was ich tun sollte. Ich habe dich angerufen, und du warst nicht da.«

»Hast du mich angerufen, damit ich dir helfe, oder wolltest du dir ein Alibi verschaffen?« sagte ich, aber er hatte bereits die Tür hinter sich zugeschlagen.

Ich zog meinen Mantel an. »Er könnte versuchen, uns zu folgen«, sagte ich. »Er hat mindestens einen Block weiter geparkt. Wenn wir jetzt gleich aufbrechen, können wir ihn abschütteln.« Ich hob Annies Handschuhe auf und warf sie ihr zu.

»Haben Sie etwas Geld?« fragte ich Broun. Er wühlte in seinen Taschen und brachte einen Zwanziger und etwas Kleingeld zum Vorschein. »Ist das alles?« sagte ich, schrie ich ihn an, als versuchte ich ihn wach zu machen.

Er griff mit seiner rechten Hand, in der anderen immer noch den Anrufbeantworter haltend, in die Innentasche seines Jacketts, das immer noch über dem Treppenpfosten hing, und zog ein Bündel Scheine hervor. Er reichte es mir, dann ließ er sich auf das Sofa fallen.

»Danke«, sagte ich. Ich nahm Annies Koffer, drängte sie aus der Tür. Broun antwortete mir nicht. Als ich den Wagen startete, konnte ich ihn durch die Fenster des Wintergartens sehen, immer noch den Anrufbeantworter an sich gedrückt, wie ein Mann, der eingeschlafen war.

Der Regen war dabei, sich in Schnee zu verwandeln. Ich fuhr bis zum Ohio Drive über Nebenstraßen, dann bog ich auf den Memorial Parkway ein. Nachdem wir die Brücke überquert hatten, sah ich mich um und fuhr dann weiter, an der Ausfahrt zum Washington Memorial Parkway vorbei.

»Ich werde dich nicht zum Flughafen bringen«, sagte ich. »Richard ist vielleicht gar nicht so weit hinter uns«, fuhr ich hastig fort, damit sie nicht auf den Gedanken kam, daß dies eine weitere Falle wäre und ich sie in ein Krankenhaus bringen würde. »Ich bringe dich zur U-Bahnstation in Arlington. Wenn du willst, kannst du die U-Bahn bis zum Flughafen oder zum Bahnhof nehmen, oder du fährst mit dem Bus, und Richard wird unmöglich sagen können, wo du hingefahren bist.« Und ich auch nicht, dachte ich.

Annie nickte, ohne mich anzusehen, die Hände im Schoß verkrampft. Ich lenkte den Wagen bis zu den weißen Steinen, die den Eingang der U-Bahnstation markierten, und hielt an.

»Ich habe von dir geträumt. Heute während der Fahrt«, sagte sie, immer noch geradeaus blickend. »Ich war zu Hause in meinem Zimmer, im Bett, und hatte mir die Kissen in den Rücken gestopft, und du kamst rein und sagtest: ›Ich werde dich nach Fredericksburg fahren‹, und ich wollte mit dir gehen, aber ich konnte nicht. Ich konnte dir nicht einmal antworten. Ich schüttelte bloß den Kopf.« Sie wandte sich mir zu, die Augen voller Tränen. »Es war überhaupt das erste Mal, daß ich von dir geträumt habe. Ich habe von Richard und Broun geträumt, aber nie von dir, Jeff. Wer, glaubst du, warst du? Ich war so froh, dich zu sehen.«

»Keine Ahnung«, sagte ich, obwohl ich von Anfang an eine Vermutung gehabt hatte, welche Rolle ich spielte. »Lees Arzt vielleicht? Ich würde dich nach Fredericksburg fahren, das weißt du. Oder sonst überallhin.«

Würde ich das? Würde ich sie dorthin fahren können, nun, da ich wußte, wohin die Träume sie führten? Oder würde ich wieder Richard anrufen? Ich stieg aus und holte ihren Koffer aus dem Kofferraum und stellte ihn auf den Treppenabsatz. Ich hielt ihr die Tür auf. Sie faltete einen Zettel, steckte ihn in ihre Tasche, dann stieg sie aus.

Ich gab ihr Brouns Geld und alles Bargeld, das ich hatte. »Hier hast du ungefähr fünfhundert Dollar. Das sollte bis nach Hause reichen, oder wo immer du hinwillst.«

»Danke«, sagte sie.

»Das ist die Blaue Linie. Du kannst damit direkt zum Flughafen fahren. Wenn du mit Amtrak fahren willst, nimmst du ab dem U-Bahnverteiler die Rote Linie, die wird dich zum Bahnhof bringen.«

Sie senkte den Kopf, um in ihrer Handtasche zu kramen und steckte das Geld weg. »Ich werde nicht wissen, wie es dir ergeht«, sagte ich. »Versprich mir, daß du zu einem Arzt gehst.«

»Wenn der Krieg zu Ende ist«, sagte sie. Sie nahm den gefalteten Zettel aus der Tasche und reichte ihn mir.

Ich nickte. »Wenn der Krieg zu Ende ist.«

Sie reichte hoch und strich mir das Haar aus der Stirn. »Ich war so froh, dich zu sehen«, sagte sie. Sie hob den Koffer mit ihrer linken Hand an, stellte ihn auf dem nassen Gehsteig ab, hob ihn mit der rechten hoch und ging die Treppe hinunter.

Ich trat bis zum Rand der Plattform vor und stand dort lange genug, daß sie sich davonmachen konnte, hielt den gefalteten Zettel fest und blickte den Hügel hinauf zur Villa Arlington. Es begann zu schneien. Ich steckte den Zettel in meine Manteltasche und fuhr nach Hause.

Ich las ihn erst am nächsten Tag, aus Angst, sie könnte die Adresse des Hauses mit der breiten Veranda und dem Obstgarten aufgeschrieben haben, und ich könnte, so wie Richard, versuchen, ihr zu folgen.

Er war immer noch feucht. Ich faltete ihn vorsichtig auseinander, damit er nicht zerriß, und las ihn. Mit einem blauen Korrekturstift hatte sie geschrieben: ›Tom Tita, Villa Arlington.‹