Epilog
Als der Himmel sich auftat
landete in meinem Schoß etwas
Wabbeliges wie eine Chipstüte.
Darin ein Rubbellos und darin
»Try it again«.
Und genau das werde ich jetzt tun.
Víctor Sierra Matute, ›Mein Schicksal in einer Chipstüte‹
Ich erreichte Madrid gegen Morgen, als der wenige sommerliche
Verkehr gerade die Straßen zu beleben begann, und fuhr zu der
Wohnung, die ich seit ein paar Jahren unter falschem Namen gemietet
hatte und von der die FIRMA nichts wusste. Dort duschte ich,
verband meine Wunden, schlief die dreieinhalb Stunden, die ich mir
gerade noch erlauben konnte, und packte dann Waffen, Pässe,
Kleidung und alles, was ich brauchte, um ein halbes Dutzend Mal
mein Aussehen zu ändern, in eine Sporttasche.
Obwohl es noch relativ früh war, herrschte unten auf der Straße schon eine Bullenhitze. Yolanda kam mir in den Sinn: Bei Hitze würde ich immer an sie denken. Aber natürlich auch bei Kälte und überhaupt bei jedem Wetter.
Doch heute blieb keine Zeit dafür, und so schüttelte ich den Kopf, um die Gedanken an sie zu verscheuchen, und fuhr dann mit der U-Bahn zur Gran Vía. Ohne die Schaufenster eines Blickes zu würdigen, in denen sich der neueste Bestseller stapelte, dessen reißerischer Titel nach purem Marketing klang, betrat ich die riesige Buchhandlung und ging zu den Tischen mit den Neuerscheinungen, deren Umschläge darum wetteiferten, potentielle Leser anzuziehen, Ich rächte mich für so viel Werbeaufwand, indem ich mich für ein unscheinbares Buch mit dem Titel ›Camino de ida‹ entschied, das Romandebüt eines gewissen Carlos Salem, der dem Klappentext zufolge schon alle möglichen Jobs hatte und ein ziemlicher Spinner sein musste. Wenigstens war der Typ kein Schauspieler, TV-Moderator oder Politiker, der sich zum Romancier berufen glaubte, und auch keine Yellow-Press-Barbie, deren Memoiren davon kündeten, welchen VIPs sie schon einen geblasen hatte, so, als wären das große Heldentaten. Salems Roman hatte das richtige Format für den wattierten Umschlag, den ich mit meiner eigenen Adresse und einem erfundenen Absender versah und dann einem Kurierdienst anvertraute, der ihn innerhalb der nächsten zwei Stunden zustellen wollte. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass mir niemand folgte, stieg ich in ein Taxi und gab dem Taxifahrer die Adresse einer Cafeteria am Ende der Straße, in der mein Singleapartment lag. Obwohl ich in dem Lokal schon bald seit zwei Jahren frühstückte, erkannte der Kellner in mir nicht den Stammkunden aus dem Wohnblock gegenüber, der seinen Kaffee immer ohne Zucker trank: Meine Verkleidung war aber auch zu gut und vor allem nagelneu, ich hatte sie noch nie für eine Mission der FIRMA benutzt. Ich setzte mich an einen Tisch am Fenster, und während ich auf den Paketboten wartete und meinen Hauseingang nicht aus den Augen ließ, musste ich wieder an mein Gespräch mit Professor Camilleri am Abend zuvor denken.
Während wir
uns das Essen schmecken ließen und den Wein mit der Langsamkeit des
bevorstehenden Abschieds tranken, plauderten wir über Bücher, die
Kunst und die Frauen und kamen so schließlich auch auf Yolanda zu
sprechen.
»Ein wirklich schönes Gemälde, diese junge Frau, mein lieber Juan.« Der Professor sah mich schmunzelnd an. »Aber ich glaube, das habe ich Ihnen bereits gesagt.«
»Ja, ein schönes Gemälde, auf dem ich allerdings keinen einzigen Pinselstrich mehr setzen kann, Professor. Wir haben uns vor ein paar Stunden Lebewohl gesagt. Für immer.«
»Hatte sie denn etwas damit …?«
»Nein«, sagte ich. »Sie war nur eine Sommerliebe, die durch Zufall in diese unselige Geschichte verwickelt worden ist. So wie Sie.«
Wir stießen auf sie an, wonach Camilleri mit seiner Besorgnis nicht mehr länger hinter dem Berg halten konnte.
»Heute Nacht haben wir Glück gehabt, Juan. Aber die Hintermänner werden sich gewiss nicht so leicht geschlagen geben. Werden Sie ihnen geben, was sie wollten, jetzt wo Ihre Kinder in Sicherheit sind?«
»Ich weiß es nicht, Professor, ich weiß es wirklich nicht.«
»Das wäre sicher das Vernünftigste. Sie sind erfahren in dem Versteckspiel, Ihre Kinder aber nicht. Sollen sie ihr Leben lang unter falschen Namen leben?«
Ich schwieg einen Augenblick lang nachdenklich.
»Sie haben recht, Camilleri«, sagte ich entschlossen. »ich werde mich mit dem Gewünschten vor Nummer Zwei aufbauen, ihm in die Augen sehen und sagen: ›Hier hast du, was du wolltest, jetzt sind wir quitt.‹«
Er nickte und sah dann verwundert zu, wie ich in der Gürteltasche zu kramen begann.
Nach einer Weile seufzte ich, blickte hoch und sah dem Professor in die Augen.
»Tut mir leid, ich kann’s nicht finden. Wir sind doch noch nicht quitt, Nummer Zwei.«
Der Bote kam pünktlich. Ich sah, wie er mehrmals auf eine Klingel
drückte, da jedoch niemand öffnete, klingelte er wohl beim
Pförtner, denn kurz darauf erschien der alte Alberto in der Tür. Er
nahm den Umschlag mit gleichgültiger Miene entgegen, wie man das
von ihm gewohnt war, und der Bote fuhr wieder auf seinem Moped
davon.
Weder in der Cafeteria noch in den geparkten Autos hatte ich irgendeine besondere Bewegung wahrgenommen. Nichts deutete darauf hin, dass mein Haus beschattet wurde, offenbar war die Luft rein, ich wartete aber trotzdem noch eine Weile, bis der Pförtner Mittag machte.
Eine Viertelstunde später fiel die Tür meines Apartments hinter mir leise ins Schloss. Ich hielt den Atem an. In der Wohnung war es totenstill. Hatten sie sich versteckt, um mich in die perfekte Falle locken zu können? Erwartete mich in meinen eigenen vier Wänden der Tod?
Aber es erwartete mich niemand. Und es hatte auch niemand in meinen Sachen gewühlt, alles stand noch an seinem gewohnten Platz. Auf dem Weg ins Wohnzimmer musste ich beim Gedanken an die frühere Nummer Drei lächeln. Camilleris Gesicht, als er sich enttarnt sah, hätte ihn hoch erfreut.
Eine Sekunde
lang überlegte er wohl, ob er eine überraschte oder entrüstete
Miene aufsetzen sollte, begriff aber, dass ich ihm das nicht mehr
abnehmen würde, und entschied sich deshalb für ein feines
Lächeln.
»Du bist schlauer, als ich dachte, Nummer Drei. Wie hast du Verdacht geschöpft?«
»Es wäre mir lieber, wenn wir uns weiterhin siezen würden, so wie vorher, als wir uns noch sympathisch waren.«
»Gerne, Juan. Allerdings war meine Wertschätzung nicht geheuchelt, in den vergangenen Tagen sind Sie mir sehr ans Herz gewachsen.«
»Liebe kann tödlich sein, Nummer Zwei. Ich habe allem und jedem misstraut, von Anfang an. Und war nicht genau das Ihre Absicht? Sie wollten mich so verwirren, dass ich auf Sie zukomme und versuche, mich freizukaufen. Als das dann nicht klappte, fiel Ihnen nichts Besseres ein, als meine Kinder zu entführen, was – das müssen Sie zugeben – der reinste Pfusch war.«
»Sie haben recht, aber mitten im Hochsommer sind einfach keine fähigen Leute zu finden …«
»Von allen Campern waren Sie der Einzige, der mich nicht auf die eine oder andere Weise zu bedrohen schien. Deshalb mussten Sie der Drahtzieher des Ganzen sein. Außerdem hat die FIRMA zu jedem Einzelnen von uns ein umfassendes Dossier mit seinem psychologischen Profil. Mein Schwachpunkt ist eindeutig das Fehlen einer Vaterfigur. Und wer war väterlicher als der verehrte Professor Andrés Camilleri? Apropos, das ist doch sicher nicht Ihr richtiger Name, oder?«
»Nein. Ich habe mir den Namen eines ausgezeichneten sizilianischen Krimiautors ausgeliehen. Ich dachte, den kennen Sie bestimmt nicht.«
»›Die Form des Wassers‹, ›Das Spiel des Patriarchen‹, ›Der Kavalier der späten Stunde‹, ›Die Nacht des einsamen Träumers‹ … Genügt das?«
Nummer Zwei grinste, wodurch er mir fast wieder sympathisch wurde.
»Wie gesagt, ich habe Sie unterschätzt. Sie sind im Übrigen ein großes Risiko eingegangen, als Sie mich heute Nacht in die Höhle mitgenommen haben …«
»Ganz im Gegenteil. So war die Überraschung garantiert. Der Trick mit dem Handy gab nicht viel her, aber wenn Ihre Handlanger feststellten, dass der eigene Chef es in der Hand hielt … Deshalb ging ich erst in letzter Minute zu Ihnen und ließ Sie nicht mehr aus den Augen, bis wir zur Höhle hinaufstiegen: Damit Sie sie nicht warnen konnten. Falls ich mich in Ihnen täuschte, konnte ich zumindest auf die Unterstützung eines reizenden älteren Herrn zählen. Wenn ich hingegen richtig lag, würden Sie mein Spiel mitspielen, denn Sie würden mich erst töten, wenn Sie hatten, was Sie wollten.«
»Ich hätte Ihre Kinder hinterher in mein Auto verfrachten können und …«
»Um noch einmal dasselbe Spiel zu spielen?«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Aber zumindest wären sie nicht mehr in der Hand dieser beiden Dilettanten gewesen. Und ich hätte genau gewusst, wer Sie sind.«
»Wie haben Sie das herausbekommen?«
»Als Sie dem Schweden die Kehle aufgeschlitzt haben. Ich habe Ihnen bei der Tastenkombination eine Ziffer zu wenig genannt, aber Sie haben das Messer-Handy trotzdem betätigen können.«
Er hob das Glas, und wir stießen an.
»Ich gebe zu, Sie haben mich überlistet, Nummer Drei. Und das ist nicht einfach.«
»Kommt drauf an, mit wem Sie es zu tun haben«, erwiderte ich. »Ich bin nämlich nicht der Einzige, der Sie täuschen kann.«
»Benutz als Erstes den Kopf«, hatte mir die alte Nummer Drei
eingeschärft. »Dann die Fäuste, und wenn alles nichts hilft, die
Eier. Anders geht es nicht.«
Ich befolgte seinen Rat.
Ich trat vor den hässlichen Holzgötzen, das letzte Geschenk, das er mir von irgendeinem Touristenziel in Afrika mitgebracht hatte, und wollte seinen Kopf drehen.
Er rührte sich nicht.
Ich schlang meine Hände um seinen Nacken, um ihn auszurenken, zog am bunten Kopfschmuck des Totems – aber nichts geschah, nur ein kaum hörbares Knacken war zu hören.
Also inspizierte ich seine Arme mit den geballten Fäusten und entdeckte, dass sie zwar aus demselben Holz, aber nicht in einem Stück geschnitzt waren. Ich packte eine der Fäuste, versuchte, sie nach hinten zu drehen – und tatsächlich: Das Handgelenk bewegte sich, und es knackte erneut.
Da wusste ich endgültig, was zu tun war: Mit einem breiten Grinsen untersuchte ich die überdimensionalen Hoden des Götzen, packte sie dann resolut mit beiden Händen und zog. Diesmal war das Geräusch lauter, ich hörte, wie sich eine Zugfeder spannte, und auf einmal öffneten sich die wulstigen Lippen des Totems, und aus dem Mund sprang wie bei einem CD-Player ein Geheimfach heraus.
Darin lag eine digitale Speicherkarte und darunter eine Postkarte. Das Ansichtsfoto war schon ziemlich vergilbt; wer weiß, wann er die gekauft hatte. Der Tinte nach zu urteilen, war das Geschriebene auf der Rückseite jedoch eindeutig neueren Datums. Er hatte keine Unterschrift daruntergesetzt, aber ich erkannte seine Schrift natürlich sofort. Als ich den Text las, meinte ich die spöttische Stimme der ehemaligen Nummer Drei zu hören:
»Lass dir von ihnen nichts einreden, mein Junge: Als Toter lebt es sich echt spitzenmäßig.«
»Noch können
wir zu einer Einigung gelangen, Nummer Drei. Ich kann Ihnen
garantieren, dass die FIRMA …«
»Die FIRMA wird mir gar nichts garantieren. Und Ihnen auch nicht. Dieser Auftrag geht nämlich nicht aufs Konto der FIRMA, sondern auf Ihres. Sie haben diese blutigen Anfänger engagiert und den Chefs gesagt, sie würden Tonys Auftrag übernehmen, weil …«
»Welcher Tony? … Ah, Antonio Capitán! Wissen Sie, Juan, er lechzte geradezu nach Rache.«
Unwillkürlich verzog sich mein Gesicht zu einer schmerzlichen Grimasse. Welch Ironie des Schicksals: Nach so vielen Jahren rief mir jemand ins Gedächtnis, dass Tony, den ich dazu verdammt hatte, mein zweiter Mann zu sein, mit Nachnamen Capitán hieß. Doch ich hatte mich gleich wieder gefangen.
»… weil die diversen Nummer Eins der FIRMA nämlich unter keinen Umständen erfahren durften, was man Ihnen gestohlen hatte. Nur deshalb haben Sie diesen ganzen Zirkus veranstaltet: Damit Sie selbst nicht dran glauben müssen, sollte die FIRMA Wind davon kommen.«
Nummer Zwei atmete tief durch. »Ja, Sie haben recht. Vor einem knappen Jahr hat jemand die Firewall meines Computers geknackt und einen sehr wichtigen Ordner heruntergeladen. Ich habe lange gebraucht, bis ich herausgefunden habe, wer der Hacker war.«
»Die ehemalige Nummer Drei, der aussteigen wollte.«
»Genau. Auch wenn ich mir bis heute nicht erklären kann, wie er das angestellt hat. Er war ein verdammt guter Killer, aber …«
»… von Computern verstand er nicht annähernd so viel. Und er war’s auch nicht: Es war Antonio Capitán, Ihr Spielzeugerfinder. Er hat die vertraulichen Daten runtergeladen und die Zipdateien an die frühere Nummer Drei weitergereicht. Als der sich dann damit von der FIRMA loskaufen wollte, befahlen Sie mir, ihn zu töten – nicht zuletzt, um sich zu vergewissern, dass ich nichts davon wusste. Da der Ordner danach jedoch nicht auftauchte, war es nur logisch, dass ich die geheimen Informationen haben musste. Schließlich wussten Sie ja, dass wir ein sehr enges Verhältnis gehabt hatten und er zwar ein ungehobelter Hurenbock, für mich aber dennoch wie ein Vater war. Außerdem wird Antonio Capitán garantiert noch den einen oder anderen Bericht über mich manipuliert haben; ihm war sicher jedes Mittel recht, um Sie davon zu überzeugen, dass man mich beiseiteschaffen musste.«
»Er war ganz schön intrigant, Ihr Sandkastenfreund. Aber Schwamm drüber: Jetzt …«
»Vergessen Sie’s, Professor«, schnitt ich ihm wieder das Wort ab. »Vor der Höhle liegen drei Leichen. Deren Tod können Sie vor der FIRMA nicht vertuschen. Genauer gesagt sind es sogar vier, wenn wir Nummer Dreizehn mitzählen. Apropos, warum musste der eigentlich dran glauben?«
»Weil er mir beinahe auf die Schliche gekommen wäre. Auch wenn er nicht so viel ahnte wie Sie.«
Verwundert schüttelte ich den Kopf. Nummer Dreizehn war doch schlauer gewesen, als ich dachte. Aber das tat nun nichts mehr zur Sache.
»Außer den Toten gibt es zudem noch Arregui und Beltrán, die bereits eine ganze Menge wissen und nicht so leicht auszuschalten sind. Und selbst wenn Sie sie eigenhändig umbringen würden, über kurz oder lang kämen die diversen Nummer Eins doch dahinter. Nein, wir müssen aus dem Geschäft aussteigen, Professor. Und zwar alle beide. Warum ziehen Sie nicht endlich nach Sizilien und beginnen diese Krimis zu schreiben, von denen Sie so viel reden?«
Nummer Zwei nickte nachdenklich. »Vielleicht tue ich das, Juan, ja, vielleicht tue ich das wirklich. Wissen Sie, was der Witz an der ganzen Sache ist? Mit meiner Leidenschaft für die Schriftstellerei fing überhaupt alles erst an. So viele Fakten, all die geschickt eingefädelten Morde und Operationen … Zehn Jahre lang sammelte ich auf meinem Rechner alles Material zu den Aufträgen, zu den ›Kunden‹ und den hohen Tieren auf der Gehaltsliste, weil ich es nach meinem Ausstieg zu einer Krimiserie verarbeiten wollte, natürlich mit geänderten Namen und Schauplätzen … Keine Ahnung, wie Ihr Freund Capitán davon erfuhr.«
»Wahrscheinlich war’s purer Zufall. Er wird Ihre Sicherheitscodes geknackt haben, um Ihre Berichte über mich lesen zu können. Aber das ist jetzt egal. Hören Sie auf mich, Professor, noch haben Sie Zeit …«
»Und wie viel?«
Ich sah auf die Uhr.
»Sechsundvierzig Stunden … Oder sagen wir lieber fünfundvierzig, so können wir noch ein letztes Glas zusammen trinken. Was meinen Sie, Camilleri?«
Der alte Professor antwortete nicht, sondern winkte nur den Kellner herbei.
Das Internetcafé war halb leer, was in diesem Madrider Viertel
nicht weiter verwunderlich war, da hier vorrangig Yuppies lebten,
die werktags mit einem schicken Laptop ins Büro eilten und in ihren
Wochenendhäusern das neueste Designermodell stehen hatten. Das
Kartenlesegerät, das ich irgendwo unterwegs gekauft hatte, schloss
ich an den Computer in der hintersten Ecke an.
Kaum hatte ich den Speicherchip eingelegt, wegen dem so viele Menschen gestorben waren, ploppte auf dem Bildschirm ein Fenster mit Hunderten von Dateien auf. Zunächst klickte ich wahllos einige an und überflog deren Inhalt. Camilleri hatte nicht übertrieben: Die Dokumente waren das reinste Dynamit. Exakte Ablaufpläne der einzelnen Geheimoperationen, Gehaltslisten, Unternehmensinterna, Observierungsprotokolle … Mir blieb keine Zeit, alles genau zu studieren, weil ich unbedingt die Dateien finden musste, die vom Datum her mit meinen Aufträgen übereinstimmten. Hektisch löschte ich dann eine nach der anderen, so, als könnte ich die von mir begangenen Morde damit ungeschehen machen – bis ich plötzlich innehielt und dann nur noch Files mit vertraulichen Informationen über Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens suchte, die von der FIRMA bestochen worden waren. Aber es waren einfach viel zu viele, weshalb ich Arreguis und Beltráns Namen schließlich in den Such-Assistenten eingab. Die Suche ergab keinen Treffer. Natürlich konnten die betreffenden Dateien auch in einem der Ordner abgelegt sein, für die man eine besondere Zugangsberechtigung brauchte – vielleicht aber auch nicht, vielleicht waren Arregui und Beltrán wirklich absolut integre Männer mit kleinen, verzeihlichen Schwächen. Jedenfalls beschloss ich, ihnen nun endgültig zu vertrauen.
Ich eröffnete zwei kostenlose E-Mail-Accounts, komprimierte die Dateien zu Zipdateien und verschickte sie dann als Attachment von einer der beiden Adressen zur anderen. Zwei Stunden später wählte ich Arreguis Handynummer.
Er war sofort am Apparat, und ich diktierte ihm die E-Mail-Adresse, an die ich alles geschickt hatte.
»Den Speicherchip verstecke ich gleich noch hinterm Spülkasten, falls die Zipdateien sich nicht öffnen lassen oder ein paar der E-Mails im virtuellen Nirwana verlorengehen. Obwohl … hol ihn dir am besten gleich, der Laden hier kann jeden Moment Konkurs anmelden.«
»Okay«, erwiderte er und notierte sich Straße und Hausnummer des Internetcafés. »Und jetzt gib mir noch das Passwort für den Account.«
»H-o-d-e-n-b-r-u-c-h«, buchstabierte ich.
»Passt wie die Faust aufs Auge«, brummte er. »In der Presse wird’s allerdings nicht besonders geschmackvoll rüberkommen, wenn Beltrán und ich deine FIRMA auffliegen lassen …«
»Ach, Txema, mach dir bloß keine zu großen Illusionen. Du weißt doch, dass letztlich immer nur ein paar zur Rechenschaft gezogen werden können. So ist es doch immer.«
»Besser ein paar als gar keiner«, sagte der Kommissar entschieden und räusperte sich dann verlegen. »Und du, Juan? Was hast du jetzt vor?«
Ich betrachtete eine Weile die vergilbte Ansichtskarte, auf der ein feinsandiger Meeresstrand unter Palmen zu sehen war.
»Ich denke gerade über den Tod nach, Arregui. Vielleicht ist Sterben gar nicht so übel, wie immer behauptet wird.«
Und jetzt bin ich hier und blicke auf die Postkartenidylle.
Sie ist nicht vergilbt, nein, das Meer ist türkisfarben und voller goldener Sonnenreflexe.
Ich lasse es mir richtig gutgehen auf dieser Insel, deren Name nichts zur Sache tut. Ich gehe spazieren, trinke weißen Rum und sehe den jungen Mädchen zu, wenn sie splitternackt in den Buchten baden. Hier laufen viele nackt herum, aber ich trage meistens eine Badehose, weil ich mich geniere.
Seit der Geschichte auf dem Campingplatz sind drei Monate vergangen; hierhergereist bin ich allerdings erst vor einer Woche, als ich mir ganz sicher war, dass sich meine Spuren mithilfe diverser Verkleidungen und falscher Pässe ganz verloren hatten.
Währenddessen ist kaum eine Woche vergangen, in der die europäische Presse nicht mit überraschenden Fakten zu den Machenschaften der FIRMA aufgewartet hat, und so habe ich auch erfahren, dass der unerbittliche Starrichter Gaspar Beltrán zusammen mit mehreren europäischen Kollegen ein grenzüberschreitendes Ermittlungsverfahren eingeleitet hat, um der Hydra ihre vielen Köpfe abzuschlagen.
Vor Kurzem las ich auf der Internetseite einer spanischen Tageszeitung übrigens auch ein Feature über die Karriere des mehrfach ausgezeichneten Polizeikommissars José María Arregui, der in diesen Tagen in den vorzeitigen Ruhestand geht und dem der König gerade noch irgendeinen Orden verliehen hat.
Ah, und noch etwas habe ich gelesen. Über den Newsletter einer Literaturzeitschrift hat man mich auf die Sensation des kommenden Weihnachtsgeschäfts aufmerksam gemacht: das Romandebüt eines mysteriösen sizilianischen Autors, der seine wahre Identität hinter einem so offensichtlichen Pseudonym wie Juan Pérez Pérez verbirgt und folglich spanischer Herkunft sein muss. So einen Allerweltsnamen hat nämlich kein Mensch. Nicht einmal mehr ich. Gut möglich, dass ich mir den Roman von Nummer Zwei irgendwann per Internet bestelle, denn vielleicht komme ich sogar darin vor. Und da ich schon mal von Debütromanen spreche: An jenem letzten Tag in Madrid packte ich auch den wattierten Umschlag in meine Reisetasche, den der alte Alberto in meinen Briefkasten gesteckt hatte. Vor ein paar Tagen habe ich den Roman ausgelesen; er gefiel mir ganz gut, auch wenn der Autor ziemlich durchgeknallt sein muss … aber das sind ja eigentlich alle Schriftsteller. Jedenfalls gab es in dem Roman eine Figur, deren Wahlspruch ein Satz war, der mir seither nicht mehr aus dem Kopf geht: Ein Soldat, der flieht, taugt noch für einen weiteren Krieg. Tja, und den setze ich gerade in die Tat um. Bloß dass ich keine Kriege mehr führen will. Nicht einmal mehr mit mir selbst.
Deshalb habe ich vorgestern auch Verbindung mit Beltrán aufgenommen. Er hat sich sehr gefreut, meine Stimme zu hören, und mir gleich Straffreiheit zugesichert, falls ich zurückkommen will und als Kronzeuge der Anklage in seinem Prozess auftrete. Ich habe jedoch dankend abgelehnt. Der Grund für meinen Anruf war ein völlig anderer.
Jetzt fährt der Starrichter an Weihnachten mit Leticia und den Kindern zuerst nach Brasilien, dann weiter nach Peru und vielleicht noch nach Buenos Aires. Ich habe schon die Tickets besorgt. Für uns fünf. Der Richter und meine Ex haben sich eine Hochzeitsreise verdient, und ich kann so mit den Kindern zusammen sein und für Beltrán gleichzeitig Bodyguard spielen. Er ist ein anständiger Kerl, der mit Leticia wunderbar klarkommt, und ich werde nicht zulassen, dass sie ihn im Urlaub umlegen.
Mehr habe ich hier auf der Insel nicht zu tun. Nur in aller Ruhe den einen oder anderen Cocktail trinken, so wie jetzt, und warten.
Warten, bis irgendwann ein Auto angefahren kommt, aus dem mein Mörder steigt oder jemand, der mir meine allerletzte Frage beantworten wird.
Bis zum Schluss werde ich nicht wissen, welche der beiden Möglichkeiten das Schicksal mir zugedacht hat, denke ich gerade, als ein Taxi vor der Terrasse des Hotels hält, fast neben meinem Tisch.
Ich rühre mich nicht.
Ein dunkelhäutiger Typ steigt aus und kommt, ohne zu zögern, auf mich zu, spricht mich mit dem Decknamen an, den ich hier benutze, und fordert mich auf, in den Wagen zu steigen.
Während der Fahrt wechseln wir kein Wort. Wozu auch, wie’s kommt, so kommt’s. Vor einer netten, unauffälligen Villa setzt er mich schließlich wortlos ab und fährt davon.
Ich gehe einen Schotterpfad entlang, der um das Haus herum zu einem Pool führt.
Dort werde ich erwartet.
Doch nicht von einer Bande von Killern.
Nur von einem einzigen.
Dem allerbesten.
Mit strenger Miene sieht er mir entgegen. Seine Wiedersehensfreude kann er dennoch nicht verbergen. Plötzlich muss er husten, worauf wie aus dem Nichts eine dunkelhäutige Krankenschwester im Minirock auftaucht und ihm eine Arznei verabreicht. Mit einem Klaps auf den Po schickt er sie wieder weg.
»Du bist echt nicht der Schnellste, mein Junge. Ich war die Warterei schon langsam leid.«
Im selben Moment erscheint ein anderes, ebenfalls leicht bekleidetes Mädchen mit einem Servierwagen, auf dem eine Flasche Rum und noch ein paar andere Getränke stehen. Die ehemalige Nummer Drei mixt uns einen Drink, und wir stoßen an. Er nippt nur an dem Glas, auch wenn er noch immer den Eindruck macht, als könne er eine Menge vertragen.
»Du hättest mich ruhig einweihen können, statt zuzulassen, dass ich dich umbringe«, sage ich endlich.
»Mann, ich musste doch dafür sorgen, dass sie mir auf den Leim gehen. Und ich konnte sie nur täuschen, wenn du den Job erledigst; bei jedem anderen hätte ich die Kugeln nicht durch Platzpatronen ersetzen können, der hätte sich nämlich vergewissert, dass ich wirklich abgekratzt bin. Außerdem muss jeder aus eigener Kraft aus dem Sumpf herausfinden, mein Junge. Wie du das anstellst, war deine Sache, ich konnte dir nur die Flügel dafür leihen. Und über die kannst du nun wirklich nicht meckern, Yolanda ist schließlich allererste Sahne.«
Verlegen wechsele ich schnell das Thema.
»Wusstest du, dass hinter allem Capitán gesteckt hat, der sich an mir rächen wollte?«
»Ja. Er hat mir schon vor Jahren ein Sümmchen geboten, damit ich dich umlege. Nicht viel, der einäugige Fettwanst war nämlich ein Geizkragen. Beim zweiten Mal hat er es deshalb mit etwas versucht, das mich sehr wohl interessiert hat: Information. Ich habe in den letzten Monaten viel Zeitung gelesen, mein Junge. Wir haben der FIRMA wirklich ordentlich an die Karre gepinkelt! Der Deal war, dass er mir diese ganze Scheiße besorgen würde, mit der ich meinen Ausstieg absichern konnte, wenn ich dich dafür umlege. Aber ich hatte eine bessere Idee. Und die war genial, findest du nicht?«
Abermals schüttelt ihn ein Hustenanfall.
»Wie viel Zeit bleibt dir noch?«, frage ich, kaum ist seine junge Krankenschwester mit dem Aerosolspray verschwunden.
»Ein paar Monate. Wenn überhaupt. Das Klima, der Rum und die Frauen hier sind ja echt spitze, aber die Ärzte machen allesamt den Eindruck, als hätten sie nicht viel Ahnung. Von Autos verstehen sie sicher mehr.«
»Weiß sie Bescheid?«
»Glaubst du, man könnte dieser Frau irgendwas verheimlichen? Ihr kannst du nichts vormachen …«
»Und wie hast du es geschafft, sie rechtzeitig auf den Campingplatz einzuschleusen?«
»Der Dicke wusste, dass mein Tod fingiert war, und hat mich informiert, wann und wo das Ganze steigen soll. Er hat ja immer noch geglaubt, dass ich mich an unsere Abmachung halte. So konnte ich ihm leicht den Bären aufbinden: Wenn der von der FIRMA beauftragte Killer es nicht schaffte, dich zu beseitigen, würde sich meine Tochter darum kümmern.«
»Yolanda ist deine … Tochter?«, stammele ich völlig perplex. »Dann ist sie nicht deine Frau?!«
Prustend lacht er los, verschluckt sich fast, worauf er wieder husten muss.
»Du bist echt schwer von Kapee, Junge«, japst er. »Glaubst du im Ernst, ich hätte einem Ladykiller wie dir meine Frau geschickt?«
Ich antworte nicht, denn ich bin ganz damit beschäftigt, im Garten nach ihr Ausschau zu halten.
»Sie ist nicht hier, du Herzensbrecher.« Er lacht amüsiert. »Außerdem bist du doch meinetwegen hergekommen, oder etwa nicht?«
Wortlos nicke ich, worauf er sich in seinem Korbsessel zurücklehnt und in aller Ruhe Erinnerungen an unsere gemeinsamen Aufträge wachruft und Anekdoten erzählt, die Teil seiner eigenen Geschichte sind.
Ich höre ihm nur mit halbem Ohr zu.
Ich habe eine Entscheidung getroffen: Ich werde auf der Insel bleiben und ihm bis zu seinem Tod Gesellschaft leisten.
Und dann gehe ich.
Ich weiß nicht, wohin.
Aber ich verschwinde, so viel ist sicher.
Plötzlich bricht die alte Nummer Drei jedoch mitten im Satz in so schallendes Gelächter aus, dass es sich anhört, als würde er aus dem letzten Loch pfeifen. Ich springe auf, um ihm auf den Rücken zu klopfen – da gibt er mir fast zärtlich eins auf die Nuss: Für einen Todkranken ist er noch erstaunlich gut bei Kräften.
»Na geh schon, du Esel«, brummt er, als er wieder Luft bekommt, und deutet auf einen schmalen Pfad, der sich zwischen den Palmen verliert.
Ich laufe los, werde immer schneller, als ich am Ende des lichten Hains das Meer erahne.
Und dann sehe ich sie: Mitten auf dem ansonsten menschenleeren Strand, in einem leichten, bunten Kleid, blickt sie mir entgegen.
Yolanda.
Die Sonne der letzten Monate hat sie gebräunt, und sie ist noch schöner als vorher.
»Hallo, Juan«, begrüßt sie mich schüchtern. Sie ist genauso nervös wie ich und weicht meinem Blick aus. »Ich konnte es dir nicht sagen, ich …«
Sanft lege ich ihr zwei Finger auf die Lippen.
»Pst, das ist jetzt egal. Wichtig ist nur eins: Willst du immer noch mehr?«
»Ja natürlich«, flüstert sie. »Und du?«
»Ich auch«, entgegne ich lächelnd. »Sag, bist du schon mal in Brasilien gewesen? Oder in Peru? Oder in Buenos Aires?«
»Nein, aber ich würde wahnsinnig gern Tango tanzen lernen. Bringst du es mir bei?«
»Mit Vergnügen. Allerdings wirst du dich hinten anstellen müssen.«
Das versteht sie nicht, aber es ist ihr auch egal. Strahlend sieht sie mich an, und dann rennt sie los, ins Wasser, streift noch im Laufen ihr Kleid ab.
Ich gehe ihr langsam nach.
»Dein Problem ist, dass du gern schwimmst, dich dabei aber nicht nass machen willst, mein Junge«, hat die alte Nummer Drei früher immer zu mir gesagt.
Ich ziehe mich aus und werfe meine Kleider weit von mir, in die Wellen, damit sie sie forttragen.
Ich habe nicht vor, noch mal jemanden umzubringen.
Und so schnell ziehe ich mich auch nicht wieder an.
Ich will nur noch schwimmen.
Und mich dabei so nass machen, wie es nur irgend geht.