15
Tony ist nicht in der Bucht. Und auch nicht in der Cafeteria. Er wird das Warten leid gewesen sein und denken, dass ich mich mit Yolanda irgendwohin verkrümelt habe, wo wir ungestört sind. Während ich mich seinem Stellplatz nähere, deutet nichts darauf hin, dass er in seinem Wohnwagen zu finden ist.
Obwohl, stopp … es gibt doch Anzeichen von Leben.
Ein leichtes, aber deutliches Schaukeln des Gefährts warnt mich davor, hier einen Fauxpas zu begehen. Tony und Sofía nutzen wohl die allgemeine Mittagsruhe für ein Schäferstündchen. Ich könnte mich also da drüben an den Baum lehnen und eine Zigarette rauchen, bis sie fertig sind. Oder einfach später wiederkommen.
Warum bleibe ich dann trotzdem wie angewurzelt stehen, nur zwei Schritte vom Wohnwagen entfernt, wie ein Jäger auf der Pirsch?
Weil es drinnen vollkommen still ist. Zwar ist die Tür geschlossen und die Vorhänge sind zugezogen, die Fenster sind jedoch offen – und kein Stöhnen, nicht einmal ein Seufzer ist zu hören. Nur die Stoßdämpfer wippen auf und ab. Tony ist dick genug, um diese Bewegung auszulösen, aber er müsste eigentlich vor Anstrengung keuchen. Selbst wenn er unter Sofía liegt … Ich schüttele den Kopf: Ich lerne wirklich nichts aus meinen Fehlern. Offenbar ist Sixty-nine bei den FKKlern einfach groß in Mode.
Nichtsdestotrotz spähe ich durch den schmalen Spalt zwischen Vorhang und Alurahmen in die kleine Küche des Wonwagens. Ich kann jedoch nur den Rücken einer Frau erkennen. Einen muskulösen, langen Rücken, der sich rhythmisch auf und ab bewegt. Vorsichtig schiebe ich den Vorhang ein wenig beiseite, und da sehe ich Tonys Gesicht, hochrot und schwitzend – weil er eine Plastiktüte über dem Kopf hat und Sofía ihm erbarmungslos die Gurgel zudrückt.
Ich überlege nicht, ich handle. Ich renne die Tür ein, stürme den Raum, stürze mich auf Sofía. Etwas in Tonys Miene verzögert den tödlichen Hieb ins Genick der Frau, die herumgeschnellt ist und mir, in einer fremden Sprache schreiend, einen Faustschlag aufs linke Auge versetzt, während meine Handkante auf ihrer Schläfe landet. Mein Hieb hat jedoch nicht die nötige Wucht, um sie bewusstlos zu schlagen, und so will ich nachlegen, doch Tonys Finger, die sich in meinen Arm krallen, verhindern es. Ich reiße ihm die Tüte vom Kopf. Nach Luft japsend schüttelt er mit einem Blick auf Sofía vehement den Kopf, die mich hasserfüllt anstarrt, während sie sich die Schläfe massiert.
Zu meiner Überraschung muss Tony schallend lachen, als er wieder zu Atem gekommen ist, und nach kurzem Zögern tut Sofía es meinem Freund gleich. Da geht mir auf einmal ein Licht auf und schnell stimme ich in ihr Gelächter ein, die Hand auf meinem linken Auge, das heftig pocht und allmählich zuschwillt. Ich entschuldige mich bei Sofía. Jeder kann schließlich Sex in der Spielart praktizieren, die ihm am meisten gefällt, und wenn den beiden so was Spaß macht, dann ist das ihre Sache. Zwar ist sie mir nach wie vor suspekt, aber ich glaube nicht, dass sie zu denen gehört, die dabei leicht die Kontrolle verlieren und ihre Liebhaber erwürgen … Außer, sie legt es darauf an.
Eigentlich will ich mich jetzt schnellstmöglich verdrücken, doch Tony will davon nichts hören und lässt Sofía den Erste-Hilfe-Kasten hervorkramen und mir einen Verband übers Auge kleben.
»Jetzt sind wir endlich zwei Piraten«, erklärt er lachend und deutet auf seine Augenklappe.
»Tut mir echt leid, Tony«, stammele ich. »Es ist nur … gestern meintest du, du würdest bedroht, und als ich Sofía sah, dachte ich …«
Sofía beherrscht sich mit Mühe, was aber nur ich registriere. Sie hat inzwischen Bier aus dem Kühlschrank geholt und leert ihre Flasche auf einen Zug. Sie ist wütend, auch wenn sie vor Tony so tut, als amüsiere sie das Missverständnis. Weil es sie wurmt, dass Tony doch nicht so wehrlos ist, wie sie dachte?
Mein Freund will ihr jetzt ein paar Anekdoten aus unserer Kindheit erzählen, sie erhebt sich jedoch und verschwindet in Richtung Pool unter dem Vorwand, nach dem heißen Gefecht ein wenig Abkühlung zu brauchen.
»Gott, wie peinlich …«
»Vergiss es, Juan. Es kommt dir wahrscheinlich komisch vor, aber so was törnt mich einfach an. Und Sofía auch.«
»Seid ihr schon lange zusammen?«
»Drei Monate. Wir haben uns übers Internet kennengelernt, über eine Website für Leute, die auf so was stehen …«
»Ich dachte …«
»… dass sie ein Callgirl ist und es auf mein Geld abgesehen hat? Nein, so ist es nicht. Ich habe zu Hause Spiegel, Juan, viele Spiegel, es ist eine sehr große Villa. Und ich bin nicht blöd. Sofía hatte auf der Internetplattform selbst eine Anzeige geschaltet. Wir haben zuerst lange gechattet und uns erst dann irgendwann getroffen. Wahrscheinlich denkst du, dass sie sich von mir aushalten lässt, auch wenn du das nie sagen würdest, aber tatsächlich mache ich ihr nur hin und wieder ein Geschenk, so wie das Auto oder solche Sperenzchen wie den Urlaub hier. Weißt du, sie hat Informatik studiert. Sie verdient sehr gut als freiberufliche Programmiererin und hat mehrere Jahre in Deutschland gearbeitet; wie du gehört hast, spricht sie Deutsch, wenn sie sich vergisst, und …«
Ich nicke und reime mir aus seinem Wortschwall das zusammen, was mich interessiert. Angefangen damit, dass die Schimpfkanonade, die sie bei meinem triumphalen Auftritt vorhin losließ, nicht auf Deutsch war, sondern auf Ungarisch, und es ziemlich ungewöhnliche Flüche für eine Programmiererin waren. Dann die drei Monate: Ein durchaus annehmbarer Zeitraum. Ich selbst bin schon mal zwanzig Wochen vorher für einen Auftrag eingeschleust worden, und die frühere Nummer Drei hat mir erzählt, dass er einmal fast ein Jahr lang in einer idiotischen Verkleidung einen Auftrag vorbereitet hat, der am Ende abgesagt wurde. Ein weiterer Punkt, der zu bedenken ist, ist die Geschicklichkeit, mit der sie meinen Handkantenschlag abgewehrt hat. Das kann Zufall sein, was ich aber nicht glaube. Denn auch die Schnelligkeit, mit der sie die Situation wieder im Griff hatte, spricht für ein Training der FIRMA …
»Kommst du, Juan?«
Ganz in meine Gedanken versunken habe ich nicht gemerkt, dass Tony inzwischen draußen alles hergerichtet hat, damit wir uns bequem unterhalten können, und ich staune über die Leckerbissen, die er aus dem Kühlschrank gezaubert hat. Ich habe mehr Hunger, als ich dachte. Und mehr Durst.
»Trotzdem vielen Dank, Juan«, sagt er nun und prostet mir mit einem neuen eisgekühlten Bier zu. »Wenn ich doch nur dasselbe einmal für dich tun könnte …«
»Was? In einen Sado-Maso-Fick reinplatzen?«
»Nein, ich meine, dich aus einer bedrohlichen Situation retten. Falls Sofía mich wirklich hätte erwürgen wollen.«
»Das ist ja nicht der Fall gewesen …«
»Nein, ist es nicht. Aber glaub bloß nicht, ich hätte ihr anfangs nicht misstraut. Und diese Zweifel waren ziemlich lästig, denn man sollte sich nicht in jemanden verlieben, dem man nicht rückhaltlos vertraut.«
»Wem sagst du das!«, erwidere ich wie aus der Pistole geschossen.
Tony wirkt ruhig, entspannt, fast glücklich. Etwas hat sich seit gestern verändert, doch ich habe keine Ahnung, was.
Er bemerkt meine Verwunderung und lächelt.
»Es ist alles wieder in Ordnung, Juan. Heute Morgen hat mein Kompagnon angerufen. Wenn ich wieder in Madrid bin, verkauft er mir seinen Anteil. Zu einem vernünftigen Preis.«
»Und was ist mit seinen Drohungen? Und deinen Autounfällen?«
»Er hat sich dafür entschuldigt; er habe leider ein großes Maul, und sein Temperament sei mit ihm durchgegangen. Und das mit den gescheiterten Anschlägen auf mein Leben habe ich mir vielleicht nur eingebildet.« Tony zuckt die Schultern und strahlt dann übers ganze Gesicht. »Aber nicht allein deswegen bin ich so glücklich, Juan. Ist dir klar, dass ich jetzt keinen Grund mehr habe, an Sofía zu zweifeln?«
Ich verkneife mir die Bemerkung, dass er jetzt womöglich noch mehr Gründe hat als vorher. Der Kompagnon hat noch nichts unterschrieben, und bis Tony wieder in Madrid ist, kann viel passieren. Falls er Vorsichtsmaßnahmen ergriffen hatte, wird er jetzt leichtsinnig werden und so eine leichtere Zielscheibe sein. Zudem beunruhigt mich die Sache mit den gescheiterten Anschlägen. Wir scheitern nicht. Wir jagen unseren »Kunden« auch keinen Schrecken ein. Wir bringen sie einfach um.
All das kann ich meinem alten Freund jedoch nicht erzählen, dem ich nun versprechen muss, sein Trauzeuge zu sein, wenn Sofía seinen Heiratsantrag annimmt. Sobald er mit seinem Kompagnon im Reinen ist, will er sich mit ihr verloben. Vorher will er jedoch noch ein großes Essen organisieren, mit deiner ganzen Sippschaft. Denn er weiß von Yolanda. Und dass ich mit den Kindern hier bin. Und dass meine Ex mit dem Richter neben uns zeltet. Und er weiß auch, dass sie die Vorbesitzerin seines Wagens ist.
»Sofía hat deine Frau gestern auf der Party wiedererkannt. Ist das nicht irre, Juan? Und da heißt es immer, die Welt wäre so groß …«
Ich gebe ihm recht. Die Welt ist wirklich klein. Wenn nicht sogar zu klein.
Und sie ist zudem voller seltsamer Zufälle.
Resümee der beiden letzten Stunden: vier vergebliche Versuche, die
Lage zu überdenken, fünf ebenso vergebliche Anrufe bei der FIRMA,
sechs Anfälle von Argwohn in Bezug auf Yolanda und sieben
Erektionen.
Und mir steht ein Vater-Sohn-Gespräch bevor, das für einen Moment alle anderen Sorgen verdrängt.
Als ich zu unseren Zelten zurückkehre, sitzt Antoñito allein am Wegrand.
Verdutzt stelle ich fest, dass er sein Nintendo nicht in der Hand hat, mit dem man ihn sonst immer und überall antrifft. Er scheint über etwas nachzudenken, einfach so.
Was mich aber am meisten wundert, ist, dass Antoñito sich über eine mütterliche Anweisung hinweggesetzt hat. Alle Camper scheinen sich an den von Leticia ausgegebenen Mittagsruhe-Befehl zu halten. Alle – bis auf mich und meinen Sohn. Und das signalisiert mir, dass hier etwas Außergewöhnliches vor sich geht.
»Kann ich mal mit dir reden, Papa?«, sagt er und springt auf. »Was hast du mit deinem Auge gemacht?«
»Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?«
»Die erste«, erwidert er mit einem Ernst, der keinen Aufschub duldet.
Ich nicke, und wir gehen in die Cafeteria. Zwei Kugeln Eis für ihn, Kaffee für mich. Und zwei Aspirin.
»Jetzt sehe ich aus wie ein Pirat, stimmt’s, Antoñito? Zumindest fast …«
»Ja, Papa, fast.«
Ich schrecke zusammen. Nicht wegen des Tonfalls, der noch ganz kindlich ist und dem gleicht, den Leti mir gegenüber anzuschlagen pflegt, sondern wegen der Erkenntnis, dass ich automatisch wieder zu Juanito Pérez Pérez geworden bin, dass ich, wenn ich mit meinem Sohn spreche – was selten genug der Fall ist –, mich hinter Juanito verstecke, als wäre seine Persönlichkeit ein Luftschutzbunker, der mir Schutz bietet, wenn ich vom Leben bombardiert werde.
Und ich schrecke noch mal zusammen, nun schon zum wiederholten Mal in den vergangenen Stunden, als mir klar wird, dass ich den Wechsel zwischen meinen beiden Persönlichkeiten nicht mehr bewusst vollziehen kann. Und das ist besorgniserregend.
Noch besorgniserregender ist allerdings Antoñitos Gesichtsausdruck, der mich schweigen lässt, bis die Bedienung unsere Bestellung gebracht hat.
»Sind wir immer so, Papa?«, fragt er dann mit ernster Miene. »Oder können wir auch anders?«
»Wer, wir?«
»Na wir. Die Männer in unserer Familie.«
Trotz seiner jungen Jahre klingt das Wort »Männer« aus seinem Mund nicht zu gewaltig.
»Was meinst du mit anders, Antoñito?«
»Kann ich dir ein Geheimnis anvertrauen?«
»Klar.«
»Ich hasse es, wenn man mich Antoñito nennt. Das finde ich überhaupt nicht lustig, Papa. Ich halte meistens den Mund, weil ich nicht weiß, was ich sagen soll, aber wenn jemand mich Antoñito nennt, ist es, als würde er mich nicht ernst nehmen … Verstehst du das?«
»Ja natürlich. Aber warum hast du dich nicht schon eher darüber beschwert?«
»Wozu? Es würde doch sowieso niemand auf mich hören … Außer vielleicht Sven.«
»Sven?«
»Ja. Der Bademeister. Er ist sehr nett zu mir. Er hat mir beigebracht, vom Sprungbrett zu springen, und stellt mir viele Fragen über dich, Mama und Gaspar. Allerdings nennt er mich auch Antoñito, weil Leti mich ihm so vorgestellt hat. Wenn ich es ihm aber sagen würde, würde er mich bestimmt verstehen. Ich traue mich bloß nicht …«
Sven.
Darum kümmere ich mich später. Jetzt nicht. Schweigend denken wir eine Weile über das Thema nach, während der Kaffee und das Aspirin mich munter machen und das Eis meines Sohnes zu einem See von undefinierbarer Farbe zerschmilzt.
»Weißt du was?«, sage ich schließlich. »Mich nervt es auch, dass mich alle Welt Juanito nennt.«
Doch statt uns näherzubringen, wie ich mir das eigentlich erhofft hatte, trennt uns das Eingeständnis. Und ich ahne auch, warum, plötzlich ist es mir klar. Die Strafe, die ich mir damals nach dem Unfall hinter der Schule auferlegt habe, hat sich auch auf diejenigen ausgewirkt, die ich liebe: Leticia, die sich betrogen fühlte, weil sie sich in einen Piraten verliebt hatte, aber mit einem mittelmäßigen Pharmavertreter zusammenleben musste; meine Tochter, die das getreue Abbild ihrer Mutter ist und folglich dieselben Abneigungen und Sehnsüchte hat; und meinen Sohn, weil sein Vater ihm kein leuchtendes, sondern nur ein bemitleidenswertes Vorbild ist. Wenn ich tatsächlich bloß Juanito Pérez Pérez wäre, dann müsste er sich damit abfinden. Aber ich bin nicht so. Nur: Wie bin ich wirklich?
»Komm mit, Antonio«, sage ich deshalb entschlossen und stehe auf.
Wortlos folgt er mir, und erst als ich am anderen Ende des Campingplatzes den schmalen Pfad einschlage, der hoch zu dem schroffen Felsrücken führt, fragt er, wohin wir eigentlich gehen.
»An einen geheimen Ort, Antonio. Jeder Mann braucht so einen. Und wahrscheinlich auch jede Frau, aber da bin ich mir nicht ganz so sicher.«
Obwohl ich oben auf dem Felsvorsprung die gleiche Nummer mit ihm abziehe wie Camilleri ein paar Stunden zuvor mit mir, kommt es mir so vor, als sehe ich die Höhle zum ersten Mal.
Gemeinsam mit meinem Sohn. Mit Antonio.
Aufgeregt klettert er vor mir hinauf aufs Plateau und erkundet die Höhle. Er scheint zu wissen, was es mit diesem Ort auf sich hat, denn noch bevor ich etwas sage, setzt er sich auf den großen Stein in der Mitte und lässt mir neben sich Platz.
»Dieser Ort hier, Antonio, ist jetzt dein Geheimnis. Erzähl nur demjenigen davon, der etwas Besonderes für dich ist. Etwas ganz, ganz Besonderes.«
»Und woher weiß man das, Papa?«
»Das weiß man nicht, Antonio, das spürt man. Manchmal täuscht man sich allerdings auch.«
Danach reden wir eine geraume Weile kein Wort und schauen aufs Meer hinaus. Bis ich ihn ansehe und etwas frage, obwohl ich die Antwort längst kenne.
»Wie sind wir, wenn wir anders sind, Antonio?«
»Das weißt du, Papa, du musst es wissen. Gestern Abend, als ich mit einem Haufen Kinder draußen auf der Terrasse spielte, habe ich auf einmal gemerkt, dass bei euch Erwachsenen was Besonderes los ist. Die Leute hatten einen Kreis um jemanden gebildet und applaudierten begeistert. Weil ich auch sehen wollte, was sie so bewunderten, hab ich mich ins Restaurant geschlichen und unauffällig nach vorn gedrängelt. Und da sah ich dich. Du hast mit Yolanda getanzt. Aber das warst nicht du … Oder vielleicht ja doch … Ich habe es echt nicht verstanden, Papa.«
»Du hast es sehr wohl verstanden, Antonio. Weil du dich auch hin und wieder so fühlst.«
Er sieht mich überrascht an, noch viel überraschter als bei der Entdeckung der Höhle, und nickt dann bedächtig.
»Ja, du hast recht. Wenn auch nicht oft. Wenn wir in der Schule Fußball spielen. Oder wenn ich ohne Leti neue Kinder kennenlerne, die nichts von mir wissen. Dann überkommt mich manchmal das Gefühl, dass ich tausend Tore schießen, mich mit dem Größten von allen prügeln oder das Mädchen ansprechen kann, das mir gefällt«, sagt mein Sohn mit leuchtenden Augen und seufzt dann auf. »Ich weiß bloß nicht, wie ich’s anstellen soll.«
»Genau so, wie es dir dein Gefühl sagt, mein Junge.«
»Aber es ist, als dürfte ich das gar nicht, weißt du? Schließlich verspricht sich niemand irgendwas von mir. Und außerdem: Was, wenn es schiefgeht?«
»Dann wird es noch andere Tore geben, auf die du zielen kannst, Prügeleien mit anderen Jungs und womöglich noch tollere Mädchen. Immer. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt, Antonio. Du hast mich vorhin nach den Männern in unserer Familie gefragt. Ich habe meinen Vater nie kennengelernt. Ich weiß nur ein paar Dinge, die man mir von ihm erzählt hat, nichts, was er selbst erlebt hat. Als Kind wäre ich jedenfalls auch gern stolz auf ihn gewesen, ich hätte zu gern den großartigsten, mutigsten Papa von allen gehabt. Aber er war nicht da.«
»Du bist schon hin und wieder da«, sagt er, ohne mich anzusehen. »Aber ich habe nichts davon.«
Was soll ich darauf erwidern, wie ihm erzählen, was ich mir selbst nicht eingestehe? Am besten bin ich still und betrachte die Wolken und das Meer. Soll mein Schweigen doch die Antwort sein …
Aber ich entscheide mich anders.
Wie lange habe ich von Tony, von der Baulücke hinter der Schule,
vom Retiro geredet? Ich weiß nur, dass ich ihm nichts von meinem
zweiten Beruf erzählt habe, das verhindert unser mentales Training,
bestimmte Wörter unterbinden jegliches Geständnis, das unter der
Einwirkung von Drogen, Alkohol oder Hypnose von uns erzwungen
werden könnte. Wir Killer der FIRMA können nur mit voller Absicht
gestehen. Aber es würde uns eh niemand glauben.
Doch auch so sind meine Worte bei meinem Sohn angekommen, er sieht mich anders an, mit neuem, verändertem Mitgefühl. Er bedauert nun nicht mehr Juanito, der ihm eine schreckliche eigene Zukunft vorlebt. Jetzt bedauert er Nummer Drei, ohne zu wissen, wer er wirklich ist oder was er getan hat.
»Das hab ich nicht gewusst, Papa.«
»Das ist nun unser Geheimnis, mein Sohn, so wie diese Höhle. Aber ich muss noch auf deine Frage antworten, deine eigentliche Frage: Ja, Antonio, man kann auch anders sein. Irgendwann wird der Tag kommen, an dem es in dir zu eng wird für die beiden Antonios und du dich entscheiden musst. Du ganz allein. Deshalb habe ich gestern Abend so getanzt, deshalb Yolanda – und deshalb auch zum Teufel mit dem Handy und den Befehlen anderer Leute. Von nun an entscheide ich. Ich allein.«
Mein Sohn nickt gewichtig, er glaubt mir, obwohl er meine letzten Sätze sicher nicht begriffen hat. Voll Stolz, dass sein Vater sich ihm anvertraut hat, steht er auf und reicht mir die Hand.
»Weißt du was, Papa?«, sagt er, während wir den Felsrücken hinunterklettern, »ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du es schaffen wirst.«
Wenn ich mir da nur auch so sicher wäre wie mein kleiner Sohn.