04

 

»Dein Problem ist, dass du gern schwimmst, dich dabei aber nicht nass machen willst«, sagte die ehemalige Nummer Drei des Öfteren zu mir. Auf seine Weise mochte er mich. Eine Weise, die ziemlich beschissen war.

Er warb mich an und brachte mir das Töten bei.

Und er war es auch, der mir erklärte, dass man ein schlechter Schütze sei, wenn man zweifele, weil die Kugeln das spüren würden.

Er hatte so viele Leute umgebracht, dass er, als er selbst an der Reihe war, noch die Professionalität seines Mörders benotete.

»Neun…ein…halb Punkte von … zehn …«

Das waren seine letzten Worte.

Ich weiß das, weil ich ihn selbst erschossen habe.

Manchmal vermisse ich ihn.

Er legte den Finger gern in die Wunden und war ein ausgefuchster Killer, dem absolut nichts entging.

»Töten, mein Junge, töten kann jeder. Die wahre Kunst besteht darin, einen kühlen Kopf dabei zu bewahren. Wer eine wilde Lust verspürt und einen Steifen kriegt, wenn er jemanden abknallen kann, ist kein guter Killer. Weil dann Gefühle mit im Spiel sind, verstehst du?«

»Du meinst ein körperliches …«

»Nein, nein, ich meine eine seelische Regung, Nummer Dreiunddreißig. Wenn ich einen Steifen kriege, bricht meine Frau in Tränen aus.«

Dreiunddreißig war damals vermutlich meine Position in der Rangordnung der FIRMA, manchmal nannte er mich aber auch spöttisch »Doc«, in Anspielung auf mein abgebrochenes Medizinstudium.

Zum Arzt habe ich es nämlich nie gebracht.


An jenem Abend, als ich Leticia kennenlernte, vernarrte ich mich sofort in ihre unbeschwerte, überschäumende Lebensfreude. Und natürlich in ihren Hintern, an dem ich mich nicht sattsehen konnte.

Ich lernte sie in einer Diskothek in einer dieser Vorstädte von Madrid kennen. Obwohl mehrere Mädchen mich umschwirrten, da ich am Nachmittag die Meisterschaft im Scheibenschießen gewonnen hatte, saß ich allein an der Theke. An diesem Abend fühlte ich mich jedoch anders als sonst: Ich war seltsam erregt. Wahrscheinlich wegen der Glückshormone: Zum ersten Mal seit langem hatte mich ein Sieg wieder berauscht, auch wenn ich es nicht zeigte. Deshalb trank ich. Beobachtete die Leute. Trank immer weiter.

Ich sah Leticia und den Blonden nicht kommen. Der Blonde war ebenfalls betrunken und zudem stinkwütend. Es war seine Heimatstadt, und er war als Favorit in den Wettkampf gegangen, aber als er sah, wie mühelos ich ihn überflügelte, ärgerte ihn das so, dass er mehrmals danebenschoss und zum Schluss gerade mal Sechster wurde.

»Sechster zu werden ist wirklich das Letzte!«, schrie er das Mädchen mit dem wundervollen Hintern an diesem Abend nun ein ums andere Mal an und verdrehte ihr dabei grob den Arm, weil sie versuchte, sich aus seiner Umklammerung zu befreien, während seine Kumpel so taten, als würden sie es nicht bemerken.

Und da geschah es: Die Theke der Disko verwandelte sich für mich plötzlich in das Deck eines Zweimasters und der Blonde in einen widerlichen englischen Offizier. Von hinten packte ich ihn an der Hand, sodass er sich zu mir umdrehen musste. Voller Verachtung sah er mich an – worauf ich ihm von meinem Barhocker aus einen solchen Kinnhaken verpasste, dass er nach hinten fiel. Sogleich stürzte sich einer aus seiner Clique auf mich, den ich mit einem kräftigen Tritt in die Eier außer Gefecht setzte. Beim nächsten verlor ich allerdings das Gleichgewicht, sodass ich mich an ihn klammern musste, um nicht zu Boden zu gehen. Ich war echt ziemlich besoffen.

Weil einige sich dann auf meine Seite schlugen, hielten sich die Kräfte bei der darauffolgenden Massenschlägerei jedoch in etwa die Waage. Leticia zufolge war ich von einem zum anderen geflogen und hatte, dreckig lachend wie ein Freibeuter beim Kapern eines englischen Schiffes, mit meinen Fäusten und mit Flaschen heftig ausgeteilt.

Das hatte sie zumindest früher immer behauptet, wenn wir auf die Schlägerei zu sprechen kamen, von der ich selbst nicht mehr viel wusste.

Das letzte Mal, dass sie mir das in Erinnerung gerufen hat, ist allerdings schon Jahre her.

Der Rest steht mir noch klarer vor Augen: Leticia, die mich gerade noch rechtzeitig aus dem Gewühl rausholte und nach draußen zerrte, bevor die Polizei anrückte; die Wohnung einer Freundin, wo wir uns zum ersten Mal liebten, und zum zweiten und zum dritten Mal, bis wir in dieser Nacht nicht mehr mitzählten; das Gefühl, alles um mich herum würde schwanken, wie es einem eben geht, wenn man auf hoher See ist und alle Segel gesetzt hat.

Leticia war die Tochter eines Halbgotts in Weiß, eines berühmten Chirurgen, der seine Praxis in jener Kleinstadt aus purer Sentimentalität behalten hatte, selbst aber schon lange in den besten Madrider Kliniken arbeitete.

Der Blonde, dem ich die Fresse poliert hatte, war Leticias Freund und studierte im zweiten Jahr Medizin.

Heute ist der Blonde ein angesehener Neurochirurg.

Ich hingegen brachte es nur bis zum Pharmareferenten.

Oder so was Ähnlichem.


»Dein Problem ist, Doc, dass du gern schwimmst, dich dabei aber nicht nass machen willst«, sagte die frühere Nummer Drei immer zu mir. »Wenn du jemanden ins Jenseits beförderst und es anschließend bereust, bist du wie eine Hure, der die Tränen kommen, nachdem sie kassiert hat. Ein guter Killer muss jedoch alles um sich herum vergessen und sich ganz auf seine Kugel konzentrieren. Okay, die Zielscheibe bewegt sich. Aber es ist nur eine Zielscheibe. Wenn du anfängst, darüber nachzudenken, ob sie vielleicht Familie hat, schießt du garantiert daneben. Und das macht es für die Zielscheibe nur noch schlimmer: Da sie nun mal dran glauben muss, stirbt sie entweder einen langsamen, qualvollen Tod, oder du musst ihr noch eine zweite Kugel in den Kopf jagen. Nein, das Beste ist, sich nicht ablenken zu lassen, zu zielen und es kurz und schmerzlos zu machen.«

»Und wo liegt mein Schwachpunkt?«, fragte ich ihn einmal.

»Du hast keinen, mein Junge, das ist ja das Schlimme. Du triffst eine Fliege noch auf hundert Meter Entfernung mitten in die Eier. Aber ich sehe dein Gesicht, kurz bevor du abdrückst. In dem Moment bist du nicht mehr du selbst, so als würde der Finger am Abzug einem anderen gehören. Und das kann böse enden, Nummer Dreiunddreißig. Man kann nicht schwimmen, ohne sich nass zu machen. Du zielst, denkst, gleich wird er umkippen und nicht wieder aufstehen, und schießt. Und er fällt tot um. So einfach ist das.«


Wenn man ein anderer sein will als der, der man ist, oder wieder der werden will, der man einmal hätte sein können, zieht man am besten in eine fremde Stadt. Bereits zwei Monate nachdem ich Leticia kennengelernt hatte, lebte ich in Madrid und hatte mich für Medizin eingeschrieben. Es war ganz einfach. Auf einmal war ich wieder der brillante, von allen bewunderte junge Mann, den alle mochten: die Dozenten, die Kommilitonen, ja sogar Leticias Vater.

»Dieser junge Mann wird es noch weit bringen«, sagte er zu seiner Tochter, als sie mich ihm vorstellte.

Leticias Vater verschenkte kein Lob. Nie.

Die Prüfungen am Ende des erstes Studienjahrs bestand ich mit guten Noten. Ich wollte gerne glauben, dass die Medizin mein Ding war. Dass ich dazu geboren war.

»Manche Menschen sind einfach dazu bestimmt, Menschenleben zu retten, und du bist einer davon«, sagte Leticias Vater damals.

Wenn der wüsste.

Im zweiten Jahr setzte sich mein vielversprechender Start fort, und Leticias Vater legte uns nahe, zu heiraten; dann könne er auch das Studium seines Schwiegersohns finanzieren, meinte er, es sei nämlich ein Jammer, dass ein so brillanter Kopf nebenher jobben müsse, anstatt sich auf seine Karriere zu konzentrieren.

»Betrachte es als Investition«, sagte er und klopfte mir väterlich auf die Schultern.

Das dritte und vierte Jahr absolvierte ich daraufhin mit Auszeichnung, im fünften – unsere Tochter war soeben zur Welt gekommen – ging ich jedoch von der Fakultät ab und begann als Vertreter für ein großes Pharmaunternehmen zu arbeiten. Und das, obwohl ich eigentlich vorgehabt hatte, mich hinter mein Studium zu klemmen und mich vorzeitig zu den Prüfungen der höheren Semester anzumelden.

Mein Entschluss kam für alle völlig unerwartet. Leticia suchte in meinen Augen zwar noch nach dem Piratenkapitän, in den sie sich fünf Jahre zuvor verliebt hatte, doch vergeblich – von heute auf morgen war aus dem Überflieger wieder der unscheinbare Durchschnittstyp geworden, dem die Supermami heute Mittag im Fahrstuhl gegenübergestanden hat.

Seit dem unglücklichen Zweikampf hinter der Schule waren zehn Jahre vergangen.

Ich hatte Tony in der medizinischen Fakultät wiedergetroffen.

Er trug eine Klappe über dem Auge.

Ich hätte schwören können, dass es noch immer dieselbe Klappe war.


»Dein Problem ist, dass du gern schwimmst, dich dabei aber nicht nass machen willst«, sagte die ehemalige Nummer Drei immer zu mir. »Du bist der einzige Mörder, den ich kenne, der noch Scham besitzt. Nur ist die völlig fehl am Platz, mein Junge, denn unser Geschäft ist der Tod. Und dabei geht es unweigerlich um die nackte Existenz, genau wie im Leben.«

Ich hatte ihn gerngehabt, die alte Nummer Drei. Aber wenn ich ihn nicht damals, als es mir befohlen wurde, umgebracht hätte, müsste ich es jetzt tun.

Damit er endlich aufhört, sich über mich lustig zu machen.

Denn wir sind am Ziel, bald wird es hell, und der Ort, zu dem sie mich geschickt haben, um die nächste Todeskandidatin zu observieren, ist ein FKK-Camping.


Die Kinder schlafen tief und fest. Ich fahre auf den Besucherparkplatz. Der Campingplatz wirkt wie ein Waldstück mit riesigen bunten Pilzen, und ich könnte schwören, dass ich von hier aus die FKK-Zwerge, die sie bewohnen, rhythmisch schnarchen höre. Ob Nudisten nackt schlafen? Es sieht Leticia ähnlich, mit ihrem neuen Lover auf einen Fünf-Sterne-FKK-Campingplatz zu fahren.

Wie er wohl ist? So wie ich früher, nehme ich an. Auch wenn ich nicht mehr recht weiß, wie ich früher einmal war.

Als wir noch zusammen waren, hat sie mir irgendwann einmal von so einem Camping erzählt. So ein Urlaub passt einfach zu ihr.

Was allerdings nicht passt, ist, dass jemand sie umbringen will.

Jemand, der nicht mit ihr verheiratet war, meine ich.

Und es passt ebenso wenig, dass es diesem Jemand gelingt, dass sich meine FIRMA seiner Sache überhaupt annimmt.

Wir töten nämlich nicht jeden.

Und wir sind auch nicht gerade billig.

Leise steige ich aus, um die Kinder nicht zu wecken. Gegen die Kühlerhaube gelehnt, zünde ich mir eine Zigarette an und blase den Rauch in Richtung Osten; vielleicht geht die Sonne so schneller auf. Es muss ein Versehen sein. Bestimmt gibt es irgendwo einen Zahlendreher in dem Autokennzeichen, das Nummer Zwei mir diktiert hat. Modell und Farbe stimmen allerdings. Und Nummer Zwei vertut sich bei so etwas eigentlich nie.

Und wenn es ein makabrer Scherz ist? … Nein, ausgeschlossen: Nummer Zwei weiß ja nicht einmal, was ein Scherz ist. Er hat keinerlei Sinn für Humor. Und für die Liebe sowieso nicht.

Ich habe ihm nie von Angesicht zu Angesicht gegenübergestanden. Meine Aufträge hatte ich immer von der alten Nummer Drei erhalten. Bis Nummer Zwei mich eines Tages persönlich anrief und mich beauftragte, ihn zu töten.

Manchmal frage ich mich, wie Nummer Zwei wohl aussieht. Dann stelle ich ihn mir als einen Holzklotz vor, mit einem ausgemergelten Gesicht und Armen so dick wie Äste. Wurzeln hat er jedoch keine, er ist ein abgestorbener Holzklotz, der über gewinnbringende Leichen und über einen Pool an stets abrufbereiten Profikillern Buch führt. Ich glaube, die Morde sind für ihn nicht mehr als erledigte Aufträge, simple Posten in einer Bilanz, in der Blut, Leid und Trauer nicht vorkommen.

Nummer Zwei hätte die Sache im Retiro-Park nie gutgeheißen.

Obwohl die FIRMA dadurch überhaupt erst auf mich aufmerksam wurde.


Ohne die Augenklappe hätte ich Tony an jenem Vormittag in der Fakultät nicht wiedererkannt. Seit ich ihn aus den Augen verloren hatte, waren zehn Jahre vergangen, und plötzlich stand er vor mir, vierundzwanzig Jahre alt und kugelrund. Und das wunderte mich. Als Kinder hatten wir uns nämlich geschworen, nie dick zu werden und auch nie korpulente Piraten anzuheuern. Weniger überraschte mich, ihn bei den Medizinern anzutreffen, denn früher wollte Tony nicht nur Erster Offizier auf meinem Piratenschiff werden, sondern er hatte auch von einer Karriere als Arzt geträumt.

Doch Tony studierte nicht.

»Wer würde schon einem einäugigen, fetten Chirurgen vertrauen?«, erklärte er damals vor nun fast schon fünfzehn Jahren.

Nein, Tony arbeitete für einen internationalen Konzern, der Krankenhäuser, Ministerien und Universitäten in ganz Europa mit Arzneimitteln und Sanitärartikeln belieferte. Mein Freund aus Kindertagen erzählte es ohne Verbitterung: Er verkaufe die Papierservietten, mit denen sich die hübschen Studentinnen die Lippen abtupften, und das Toilettenpapier, das mit ihren knackigen Hintern in Berührung käme, die er leider nie würde anfassen dürfen.

Leticia war kurz vor Letis Geburt von der Fakultät abgegangen und war mit der Kleinen gerade ein paar Tage ins Landhaus ihrer Eltern gefahren. Nachdem Tony mir zur Vaterschaft gratuliert hatte, lud ich ihn zum Mittagessen ein, und dann feierten wir das Wiedersehen und redeten und tranken bis tief in die Nacht hinein.

Es ging ihm eigentlich nicht gut. Dennoch strahlte er übers ganze Gesicht. Er war ganz der Alte und doch auch wieder nicht. Irgendwie ein Tony im Quadrat.

Als wir beim sechsten Whisky angelangt waren, packte er aus.

»Erinnerst du dich noch an meinen Großvater? Als er vor fünf Jahren starb, fing alles an. Der Ärmste war jahrelang ein Pflegefall, musst du wissen. Am demütigendsten war für ihn in all den Monaten aber nicht das Warten auf den Tod, sondern das Angewiesensein auf andere, wenn er mal musste. Er hasste Bettpfannen und Urinale; wenn er schon sterben müsse, wetterte er jedes Mal, solle man ihm wenigstens seine Würde lassen. Am Morgen seines Todes nahm er mir deshalb das Versprechen ab, etwas Praktischeres und Menschenwürdigeres zu erfinden. Ich bin handwerklich sehr geschickt, wie du weißt. Jahrelang habe ich getüftelt. Bis ich schließlich eine brauchbare Idee hatte und alles passte.«

Ich brachte einen Toast auf ihn aus, und wir stießen darauf an.

Ich begriff nicht genau, wie es funktionierte, obwohl er mir seine Erfindung auf ein paar Papierservietten skizzierte. Es sah aus wie ein luftdicht verschlossenes Chemieklo, das der Kranke ohne fremde Hilfe benutzen konnte. Tonys Augen strahlten, während er mir davon erzählte. Das Neue daran sei das kleine, unauffällige Format und die automatische Vernichtung der Exkremente. Alte und Kranke hätten so ein Problem weniger. Und es sei ökologisch und spottbillig.

»Alle alten Leute könnten sich so eine ›Teo-lette‹ leisten!«

Sein Großvater hatte Teófilo geheißen, und im Gedenken an ihn hatte Tony die Erfindung mit seinem Namen patentieren lassen.

Wir stießen darauf an. Beim achten – oder zehnten? – Glas rückte er dann mit der ganzen Wahrheit heraus. Er wusste nicht mehr weiter. Um den Prototyp seiner Erfindung zu fertigen, hatte er seine Firma um finanzielle Unterstützung gebeten, war aber nur auf Ablehnung gestoßen. Deshalb hatte er bei einem Kreditbüro einen Kredit aufgenommen. Urplötzlich wollte der Gläubiger nun aber sein Geld zurück, ja, er hatte ihn sogar mit dem Tod bedroht, wenn er nicht zahle. Und obendrein wollte sein Konzern ihm die Erfindung auf einmal doch abkaufen. Für einen stattlichen Betrag.

»Aber dann ist doch alles geritzt! Mit dem Geld kannst du deine Schulden bezahlen und hast immer noch genug Kohle, um dich selbständig zu machen. Komm«, sagte ich und hob erneut mein Whiskyglas, »das muss begossen werden!«

»Du verstehst nicht, Juan. Sie wollen das Patent für die ›Teo-lette‹ doch nur kaufen, damit sie nicht in Produktion geht! Weil sie so billig und stabil ist! Dann wär’s nämlich vorbei mit dem kräftigen Reibach, den sie mit all den Harnflaschen und Einlagen machen, die die Krankenhäuser jedes Jahr bestellen müssen.«

Tony tat mir leid.

Ich begriff, dass ich etwas für ihn tun musste.

Der windige Typ hatte ihn für den nächsten Tag kurz vor Einbruch der Dunkelheit an den Teich im Retiro-Park zitiert. Jetzt, da er mich getroffen habe, erklärte Tony tapfer, hätte er jedoch keine Angst mehr davor, er fühle sich wieder wie ein Pirat und würde ihn einfach zum Teufel schicken.

Mir war sofort klar, dass der Kredithai nicht mit sich reden lassen würde, denn die Verbindung zu Tonys Pharmakonzern war offensichtlich. Einer von Tonys Vorgesetzten hatte ihm nämlich den Kontakt zu dem Halsabschneider vermittelt. Da würde der dicke Tony mit seiner Augenklappe nicht viel ausrichten können. Aber ich hielt den Mund.

Noch in der Nacht legte ich mir einen Plan zurecht.

Am nächsten Nachmittag schwänzte ich die Vorlesung und ging eine Stunde vor dem Treffen in den Retiro. Der Typ kam ebenfalls früher. Er musste es sein: ein grobschlächtiger, gefährlich aussehender Kerl, der finster die Enten beobachtete, die gelangweilt im Teich herumschwammen. Er erinnerte mich an Soriano zehn Jahre zuvor.

Die Mütze tief ins Gesicht gezogen setzte ich mich auf eine Parkbank und verschanzte mich hinter einer Zeitung, als Tony erschien.

Mein Plan war ganz simpel: Sobald sie auseinandergingen, würde ich dem Typen unauffällig folgen und ihn auf einem der unbeleuchteten Parkwege hinterrücks erschießen.

Erst jetzt wird mir klar, dass ich in dem Moment keinerlei Bedenken oder Skrupel hatte, obwohl ich bis dahin noch niemanden getötet hatte. Vielleicht hatte die alte Nummer Drei wirklich recht: Du bist zum Auftragskiller geboren, hatte er immer behauptet.

Niemand würde Tony jedenfalls mit dem Tod des Kredithais in Verbindung bringen. Und sollte seine Firma dahinterstecken, würden sie meinen Freund sowieso in Ruhe lassen: Die »Teo-lette« mochte eine großartige Erfindung sein, aber so viel war sie denn auch nicht wert, um mit einem Mordfall in Verbindung gebracht zu werden.

In der Tasche hatte ich meine Wettkampfpistole, frisch gereinigt und geölt. Seit einem Jahr hatte ich an keinem Preisschießen mehr teilgenommen. Meine Treffsicherheit hatte jedoch nicht darunter gelitten. Das wusste ich, weil mein Schwiegervater in seinem Landhaus immer mal wieder ein Scheibenschießen veranstaltete, um mein Talent zur Schau zu stellen.

»Er hat die sichere Hand eines Chirurgen«, prahlte er dann vor seinen Bekannten, und alle applaudierten.

Ich war etwa hundert Meter von den beiden entfernt. Sie diskutierten. Tony wirkte ziemlich nervös, dennoch setzte er ihm erhobenen Hauptes seine Lage auseinander, um zu zeigen, dass er keine Angst vor ihm hatte.

Der Koloss lachte ihm jedoch nur hämisch ins Gesicht.

Keine Ahnung, was Tony in dem Moment geritten hat.

Er holte aus und gab dem unverschämten Kerl eine Ohrfeige.

Und dann noch eine.

Und noch eine.

Der Typ war völlig verdattert. Aber er fing sich gleich wieder. Kurz sah er sich im menschenleeren Park um und zückte dann ein langes Messer.

Ob meine Hand in die Jackentasche flog oder die Pistole mir regelrecht in die Hand sprang, weiß ich nicht mehr. Als er mit dem Messer auf Tony losging, drückte ich ab.

Zuerst dachte ich, ich hätte nicht getroffen, denn nicht der Typ ging zu Boden, sondern Tony. Deshalb schoss ich noch einmal, woraufhin der Koloss augenblicklich zusammenbrach, und spazierte dann ohne Eile zum Ausgang am anderen Ende des Parks.

Als ich zehn Minuten später auf der gegenüberliegenden Seite wieder hineinging, war der Rettungswagen bereits da, und unzählige Schaulustige drängten sich um den Unglücksort. Kurz vorher schien der Retiro noch menschenleer gewesen zu sein, die Tragödie hatte die zig Liebespärchen, Studenten und Rentner jedoch aus allen Winkeln gelockt. Niemand achtete auf mich.

Der Koloss wurde in einem verschlossenen Sack davongetragen. Er würde niemanden mehr bedrohen.

Ich betete, dass der Messerstich, den er Tony versetzt hatte, nicht sehr tief war.

Es war jedoch kein Messerstich.

Mein erster Schuss war nicht ganz danebengegangen.

Er wurde mit einer Kugel im linken Bein abtransportiert, und obwohl er ohnmächtig war, hätte ich schwören können, dass er mich ansah, bis sich die Tür des Krankenwagens hinter ihm schloss.


Das Bein war nicht mehr zu retten, doch während seiner ganzen Rekonvaleszenz wurde Tony nicht müde, zu behaupten, dass er den Kerl ohne die Einmischung des unbekannten Mörders mit Sicherheit kleingekriegt hätte.

»Weißt du, Juan, ich hatte ihn richtig in der Mangel!«

Wie vorauszusehen, brachte die Polizei Tony nicht mit dem Tod des Kredithais in Verbindung. Der war wegen Diebstahls und Erpressung vorbestraft, und man ging davon aus, dass Tony rein zufällig in das Schussfeld von Kleinganoven geraten war, die mit dem Halsabschneider noch eine Rechnung offen hatten.

Kurz bevor mein Freund aus dem Krankenhaus entlassen wurde, stellte ich meine Besuche ein.

Ich sah ihn nie wieder.

Sein Schicksal verfolgte ich aber schon noch eine Zeitlang.

Am Ende verkaufte er seinem Konzern das Patent für einen Betrag, der viermal so hoch war wie das erste Angebot. Und seine Chefs schenkten Tony eine erstklassige Beinprothese und stellten ihm während der gesamten Reha einen ganz besonderen Rollstuhl zur Verfügung.

Das Neueste vom Neuesten. Mit Motor.

Ein Unikat.

Er besaß nämlich eine Vorrichtung, die nie auf den Markt kommen würde.

Eine »Teo-lette«.


»Auf Regen folgt stets Sonnenschein«, pflegte die frühere Nummer Drei zu sagen. Die Kinder schlafen noch immer tief und fest.

Ich werde es nicht tun.

Und ich werde auch nicht zulassen, dass es einer meiner Kollegen tut.

Schon gar nicht dieser Rambo von Nummer Dreizehn.

Ich rauche. Warte. Denke nach. Sehe mich um, wobei ich mir ein Auge zuhalte. Ich kann das Meer riechen.

Ob Leticia mit ihrem mysteriösen Lover schon da ist?

Bestimmt. Sie ist immer gern schnell gefahren.

Und wenn sie es gar nicht auf sie, sondern auf mich abgesehen haben? Leticia entstammt zwar der Oberschicht, aber eigentlich ist sie doch ein Nobody. Jedenfalls kein Mensch, dem irgendwer nach dem Leben trachtet. Außer ich vielleicht.

Kaum zu glauben, dass sie nicht wissen, wer ihre Todeskandidatin ist. Außer, das Ganze ist eine Falle, in die ich gelockt werden soll und die meine ganze Familie mit einbezieht … Nein, ausgeschlossen! Das passt nicht zu meiner FIRMA. Und ich habe in all den Jahren, in denen ich schon für sie arbeite, keinen einzigen Fehler begangen.

Das Vernünftigste wäre eigentlich, mich mit den Kindern über die Grenze abzusetzen. Nur würde ich dann nie herausfinden, ob das alles nur ein gigantisches Missverständnis oder ein makabrer Scherz ist. Zudem würden sie mich finden, egal, wo ich mich verstecken würde. Zumindest sind die Kinder bei mir in Sicherheit.

Leti und Antoñito schlafen immer noch friedlich. Im Tiefschlaf gibt man sich so, wie man ist, ganz unverstellt. Leti hat sich breitgemacht, während ihr armer Bruder sich ganz in eine Ecke drückt, um sie so wenig wie möglich zu stören.

Mein kleiner Sohn weiß noch nicht, dass manche Menschen sich trotzdem gestört fühlen können. Und einen deshalb kurzerhand umbringen. Da sie sich aber nicht selbst die Finger schmutzig machen wollen, wenden sie sich an Spezialisten wie mich. Der Daumen nach unten genügt.

Die Sonne geht auf.

Die Entscheidung ist gefallen. Ich werde hierbleiben und mich der Sache stellen, was auch immer dahinterstecken mag.

Als Profi, der ich bin, ertappe ich mich plötzlich bei der Frage, wo zum Teufel ich meine Pistole verstecken soll, wenn ich splitterfasernackt am Strand spazieren gehe.

Da meine ich in der Ferne das betrunkene Lachen der alten Nummer Drei zu hören.

Aber es ist nur das Unheil verkündende Krächzen eines schwarzen Raben.