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Camilleri war bestimmt ein ausgezeichneter Hochschuldozent. Und er schreibt sicher auch intelligente Krimis. Auf jeden Fall ist an ihm aber auch ein phänomenaler Kunstkritiker verloren gegangen. Das beweist seine Beschreibung von Yolanda. Selbst wenn ich noch einige stilistische Nuancen hinzufügen würde: Sie hat außerdem noch etwas von der Sinnlichkeit eines Gauguin und dem Ewigweiblichen eines Botticelli, und hin und wieder umweht sie ein Hauch von Einsamkeit, wie dies nur Edward Hopper auf die Leinwand zu bannen vermochte.

Von Kunst verstehe ich mehr, als es auf den ersten Blick scheint. So wie von vielen anderen Dingen auch. Unsere Ausbildung ist nämlich äußerst vielseitig, denn in unserem Job ist es nicht immer damit getan, stundenlang irgendwo auf der Lauer zu liegen und dann im richtigen Moment abzudrücken. Oft werden wir zu irgendeinem Kurs geschickt, und dann vergehen Monate über Monate, bis man den Auftrag bekommt, bei dem man das erworbene Wissen gebrauchen kann.

»Wir sind wie Laienschauspieler, die im stillen Kämmerlein monatelang ein Stück einstudieren, ohne zu wissen, ob sie damit jemals an einem Theater vorsprechen dürfen«, pflegte die frühere Nummer Drei zu sagen.

Er selbst war außergewöhnlich gebildet und konnte stundenlang über Architektur und kulinarische Genüsse philosophieren. Das tat er jedoch nur mit mir oder wenn dieses Wissen zu seiner Rolle bei einem Auftrag passte. Dann hatte man wie durch Zauberei keinen Schluckspecht und Bordell-Stammgast mehr vor sich, sondern einen einfühlsamen Architekten oder ausgemachten Gourmet. Allen anderen gegenüber gab er sich als der einfach gestrickte, brutale Fremdenlegionär, der er in seiner Jugend gewesen war.

Ich habe mich oft gefragt, warum er sich mir gegenüber so anders verhalten hat. Aber das einzige Mal, dass ich ihn darauf anzusprechen wagte, erwiderte er nur:

»Wenn du noch mal so eine hirnrissige Bemerkung vom Stapel lässt, bringe ich dich um. Und zwar gratis.«

Eine Minute später traten ihm vor einem Gemälde von van Gogh die Tränen in die Augen.

»Dieses Gelb … Wie hat der Teufelskerl das bloß hingekriegt?«, murmelte er verzückt.

Sieben Jahre ist das nun schon her, dass ich für diesen Auftrag im Louvre monatelang Kunstgeschichte büffelte. Zwei Wochen vor dem Termin schleuste man mich als Führer in das Museum ein, damit ich mich am fraglichen Tag dort gut zurechtfand. Ich sollte einen plötzlich erkrankten Kollegen vertreten, und am Ende ging ich so in meiner Rolle auf, dass die frühere Nummer Drei mich zur Ordnung rufen musste.

»He, Doc, hast du vor, den Beruf zu wechseln, oder was? Wenn du den Leuten etwas über die Bilder erzählst, hört es sich an, als wärst du damit groß geworden …«

Am Nachmittag, an dem ich meinen Auftrag zu erledigen hatte, betrat ich den Louvre als ganz gewöhnlicher Tourist. Ich hatte nur die Gesichtsform und die Haarfarbe leicht verändert, gerade genug, um nicht mit meiner vorigen Persönlichkeit in Verbindung gebracht zu werden.

Mein »Kunde« musste jemand Bedeutendes sein, denn er stand allein vor der ›Mona Lisa‹, um die sich normalerweise mehr Japaner versammelten als bei einem internationalen Karaoke-Wettbewerb. Ich musste ihn nur mit einem winzigen Pfeil treffen, dessen tödliche Wirkung sich erst nach einer Stunde zeigen würde. Doch als ich schon zur Tat schreiten wollte, ging mir auf, wie sehr ich das Gemälde bewunderte, und Tony kam mir in den Sinn. Und ich bekam kalte Füße: Ich fürchtete, danebenzuschießen, sodass der Pfeil sich in den Hals der Mona Lisa bohren würde anstatt in den des Waffenhändlers – oder was immer er auch war –, der sie so begehrlich ansah, als wäre sie eine käufliche Nutte. Ohne lange zu überlegen, löste ich deshalb den Pfeil aus dem als teuren Kugelschreiber getarnten Luftgewehr, fasste ihn ganz vorsichtig am Ende, an dem er vermutlich frei von Gift war, und ging damit rückwärts auf den »Kunden« zu, wobei ich so tat, als wollte ich das gewaltige Gemälde auf der gegenüberliegenden Seite des Saals in seiner ganzen Pracht bewundern. Einen halben Meter vor ihm stolperte ich dann so über meine eigenen Füße, dass ich mich einmal um meine eigene Achse drehte und im Fallen seine Hand streifte. Sofort wollten sich vier als friedliche Touristen getarnte Gorillas auf mich stürzen, aber ich hatte bereits mein einfältigstes Juanito-Pérez-Pérez-Gesicht aufgesetzt, weshalb der Typ sie mit einem herrischen Wink stoppte. Unbewusst rieb er sich den Kratzer an der Hand, während er mir aufhalf.

»Machen Sie die Augen auf, Sie Tollpatsch!«, herrschte er mich an und deutete auf da Vincis Gemälde. »So wie sie.«

Auch Nummer Drei hatte das Gemälde gegenüber der ›Mona Lisa‹ bewundert. In meinem Hotelzimmer setzte er mir dann eine Pistole mit Schalldämpfer an die Schläfe.

»Erklär mir, warum du das getan hast. In einem kurzen, knackigen Satz. Wenn du mich nicht überzeugst, bringe ich dich um!«

»Das Gemälde hätte beschädigt werden können.«

Da ließ er die Pistole sinken und brach in schallendes Gelächter aus.

»Okay, das kann ich verstehen, mein Junge. Mich macht Mona Lisas geiles Grinsen auch ziemlich an. Aber in Zukunft lässt du diese Spielchen, verstanden? Und noch was: Ich will dich nie wieder mit einer so lächerlichen Perücke sehen.«

Ich hatte rote Haare. Wie Vincent van Gogh.


»Was ist mit van Gogh?«, fragt Yolanda verwirrt.

Ich muss meinen letzten Gedanken wohl laut ausgesprochen haben. Keine Ahnung, warum mir ausgerechnet jetzt all diese Dinge einfallen, nachdem ich jahrelang nicht mehr daran gedacht habe. Aber Yolanda wartet auf eine Antwort, und sie bekommt sie in Form eines Kompliments.

»Ich habe gerade gedacht, dass er mir leidtut, weil er keine Gelegenheit hatte, dich zu malen.«

Lachend verzeiht sie mir meine kurzfristige Unaufmerksamkeit. Sie ist clever und wird wissen, dass ich das nur gesagt habe, um mich elegant aus der Affäre zu ziehen. Camilleri hat recht: Sie ist eine Mischung aus Klimt und Modigliani. Jetzt nimmt sie mich an der Hand und zieht mich von Grüppchen zu Grüppchen, stellt mir ein paar Leute vor, erzählt Anekdoten und gibt Freizeittipps. Sie hat ein beneidenswert kontaktfreudiges Wesen, so wie meine Ex, aber Yolanda nutzt es nicht, um zu bestimmen, was zu tun ist, sondern um dafür zu sorgen, dass die anderen sich wohl fühlen. Und so ist es unvermeidlich, dass wir bei unserer Runde auch irgendwann auf Sofía und Tony treffen. Yolanda ist überrascht, dass wir uns schon lange kennen, worauf mein Freund ihr erklärt, ich sei der beste Piratenkapitän, der jemals die neun Meere bereist hat.

»Sieben, du Dummkopf, es sind sieben Meere!«, berichtigt ihn Sofía sofort.

»Das weiß ich auch, Süße. Aber wir wollten mindestens noch zwei weitere entdecken, stimmt‘s, Juan?«

Er nimmt mich mit plötzlich verzagter Miene beiseite, während Yolanda sich wohl oder übel für ein paar Minuten Sofía widmet.

»Ich will dir nicht den Abend verderben, Juan, ich sehe ja, du hast was vor. Aber morgen, wenn du wieder fit bist, würde ich gern mal mit dir reden. Ich brauche deinen Rat.«

Ich schlage ihm ein Treffen im Restaurant oder in seinem Wohnwagen vor, aber ihm ist es lieber in der Bucht. Während wir zu den Frauen zurückkehren, gibt er sich wieder optimistisch und neckt mich ein bisschen wegen Yolanda. Er weiß, dass sie hier arbeitet, und findet, dass ich einen ganz schönen Zahn draufhabe: Ein Tag hätte mir genügt, um mir das hübscheste Mädchen weit und breit zu angeln.

»So wie früher, Juan. Dir ist schon damals alles in den Schoß gefallen.«

Ich entdecke so etwas wie Neid in seiner Stimme. Beinahe hätte ich ihm erzählt, was ich vorhin in der Hütte gesehen habe, verkneife es mir dann aber. Im Grunde weiß ich nämlich nichts über den erwachsenen Tony. Womöglich liebt er diesen Eiszapfen tatsächlich, und ich tue ihm wieder weh. Vielleicht haben sie aber auch einen Deal, der ihr die Freiheit lässt, sich so viele Liebhaber zu nehmen, wie sie will, solange sie nur diskret ist.

Yolanda rettet mich gekonnt davor, mit den beiden den Rest des Abends verbringen zu müssen.

»Ich habe schon warmherzigere Kühlschränke kennengelernt«, murmelt sie grinsend in Richtung Sofía, kaum sind wir in Sicherheit.

Plötzlich tauchen wie aus dem Nichts die Kinder auf und hängen sich an Yolanda. Leti begutachtet anerkennend ihr Kleid und Antoñito will sie gleich nach draußen ziehen, damit sie am Pool seine Fortschritte im Springen vom Einmeterbrett bewundert. Ich fürchte schon, den Rest des Abends als Babysitter zu verbringen, da naht Hilfe von völlig unerwarteter Seite.

»Lasst Papa in Ruhe«, mischt sich Leticia ein. »Das Kinderfest ist draußen, und dort gibt’s genug Animateure, die sich um euch kümmern.«

Bei mir hätte es viermal so lange gedauert, bis sie mir gehorcht hätten. Leti packt ihren Bruder und zwinkert mir im Gehen noch mal zu, während ihre Mutter die Gelegenheit nutzt, sich vorzustellen. Na großartig: Ich entkomme den Kindern, und muss dafür mit meiner Ex und ihrem neuen Freund Smalltalk machen.

Beltrán entpuppt sich allerdings als amüsanter, angenehmer Gesellschafter, der sich nicht in den Vordergrund drängen muss. Als die Musik lauter wird, zieht Yolanda mich jedoch augenblicklich auf die Tanzfläche, sodass ich nicht einmal dazu komme, ihr zu sagen, dass ich nicht tanzen kann. Zumal das auch gar nicht stimmt. Ja, auch Tanzunterricht habe ich bekommen, denn man weiß nie, ob man sich nicht irgendwann einmal als Tanzlehrer ausgeben muss, oder als Diplomat oder Manager, der gern einen draufmacht.

Der Discjockey wechselt zu Salsa, und ich gebe mich ganz ihrem Rhythmus hin. Eigentlich höre ich spätestens bei so was auf zu tanzen, aber jetzt, jetzt schiebe ich alle Bedenken beiseite und sage mir, ich habe Lust zu tanzen, und basta!

Yolandas Bewegungen sind äußerst sinnlich, und darum geht mir erst nach einer Weile auf, dass sie nur auf meine reagiert, dass trotz ihres tänzerischen Talents ich derjenige bin, der den Rhythmus vorgibt und sie führt. Zu spät merke ich auch, dass alle anderen aufgehört haben zu tanzen und einen Kreis um uns bilden. Jetzt bin ich die perfekte Zielscheibe, aber ich kann nichts dagegen tun, und so tanze ich weiter, ja ich erfinde sogar Tanzschritte, was ein paarmal schiefgeht, aber nicht weiter auffällt. Wie lange tanzen wir schon ohne Pause? Für mich ist es eine einzige Salsa, und pures Glück, ein Gefühl, an das ich mich kaum noch erinnern kann. In Yolandas Gesicht spiegelt sich Überraschung, aber sie ist garantiert so freudig erregt wie ich.

Der Remix geht dem Ende zu. Ein letztes Mal ziehe ich sie an mich und beuge den Oberkörper dann gekonnt über sie, worauf tosender Applaus ausbricht, sodass ich sie kaum verstehe, als sie mir ins Ohr flüstert:

»Wenn du bei allem so leidenschaftlich bist, wird das eine unvergessliche Nacht.«

Es regnet Komplimente von allen Seiten, als wir uns wieder zu Leticia und ihrem Richter gesellen. Der Blick meiner Ex ist voller Fragezeichen.

»Ich habe in den letzten Monaten Unterricht genommen«, rechtfertige ich mich, als sie mir mein Glas reicht.

»Es gibt Dinge, die lernt man bei keinem Lehrer, Juanito. Die hat man, oder man hat sie nicht. Und man lebt sie aus – oder auch nicht, je nachdem, mit wem«, murmelt sie.


Wir machen einen großen Bogen um das Kinderfest, das bereits auf sein Ende zusteuert. Die Erwachsenen werden sich wohl noch eine Stunde vergnügen, bis sich die meisten verziehen und nur noch die Nachtschwärmer übrigbleiben, die nie wissen, wann man von einem amüsanten Typen zur Nervensäge mutiert. Tony redete vorhin davon, die Nacht durchmachen zu wollen.

In den Händen zwei Flaschen Champagner, die sie aus der Restaurantküche organisiert hat, führt mich Yolanda zwischen den Bäumen hindurch zu meiner Parzelle. Nichts dagegen einzuwenden. Ich frage nicht nach den Gläsern, denn es ist klar, dass wir die selbst sein werden. Vor meinem Zelt zieht sie sich aus, und ich tue es ihr nach. Dann laufen wir Hand in Hand los, so wie am Vormittag, und jetzt ist meine Erektion gerechtfertigt und stört mich auch nicht mehr. Und sie kann wieder meine Gedanken lesen.

»Heute Mittag konnte ich nicht, aber jetzt sieht uns niemand. Und es ist immer noch mein freier Tag.«

Ich bleibe stumm, denn ich bin mit dem Spüren ihrer warmen Hand beschäftigt. In meiner linken Hand hält sich eine Champagnerflasche die Waage mit der zweiten in ihrer Rechten. Ich weiß, dass wir zur Bucht laufen, so wie am Morgen, aber alles ist nun anders. Ihre ins Licht des Vollmonds getauchte Nacktheit wirkt jetzt noch sinnlicher, zugleich aber auch gelöster. Und ich brenne erneut vor Begierde, nur dass ich das jetzt akzeptiere und genieße, so wie eben beim Tanzen.

Im Wasser trinken wir Champagner und tanzen, nackt und uns immer wieder zart berührend. Wir haben keine Eile, sondern alle Zeit der Welt. Es existieren nur der Mond, das Meer und unsere Haut. Prickelnde Haut.

Eine Welle bringt uns den ersten Kuss. Und dann kommen Wellen über Wellen, die uns emporheben und an den Strand spülen. Kurz kriege ich Panik: Was, wenn mich jetzt, da ich meine Gefühle endlich zulasse, die Technik im Stich lässt? Aber vielleicht hat Leticia ja recht, versuche ich mich zu beruhigen, und es kommt nicht auf die Geschicklichkeit an, sondern auf die Zärtlichkeiten. Und ich streichle sie und werde gestreichelt. Und ich stöhne, oder sie, oder wir beide gleichzeitig. Und dann dringe ich in Yolanda ein wie in ein neues Zuhause voller Überraschungen und erforsche jeden Winkel, immer wieder, denn die Räume ihrer Lust sind hell erleuchtet oder erhellen sich, wenn ich sie betrete.

Und dann, in einer Pause, während wir Atem schöpfen und die Wellen über den Strand rollen, so wie kurz zuvor die Wellen der Lust uns überrollt haben, sagt mir der Mond, dass die Nacht eben erst begonnen hat.

Und dass sie uns gehört. Uns ganz allein.