08
Ich hatte völlig vergessen, was für einen Medusenblick Leticia manchmal haben kann. Folglich erstarre ich zu Stein, als ich zu unseren Zelten komme, wo sie, der Richter und die Kinder einen auf perfekte Familie machen, nur dass sie dafür wenig Kleider anhaben. Besser gesagt: gar keine Kleider. Beltrán trägt inzwischen nämlich auch kein Handtuch mehr um die Hüfte. So ist es unvermeidlich, Größe, Länge und Aussehen zu vergleichen. Das tun alle Männer, selbst schon die kleinen Jungs, auch wenn Antoñito dabei rot wird und ich insgeheim froh bin über die wiedererlangte Spannung, da ich vorhin von Weitem Yolanda in Richtung Restaurant laufen sah. In diesem Wettstreit bin ich Beltrán jedenfalls überlegen, nicht um viel, aber immerhin – und ich bin so dumm, mir etwas darauf einzubilden.
Meine Tochter ist allerdings schon reifer, als ich dachte, und ähnelt ihrer Mutter mehr als befürchtet.
»Aber er ist ein berühmter Richter, Papi«, flüstert sie mir ins Ohr. während Beltrán Bierdosen holen geht, um das Eis zu brechen.
Ich glaube, ich spreche für alle, wenn ich sage, dass wir angezogen
im Restaurant verkrampfter sind als eine halbe Stunde zuvor nackt
vor unseren Zelten. Beltrán hat darauf bestanden, dass wir zusammen
zu Mittag essen, wogegen Leticia nichts einwenden konnte, weil sie
sich noch unschlüssig ist, was sie von dieser unfreiwilligen
Familienzusammenführung halten soll.
Als Yolanda mit einem Tablett vorbeikommt, grüßt sie so unbefangen, dass meine Hormone in Aufruhr geraten. Was natürlich alle merken. Antoñito flüstert seiner Schwester zu, dass sein Papa letztlich doch nicht so langsam ist, wie du immer sagst, und ihre Mutter verschluckt sich an einem Stück Kotelett, das sie sich gerade mit der Gelassenheit derjenigen zu Gemüte führt, die wissen, dass ihre gute Figur nicht in Gefahr ist, solange es auf dieser Welt Fitnessstudios gibt.
Ich zeige es nicht, aber ich gäbe wer weiß was drum, wenn das Essen endlich vorbei wäre und die Kinder zu irgendeiner organisierten Freizeitaktivität aufbrechen würden. Denn ich muss dringend nachdenken. Doch vorher muss ich erst noch den obligatorischen Espresso hinter mich bringen.
Beltrán ist ziemlich verlegen, als meine Ex danach laut verkündet, dass sie sich auf eine schöne lange Siesta freut, und ihn mit Schlafzimmerblick zurück den Zelten zieht.
Erleichtert atme ich auf, als ich auf der Terrasse des Restaurants als Einziger zurückbleibe. Im Supermarkt habe ich mir vor dem Essen eine der letzten Gürteltaschen gekauft, die hier ein offenbar sehr begehrter Artikel sind, da sie einen zusätzlichen Vorteil haben: Wenn man die Tasche nach vorn dreht, kommt man sich etwas weniger nackt vor – allerdings auch ein bisschen lächerlicher. Darin befinden sich mein präpariertes Handy, der tödliche Taschenrechner und ein Päckchen Zigaretten. Vor mir auf dem Tisch steht außerdem noch ein Bourbon, und in den Händen habe ich ein Buch, das mir als Tarnung dient, damit ich als beliebiger Tourist durchgehe. Und ich bin halb angezogen. Es fällt mir nämlich ziemlich schwer, scharf nachzudenken, wenn ich nackt bin. Vor allem, wenn mir Yolanda wieder in den Sinn kommt.
Zu viele Zufälle.
Die frühere Nummer Drei sagte immer: Nimm dich in Acht vor merkwürdigen Zufällen. Und vor Nutten, die kleine Titten haben.
Letzteres habe ich nie begriffen, weil ich zu Nutten nur im Rahmen meines Killerjobs gegangen bin und sonst eher auf vollbusige Frauen stehe. Auf Frauen wie Yolanda.
Aber das mit den Zufällen sehe ich genauso. Als Killer muss man immer vor ihnen auf der Hut sein. Und noch nie sind mir so viele aufs Mal untergekommen.
Die ehemalige Nummer Drei hat mir allerdings auch beigebracht, dass man sich für die Analyse einer unklaren Situation immer den genauen Sachverhalt vor Augen führen muss, sämtliche Fakten mitsamt der Zweifel, die sich daraus ergeben.
Beginnen wir also mit den Fakten.
Von heute auf morgen hat man mich mit einer ungewöhnlichen Aufgabe betraut. Das ist zunächst nichts Besonderes: Ich muss immer wieder einmal einen Auftrag kurzfristig erledigen, und sie haben dabei noch nie Rücksicht auf Urlaubszeiten oder Sonn- und Feiertage genommen – was Leticia früher immer auf die Palme gebracht hat, weil man ihrer Meinung nach so keine echte Führungskraft behandelte. Nichtsdestotrotz liegt selbst diesen Eilaufträgen stets ein sorgfältig ausgearbeiteter Ablaufplan zugrunde, und auch die Gewohnheiten, Eigenheiten und tagtäglichen Fahrtrouten des »Kunden« sind vorher ausgekundschaftet worden.
Es ist allerdings schon Jahre her, dass ich einen »Kunden« observieren sollte. Das machen normalerweise andere, die in der Rangliste weiter unten stehen. Und außerdem hat sich Nummer Zwei so schwammig ausgedrückt, dass ich nicht weiß, was ich als Nächstes zu tun habe. Und das, wo sie genau wissen, dass die Kinder bei mir sind. Wirklich seltsam. Sonst lassen sie nicht die kleinste Kleinigkeit außer Acht, die uns von unserem Job ablenken könnte. Es kursiert sogar das Gerücht, dass Nummer Zwei einmal einen Auftrag um eine Woche verschoben hat, damit die Tochter des Kollegen ihre schwere Lungenentzündung auskurieren konnte. Dasselbe Gerücht, irgendwann aufgeschnappt, als ich mit ein paar Kollegen in einem leeren Apartment auf einen Einsatz wartete, geht allerdings noch weiter: Wenn das Mädchen in den sieben Tagen nicht gesund geworden wäre, hätte Nummer Zwei sie umbringen und es wie ein ärztliches Versagen aussehen lassen.
Ein Mörder, der sich Sorgen macht, schießt daneben.
Einer, der um einen nahestehenden Menschen trauert, trifft noch besser.
Diese Gedanken gefallen mir ganz und gar nicht.
Was mir hingegen sehr wohl gefällt, ist der Bourbon vor mir auf dem Tisch.
Und Yolanda, die mir gerade im Vorbeigehen zuwinkt. Sie hat wirklich einen üppigen Busen, so wie ich es in Erinnerung hatte.
Kommen wir zum nächsten Punkt: Der Wagen, dessen Fahrer ich anfangs liquidieren, jetzt aber bloß noch observieren soll, hat meiner Exfrau gehört. Kann es sein, dass sie das nicht wissen? Oder mich damit beauftragt haben, gerade weil sie es wissen?
Nein, ausgeschlossen. Am nützlichsten bin ich ihnen so wie jetzt, Single und alleinwohnend, sodass ich niemandem eine Erklärung schuldig bin, wenn ich für mehrere Tage verreise. Aber meine Exfrau deshalb kaltmachen? Um eine – sowieso völlig illusorische – Versöhnung zu verhindern? Nein, das kann ich mir absolut nicht vorstellen.
Zudem würden sie sicher einen anderen damit beauftragen, wenn sie Leticia wirklich umbringen wollten, der sich dann auch einer der Vorgehensweisen aus Artikel 25 des Handbuchs (Tod durch vorgetäuschten Unfall) bedienen müsste.
Nächster Punkt: Der Richter. Gaspar Beltrán ist wirklich eine erstklassige Zielscheibe. Doch auch hier gilt: Wenn sie wissen – und sie wissen es ganz bestimmt –, dass er mit meiner Ex zusammen ist, warum setzen sie mich dann auf ihn an? Ein schlechtes Gewissen oder aber die Freude darüber, es dem neuen Lover der Ex heimzuzahlen, können den besten Coup zum Scheitern bringen. Es sei denn, sie wollen, dass es wie ein Mord im Affekt aussieht und ich für schuldig befunden werde.
Weiter im Text: Leticia hat das Auto verkauft. Jetzt gehört es Tony, der von einem unersättlichen Kompagnon bedroht wird. Schon möglich, dass sie nichts von unserer Kinderfreundschaft wissen. Ich habe nie ein Wort darüber verloren. Tony ist jedoch nur wegen seiner schlanken, gefährlichen Freundin hier, die riesige Brüste hat. Und ich könnte schwören, dass sie ursprünglich klein waren. Sehr klein.
Fakt ist außerdem, dass sich hier irgendwo Beltráns Bodyguards rumtreiben müssen. Wer sind sie, und wie viele hat er?
Jedenfalls werde ich mir jetzt noch einen Bourbon bestellen. Auf dem Campingplatz herrscht eine wohltuende Ruhe, und von diesem Tisch aus habe ich einen hervorragenden Überblick.
Kommen wir zum nächsten Punkt.
Es sind einfach viel zu viele Zufälle. Womöglich ist es eine Falle, und sie wollen in Wirklichkeit mich ins Jenseits befördern, denn umringt von meinen Kindern, meiner Ex und meinem Freund aus Kindertagen kann ich keine der Vorkehrungen treffen, die sie mir für Notfälle nahegelegt haben. Nur: Warum sollten sie mich kaltmachen wollen?
Und schließlich ist es leider auch eine Tatsache, dass ich vor lauter Nervosität nicht bemerkt habe, dass ich schon eine ganze Weile mit meinem Handy herumspiele. Als es klingelt, zucke ich deshalb zusammen und schneide mir mit der scharfen Klinge fast ein Ohr ab, weil ich mechanisch die entsprechende Tastenkombination gedrückt habe.
»Hallo, Nummer Drei«, begrüßt mich eine unbekannte Stimme.
»Falsch verbunden«, erwidere ich, wie es das Handbuch in solchen Situationen vorsieht.
»Warten Sie einen Moment!«, befiehlt mir da die Stimme, deren nüchterner, keinen Widerspruch duldender Tonfall mir auf einmal irgendwie vertraut vorkommt.
»Hallo … Ah, jetzt geht’s. Hallo, Nummer Drei«, sagt fünf Sekunden später die Stimme, die sich nun wie die Frau anhört, die ich gut kenne. »Ich verbinde Sie mit Nummer Zwei.«
Sicher benutzt die FIRMA irgendeinen hochtechnisierten Schallwandler, der ihre Stimme transformiert, je nachdem, mit welchem Killer sie gerade spricht. Und wahrscheinlich ist der zuständige Techniker gerade in Urlaub und wird von irgend so einem Stümper vertreten. Vor denen sind also nicht einmal die im organisierten Verbrechen tätigen Multis sicher.
»Ich habe eine gute Nachricht für Sie«, erklärt mir Nummer Zwei mit phlegmatischer Stimme. »Die Operation wird verschoben. Nummer Dreizehn kommt nicht zum Einsatz. In ein paar Tagen können Sie abreisen.«
»Und warum nicht gleich?«
»Weil sie verschoben wird, nicht gestrichen. Sie observieren den ›Kunden‹, notieren alles, was Ihnen auffällt, und nächste Woche schicken Sie mir Ihren Bericht.« Er stockt, bevor er weiterspricht. »Und entschuldigen Sie die Unannehmlichkeiten. Von uns aus können Sie auch bis Monatsende auf dem FKK-Camping bleiben, schließlich haben wir ja alles schon im Voraus bezahlt. Ach ja, und die Operation wird Ihnen natürlich gutgeschrieben, so, als hätten Sie den Auftrag erfolgreich zu Ende geführt.«
Er legt auf, ohne sich zu verabschieden.
Erleichtert seufze ich auf. Niemand wird in der Nähe meiner Kinder zu Tode kommen. Ich muss nur die Zielscheibe zwei Tage lang beobachten und Nummer Zwei am Montag aus irgendeinem Internetcafé eine chiffrierte E-Mail schicken, in der für denjenigen, der die Sache irgendwann übernehmen muss, meine Beobachtungen aufgelistet sind. Danach kann ich unseren Urlaub ungestört genießen.
Warum habe ich mich eigentlich nicht zu fragen getraut, wer die Zielscheibe ist?
Egal, ich kriege es auch so raus. Dafür bin ich schließlich auch ausgebildet worden.
Dass sie mir eine Erfolgsprämie für nichts und wieder nichts zahlen wollen, ist allerdings höchst seltsam.
Nummer Zwei zahlt gut, doch nie einen Cent zu viel.
Er schenkt einem nichts, einfach so.
Vor drei Jahren wurde zu Weihnachten ein Geschenkkorb mit einer Karte in meinem Büro abgegeben, die mit seiner Nummer unterschrieben war. Als ich der damaligen Nummer Drei davon erzählte, lachte er laut auf und warnte mich davor, das Präsent mit nach Hause zu nehmen. In den Sektflaschen war Nitroglyzerin, im turrón TNT, in den polvorones Splitterpatronen, und die Flasche mit dem zwölf Jahre alten Whisky enthielt Säure, mit der man das Sicherheitssystem eines ganzen Gebäudes deaktivieren konnte. Unter den Pralinen fand ich schließlich die Fotos des »Kunden«, dem ich an Silvester das Lebenslicht ausblasen sollte – Leticia rastete damals fast aus, weil ich das Familienessen mit ihrem Vater im Hotel Ritz absagte.
»Und was wäre gewesen, wenn ich aus Versehen was davon getrunken oder gegessen hätte?«, hatte ich meinen Mentor damals gefragt.
»Dann hätte er es dir noch vom Lohn abgezogen.«
Doch zurück zu den Fakten.
Ich weiß nicht, ob es an der Freikörperkultur, dem Bourbon oder meinen Toten liegt (fünfzehn, Juan, es sind fünfzehn, zähl die frühere Nummer Drei endlich mit), aber allmählich werde ich paranoid.
Dabei habe ich die FIRMA doch noch nie enttäuscht und bin einer ihrer besten Männer!
Und ich weiß zu wenig, um ihnen gefährlich zu werden. Ich weiß fast nichts!
Und deshalb schaffe ich jetzt vollendete Tatsachen und denke an Yolanda, worüber ich alles andere vergessen kann und mir nur noch wünsche, dass es schnell dunkel wird und das, was geschehen muss, erst morgen passiert.
Ich trinke mein Glas leer, schlage mein Buch auf und beginne zu lesen. Jeder, der mich so sieht, muss mich für einen ganz gewöhnlichen Camper halten, der Urlaub auf einem schicken FKK-Campingplatz macht. Und genau so fühle ich mich jetzt auch. Ich sehe mich richtiggehend vor mir, wie auf einem Foto, im Hintergrund ein grünes Wäldchen, völlig entspannt.
Wie auf einem Foto.
So habe ich schon viele Leute gesehen.
Auf einem Foto.
Durch das Visier eines Gewehrs.
Eine Sekunde später waren sie tot.