17

 

»Dein Problem ist, dass du gern schwimmst, dich dabei aber nicht nass machen willst«, sagte die alte Nummer Drei immer zu mir. »Und eine Zeitlang funktioniert das auch, mein Junge. Aber irgendwann ist es damit aus und vorbei, und dann wirst du Farbe bekennen müssen. Da kommt niemand drum herum. Es ist in Ordnung, wenn du danach weiterhin den kleinmütigen Familienvater spielst und dich von deiner Ex schikanieren lässt – doch dir wird klar sein, wer du bist … auch wenn du das eigentlich gar nicht so genau wissen willst.«

Er hatte recht, der Alte. Irgendwann muss man Farbe bekennen.

Er sagte immer, dass es in unserem Beruf ärgerlicherweise eine Grenze gebe, die sich beziffern lasse, und jeder hat seine eigene, mein Junge. Meine ist die Fünfzig. Ich dachte damals, er kokettiere mit seinem Alter, denn als ich ihn kennenlernte, ging er gerade stramm auf die fünfzig zu und war trotzdem immer noch der Beste.

Erst jetzt dämmert mir, dass er nicht von Jahren sprach, sondern von Toten.

Womöglich sind fünfzehn Tote ja meine Grenze, und ich ziehe deshalb gerade alles in Zweifel.

Irgendwann kommt der Tag, an dem man seine wahre Natur nicht mehr länger verleugnen darf, hat die alte Nummer Drei gesagt. Ich werde mich dieser Herausforderung stellen. Mit dem sechzehnten »Kunden« sind meine Zweifel dann vielleicht ja alle ausgeräumt.

Nummer Dreizehn ist für ein paar Tage eingeschüchtert. Wenn er nicht vorher Leine zieht, knöpfe ich ihn mir noch mal vor.

Ist der Damm erst einmal gebrochen, gibt’s kein Halten mehr. Im Nu bin ich bei den Holzhütten der Angestellten.

Jetzt ist Sven an der Reihe, oder wie immer er auch heißen mag.

Er muss neu sein in der FIRMA, vielleicht haben sie ihn aber auch irgendwo ausgeliehen. Auf jeden Fall ist er ein Anfänger. Wenn er weiß, wer ich bin, wird er gleich einen gehörigen Schreck kriegen, und wenn nicht, wird er’s gleich am eigenen Leib erfahren.

Ich habe keinen Plan. Nur eine unbändige Wut im Bauch. Hat er sich an meinen Sohn rangemacht, damit ich davon erfahre und es als Drohung auffasse? Was zum Teufel wollen sie von mir? Warum rücken sie nicht einfach mit der Sprache raus?

Mein verletztes Auge pocht, und meine Fähigkeit, logisch zu denken, macht wohl auf einem anderen Campingplatz Urlaub.

Es tut mir leid für Sven – aber ihm wird’s noch mehr leidtun.

Die Vorhänge sind zugezogen, durch die offen stehenden Fenster hört man jedoch Musik. Was macht mich wütender: die Vorstellung, dass er meinen Sohn aushorcht oder dass er Yolanda vögelt? Zum Nachdenken bleibt keine Zeit, und wenn ich gegen die Tür hämmere, statt sie gleich einzutreten, dann nur, weil ich das Gesicht des Schweden sehen will, wenn er begreift, dass er vom Jäger zum Gejagten geworden ist.

Im Türrahmen erscheint allerdings nicht Svens Wikingerschopf, sondern eine Spanierin. Sie ist bis auf eine Schürze nackt und hält einen Wischmopp in der Hand. Auf ihrem Gesicht zeigt sich ein Lächeln, als sie mich erkennt. Bei mir dauert es etwas länger, bis der Groschen fällt. Die sympathisch wirkende Frau ist eine Kollegin von Yolanda.

»Du bist ja ganz schön ungeduldig«, scherzt sie mit einem Akzent, der nach Sevilla oder Umgebung klingt. »Hat Yolanda dir nicht gesagt, dass sie erst morgen zurück ist? Es sollte doch eine Überraschung werden …«

Aus meinem Mienenspiel schließt sie, dass ich keine Ahnung habe, wovon sie spricht.

»Oh, verdammt, jetzt hab ich’s vermasselt!« Schuldbewusst seufzt sie und reicht mir dann die Hand. »Hallo, ich bin übrigens Carmen.«

Mir schießt durch den Kopf, dass wir von Weitem wohl aussehen wie eine Hausfrau und ein Staubsaugervertreter, der ihr Vertrauen zu gewinnen versucht. Nur dass ich außer einer Shorts und sie außer der Schürze nichts anhaben. Sie bittet mich hinein, denn jetzt ist die Überraschung eh vergeigt, und du kannst mir das Bett aufbauen helfen.

Die Hütte ist dieselbe wie vor ein paar Stunden, aber Carmen hat sie einem Großputz unterzogen, und es riecht nun überall nach Piniennadeln.

Die energische Animateurin redet wie ein Wasserfall, während sie ein paar Kartons ausräumt, und so erfahre ich, dass Yolanda die Hütte blitzblank haben wollte, damit wir statt in meinem Zelt hier schlafen können. Bisher habe sie die Hütte mit Yolanda geteilt, aber ich bin bei Kolleginnen untergekommen, zwei, die sich besser kennenlernen wollen, wollen schließlich allein sein, erklärt sie leicht errötend und bittet mich dann inständig, Yolanda nicht zu verraten, dass sie die Überraschung verdorben hat. Ich schwöre es ihr, und da sie mich schon mal zu Wort kommen lässt, nutze ich die Gelegenheit, um gleich auch noch den Irrtum aufzuklären: Eigentlich wollte ich ja Sven besuchen, um über die Fortschritte meines Sohnes beim Schwimmen zu sprechen.

»Ah, jetzt verstehe ich! An und für sich wohnt er ja schon hier. Aber Yoli hat ihn heute Morgen gefragt, ob er mit ihr tauscht, weil die hier mehr … Privatsphäre zulasse. Svens Hütte ist jetzt die sechste von hier aus.«

Ich bin ein Idiot. Ein Vollidiot. Bis gestern Abend hat Sven hier gewohnt. Yolanda wollte nur die Zeit, die wir miteinander verbringen, romantischer gestalten.

»Außerdem kann man in dieser hier nachts das Meer hören«, erklärt Carmen nun und deutet auf einen Bretterhaufen neben der Tür. »Sag, wo hättest du gern das Bett?«

Das ist ebenfalls neu. Bis vor ein paar Stunden gab es hier nur zwei schmale Betten, aber jetzt warten die Teile eines Doppelbetts darauf, aufgebaut zu werden. Ich zeige zum Fenster, von dem aus man am besten die Brandung hört, und helfe Carmen beim Aufstellen.

Dabei frage ich sie beiläufig, wie lange sie Yolanda schon kennt, worauf sie »Oh, erst ein paar Monate« erwidert, was sich aber so anhört, als würden sie schon das ganze Leben lang miteinander befreundet sein. Ich beneide sie: Es muss schön sein, ohne Argwohn durch die Welt zu gehen, ohne die ständige Furcht, dass ein Freund dich jeden Moment umbringen kann.

»Und jetzt geh«, bittet sie mich danach mit sanfter Stimme. »Wenn Yoli mitkriegt, dass du schon hier warst, bringt sie mich um.« Lächelnd schüttelt sie den Kopf. »Es hat sie echt schwer erwischt. Dabei lässt sie sich normalerweise nicht so schnell den Kopf verdrehen …«

Verzeih mir, Yolanda.

Ich verabschiede mich verwirrt und gehe an den Hütten entlang, zähle bis sechs. Doch noch bevor ich an die Tür klopfe, stockt mir das Blut in den Adern. Drinnen vögeln ein Mann und eine Frau mit wildem Eifer. Gibt es auf diesem Campingplatz denn keine andere Beschäftigung?

Sofía.

Bitte, bitte lass es Sofía sein.

Es muss einfach Sofía sein.

Ich halte die Luft an, lausche angestrengt und versuche anhand des Stöhnens herauszufinden, wer die Frau ist, die hinter der Holzwand auf den Orgasmus zusteuert. Es ist wie das Spiel mit den weißen Blütenblättern der Margerite: Mit jedem Stöhnen ändere ich meine Meinung. Es ist Yolanda … sie ist es nicht … sie ist es, meine Fingerspitzen spüren noch ihre Haut, mein Mund schmeckt noch den Duft ihres Geschlechts, das spült keine Dusche so schnell fort, sie ist es nicht, wie ihr Körper sich vor Lust aufbäumte, als ich in ihr war, sie ist es, ihr Stöhnen, das ich mehr auf ihren Lippen zu sehen glaubte, als es zu hören, sie ist es nicht, das aber laut und deutlich zu vernehmen war und das ich immer noch höre, sie ist es, es klingt nach feurigem Blut und gleichzeitig hell wie vom Wind gepeitschtes Glas, sie ist es nicht, nach entfesselter, heißer Wollust, sie ist es, nach einem warmem Fluss, Lava und Jasmin, wie ein Erdbeben mit mehreren Stößen, sie ist es nicht, animalisch und heftig, ein Salto mortale von Wolke zu Wolke, sie ist es …

In Polizeimanier hämmere ich gegen die Tür. Drinnen ist ein Fluch auf Schwedisch zu hören, das Stöhnen der Frau, die es ist oder vielleicht auch nicht, und dann taucht ein hochroter Sven im Türrahmen auf, das noch erigierte Geschlecht kaum hinter der Holztür verborgen.

Als er mich sieht, erschrickt er. Er und sein Schwanz, der augenblicklich erschlafft.

Durch den Türspalt blicke ich in einen Spiegel, in dem ein nackter Frauenkörper zu sehen ist. Nur die Oberschenkel und der Po. Das reicht nicht. Zwar kann man sich in einer einzigen Nacht unsterblich in eine Frau verlieben, aber da ist so viel kennenzulernen, dass man sich kaum an solche Details erinnern kann.

Sven steht da und sieht mich an. Nach dem ersten Schreck wartet er ab. Und ich rufe Juanito an, der mir sogleich zu Hilfe eilt.

»Ich … vielleicht habe ich keinen guten Moment erwischt«, stammele ich. »Aber ich wollte … ich wollte Ihnen dafür danken, dass Sie sich so um meinen Sohn kümmern.«

Er holt Luft. Alles in Ordnung: Er schöpft keinen Verdacht. Ein Satz und die Miene eines schüchternen Mannes genügen ihm, um sich wieder zu entspannen. Keine Ahnung, wo die FIRMA ihn herhat, aber er wird es in diesem Beruf nicht weit bringen.

Allerdings: Was hätte er in so einer Situation auch sonst tun sollen?

»Sich ganz normal verhalten«, hat mir die frühere Nummer Drei für solche Fälle geraten. »Nehmen wir einmal an, du hast auf der Toilette einer Cafeteria jemanden ins Jenseits befördert, okay? Gerade bist du dabei, ihn mit runtergelassenen Hosen auf die Kloschüssel zu setzen, damit die anderen Gäste erst mal glauben, der Typ hätte die Scheißerei, da kommt irgend so ein Depp rein und rüttelt an der Kabinentür. Wenn du einen Schreck kriegst, musst du den armen Trottel auch abknallen. Und wenn du zögerst, kommt er vielleicht auf die Idee, dass da etwas nicht stimmt, und holt in der Cafeteria Hilfe. Nein, in so einer Situation muss man einfach verärgert ›Besetzt!‹ schreien, so, als hätte er dich gerade mitten beim Scheißen unterbrochen. Darauf macht es sich der Kerl garantiert auf der am weitest entfernten Klobrille bequem, und falls er beim Rausgehen dann doch noch auf die Idee kommt, unter der Tür durchzusehen, wird er glauben, dass dein ›Kunde‹ immer noch kackt, während du längst über alle Berge bist.«

»Und wenn es nur eine Kabine gibt und er deshalb beschließt, vor der Tür zu warten?«

»Dann denk an Lektion zwei, mein Junge: Leg niemanden in einem Scheißhaus mit nur einer Kloschüssel um.«

Sven hatte jedenfalls keinen so hervorragenden Mentor wie ich. Wenn man in seiner eigenen Hütte und außerhalb der Arbeitszeit wegen einer Lappalie beim Vögeln unterbrochen wird, schlägt man dem Störenfried normalerweise die Tür vor der Nase zu. Eine Lektion, die der blonde Schwede anscheinend nicht gelernt hat. In seinem gebrochenen Spanisch erklärt er mir, dass Antonio sehr sportlich sei und nur etwas mehr Selbstvertrauen bräuchte, um alles zu erreichen, was er wolle. Und damit nicht genug: Schüchternen Kindern wie meinem Sohn tue FKK zudem sehr gut, weil es sie von Komplexen befreie. Sven doziert drauflos, als ginge es um sein Leben. Will er mit dem Geschwalle davon ablenken, dass er mit jemandem gevögelt hat, mit dem er das nicht sollte, und ich das unter keinen Umständen erfahren darf?

Die Frau wühlt jetzt in einer Handtasche, aber im Spiegel kann ich nur ihre Hand und die Tasche erkennen. Wie sah Yolandas Handtasche aus? Wie ihre linke Hand? Und was sucht sie? Zigaretten? Oder eine Waffe, falls Sven nicht verhindern kann, dass ich die Bude stürme?

Der Schwede quasselt nervös weiter. Er schwitzt, doch es ist nicht mehr derselbe Schweiß wie gerade eben, sondern kalter Angstschweiß, der ihm in dicken Tropfen auf der Stirn steht; er traut sich weder, die Tür zuzumachen, noch, sich umzudrehen, um zu sehen, was ich entdeckt habe.

Ich werde jetzt jedenfalls reingehen, ob er will oder nicht.

Ich krame in meiner Hosentasche nach dem Handy und rufe mir die Tastenkombination in Erinnerung, die die Metallklinge herausschnellen lässt, während ich im Spiegel beobachte, wie die Frau sich nach vorne beugt. Gleich werde ich ihr Gesicht sehen.

In diesem Moment vibriert mein Handy.

Ich blicke aufs Display. Eine unbekannte Nummer. Es ist völlig absurd, aber ich nehme das Gespräch an, obwohl das Sven einen Vorteil verschafft, falls er mich gleich angreifen will.

Die Stimme einer Frau. Yolanda. Erst vor ein paar Stunden, als sie nach Cartagena aufgebrochen ist, habe ich ihr meine Nummer gegeben.

»Ich vermisse dich, Juan. Ganz schrecklich. Kannst du sprechen, oder störe ich gerade?«

Ich zögere, bevor ich antworte, denn ich überlege fieberhaft. Sie spricht ziemlich laut. Wenn sie drinnen vom Bett aus spräche, müsste ich ihre Stimme auch gleichzeitig in der Hütte hören. Oder nicht?

»Juan?«, fragt sie.

Die Frau im Bett hat sich aufgesetzt.

Im Spiegel sehe ich ihr Gesicht.

Sofía hat sich eine Zigarette angesteckt.

»Ja«, antworte ich. »Ja, ich kann sprechen.«

Ich mache Sven gegenüber eine entschuldigende Geste, doch statt die Tür endlich zuzuknallen, bleibt er abwartend stehen.

»Ich wollte dir nur sagen, dass mit dem Geschäftsführer alles gut gegangen ist. Und dass ich mit einem Kollegen die Hütte getauscht habe, und in der steht jetzt ein Doppelbett ganz für uns allein! Ich wollte dich bei meiner Rückkehr eigentlich damit überraschen, aber … ich bin hier so allein und … ich überlege gerade, ob du das überhaupt willst … vielleicht war das gestern Nacht und heute ja okay für dich, aber …«

»Und ob ich will. Natürlich will ich!«

Sofía sieht mich im Spiegel an.

Und zwinkert mir zu.

Flüchtig klopfe ich Sven zum Abschied auf die Schulter und gehe dann mit federnden Schritten davon.

Es ist mir egal, wer er ist und was er jetzt denkt: Das Handy ans Ohr gepresst, will ich nur noch allein mit Yolanda sein, mit ihr schäkern und all die albernen Koseworte austauschen, die sich Leute sagen, wenn sie sich lieben und begehren.

In unserer Bucht atme ich tief ein.

Es riecht nach Meer.

Es riecht nach Yolanda.

Und auch wenn ich nicht weiß, was eigentlich vor sich geht: Das kann mir keiner mehr nehmen.

Nicht einmal, wenn sie mich umbringen.