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2. Oktober 1888
Die Reliquien sind fertig. Der Pater ist noch nicht zurückgekehrt. Dabei kann er die Meldungen unmöglich überhört haben. Hat er Angst vor mir? Wird er mir Scotland Yard schicken und die Kirche ausräuchern lassen wie einen Dachsbau, ehe er sie selbst betritt? Ich kann jeden Augenblick tot sein.
Stundenlang liege ich auf meinem Bett und starre an die Decke. Es gibt keinen anderen Weg außer dem nach Burma. Ich wage nicht, darum zu beten. Ich fürchte mich. Ich habe zwei Frauen getötet, eine davon völlig sinnlos, gestern, vorgestern? Es ist, als wäre es eben gewesen, kurz vor dem Frühstück. Heute ist der zweite Oktober. Einen Monat und sieben Tage noch muss ich in London überleben. Nie hätte ich gedacht, dass mir das Bleiben mehr Angst machen würde als das Gehen. Alles hat sich verändert und in sein Gegenteil verkehrt. Nichts ist mehr klar und eindeutig.
Die Menschen draußen gefallen sich in der Rolle eines Geschöpfes namens Jack the Ripper. Die Kirche ist mein Gefängnis geworden. Ich kenne den Pater nicht mehr, weiß nicht mehr, wie ich ihn einschätzen soll. Ich kenne mich selbst nicht mehr. Und Gott?
Ich glaube nicht, dass Gott sehr viel Gefallen an meinen letzten Taten findet. Zwei Märtyrerinnen sind zwei zu viel oder zwei zu wenig.
Würde ich doch nur einen Bruchteil der Lust empfinden, die die Masse empfindet, wenn sie sich in ihrer schalen, beengten Phantasie in ihren heimlichen Helden Jack the Ripper verwandelt!
Hätte mir diese wunderbare Italienerin in der Herberge in Padua nicht das unvergessliche Sinnenerlebnis geschenkt, hätte ich Frauen heute vielleicht hassen können, wie die Öffentlichkeit es tut und es in spektakulärem Maße von mir verlangt. So empfinde ich nur Trauer für die Toten. Unbeschreibliche, mich zerreißende Trauer.
Tränen tropfen auf
An dieser Stelle brach der Text erstmals mitten im Satz ab. Tatsächlich wirkte das Papier aufgeweicht, und die allgegenwärtigen Tintenkleckse hatten eine runde, blumige Form angenommen. Man konnte sogar schätzen, wie viele Tränen auf das Papier gefallen waren – mindestens sieben waren es, und Walter Sickert drückte sich zurück in den Stuhl, damit es nicht mehr wurden.
3. Oktober 1888
Alles ist aus. Das Ende ist da. Ich bin tot, vernichtet.
Pater Ouston ist zurückgekehrt. Unwillkürlich habe ich ihn umarmt. Wie dankbar war ich ihm, dass er trotz allem zu mir zurückgekehrt war, dass er mich nicht an den Galgen brachte. Er stieß mich von sich. Ich umarmte ihn erneut. Wieder stieß er mich weg, und ich warf mich weinend auf den Boden, kroch vor ihm, bat um seine Vergebung.
Ich sei verwirrt. Ich sei krank. Ich wisse nicht, was ich tue. Zunächst dachte ich, er sei es, der all diese Worte aussprach, bis ich merkte, dass ich selbst es war, der sich damit offenbarte und entblößte. Ich schrie und wimmerte. Sagte ihm, wie durcheinander ich war. Wie leid es mir tat. Wie sehr ich zu Gott um die Ruhe der Toten betete. Dass ich ein Mörder sei. Dass ich ein Dilettant sei. Dass ich den Namen Jack the Ripper annehmen und tragen würde, wie eine Schandmaske. Dass ich fürchtete, ganz und gar den Verstand verloren zu haben. Dass ich mir nicht einmal mehr sicher war, ob das Stück Holz, welches ich in der Basilika untersucht hatte, nicht wirklich die Leber des Heiligen Antonius gewesen war.
Auch nachdem ich das Zuschlagen der Tür und seine sich entfernenden Schritte vernommen hatte, brabbelte ich noch weiter, rechtfertigte mich und bat ihn darum, bei Gott für mich um Gnade zu bitten.
Erst Stunden später erhob ich mich und sah, dass die Reliquien verschwunden waren.
Zwei Uteri, eine Niere.
Er hatte sie mitgenommen und zweifellos vernichtet.
Alles war umsonst. Nicht zwei, sondern vier Frauen starben umsonst.
Die Zeitungen haben recht. Die ungebildeten Bauern in den Straßen, die nicht einmal ihren Namen buchstabieren können, haben recht. Ich bin kein Metzger. Ich bin ein Mörder.
Wer ist der Schutzheilige der Mörder, und wann ist sein Namenstag?
5. Oktober 1888
Ich habe mit dem Pater gesprochen. Er weigert sich, mir zu sagen, warum er mich nicht der Polizei übergibt. Vielleicht weiß er es selbst nicht.
Ich habe ihm angeboten, mich selbst zu stellen. Ich bin bereit dazu, glaube ich. Ich habe die Scherben der Gläser gesehen, in denen ich die Reliquien aufbewahrte.
Burma oder der Galgen. Zwei Möglichkeiten.
Und ich stehe ohne einen Talisman da.
Sie werden mir nicht erlauben, das Rippenstück des Lazarus mit zu meiner Hinrichtung zu nehmen.
Sie werden es nicht erlauben.
Das einzig Tröstliche wird sein, dass ich die Zeitungen nicht mehr lesen kann, die nach meiner Hinrichtung mehr Wahres über mich berichten werden als ich selbst jemals über mich schreiben könnte. Falls ich einen Grabstein haben werde, wird Jack the Ripper darauf stehen.
Jack the Ripper R.I.P. – Jack the Ripper, Ruhe in Frieden. Doch je nach Lesart wird es klingen wie „Jack the Ripper, Rip!“ – „Reiße, Jack der Reißer!“ Und sie werden es alle mögen. Es wird ihrer aller Geschmack treffen, den der Reporter und den der Masse.
Reiß noch mal für uns, Jack.
Hier war ein Zeitungsartikel eingeheftet. Die Wochenzeitung berichtete erst jetzt über den Doppelmord, der bereits eine Woche zurücklag. Sickert nahm sich vor, das Zeitdokument lediglich zu überfliegen, nahm es sich dann jedoch wieder Wort für Wort vor – er konnte nicht anders.
East London Observer
Samstag, 6. Oktober 1888
DIE SCHRECKEN VON WHITECHAPEL.
Beschreibung der Opfer.
Der Londoner Osten in Panik.
Außerordentliche Enthüllungen bei den Gerichtsuntersuchungen.
Ein neues Verbrechen in Berner Street.
Während die Namen von Martha Tabram, die in George Yard durch 39 Messerstiche getötet wurde: von Mary Ann Nicholls, die in Buck’s Row grausam dahingemetzelt wurde: und von Annie Chapman, die in der Hanbury Street furchtbar zugerichtet wurde, noch in allen Haushalten der Hauptstadt als die Opfer eines geheimnisvollen Mörders bekannt sind, der seit Anfang August Whitechapel heimzusuchen scheint, fanden am letzten Sonntag in der Frühe zwei weitere unglückliche Frauen den Tod durch dieselbe Hand und in nahezu derselben Weise. Das erste Opfer, das als Elizabeth Watts oder „Lange Liz“ identifiziert wurde, eine Schwedin, die in einer einfachen Pension in der Flower and Dean Street 32 wohnte, fand man hinter einem Torbogen in der Berner Street, eine Abzweigung von der Commercial Road, die hauptsächlich von polnischen Juden und Arbeitern aus den niederen Klassen bewohnt wird, und unweit der Batty Street, wo Israel Lipski letztes Jahr seine Opfer fand. Die Tore liegen auf der rechten Seite, nach der Hälfte des Weges. Es sind einfache Holztore, auf denen die weiße Aufschrift „W. Hindley, Sackmanufakteur, und A. Dutfiled, Wagen- und Karrenbauer“ zu lesen ist (Mr. A. Dutfield allerdings hat verlauten lassen, dass er sein Geschäft verlegen ließ). Unmittelbar rechts davon findet sich der Internationale Club für Arbeiterbildung – ein gewöhnliches Haus, das in einen Club umgewandelt und mit Anschlägen in Englisch und Hebräisch beklebt ist. Ein Eingang zum Club liegt zur Straße hin, es führt jedoch auch ein Nebeneingang von dem erwähnten Hof aus hinein. Passiert man das Tor, verläuft zur Rechten eine Ziegelwand, und auf diesem Fußweg, an dieser Ziegelwand, wurde das erste Opfer gefunden. Lewis Diemschutz, der Leiter des Clubs, entdeckte die Leiche, und hier ist seine Version des Fundes: „Am Samstag“, sagte er, „ging ich vormittags um halb zwölf aus dem Haus und kehrte genau um ein Uhr nachts zurück. Ich sah die Uhrzeit in einem Tabakladen in der Commercial Road. Ich führte ein Pony mit einem Verkaufskarren. Das Pony halte ich nicht im Hof des Clubs, sondern in George Yard, Cable Street. Ich führte den Wagen nach Hause, um meine Waren dort abzuladen. Ich fuhr in den Hof ein. Beide Tore waren geöffnet – weit geöffnet. Es war ziemlich dunkel dort drinnen. Ich fuhr ein wie üblich, doch als ich ans Tor kam, scheute mein Pony nach links, und das ließ mich auf dem Boden nachsehen, was der Grund dafür war. Ich konnte etwas Ungewöhnliches auf dem Pflaster erkennen, doch ich sah nicht, was es war. Es war ein dunkler Gegenstand. Ich versuchte es mit dem Griff meiner Peitsche zu betasten, um herauszufinden, um was es sich handelte. Ich versuchte es damit anzuheben. Als mir das nicht gelang, kniete ich mich nieder und zündete ein Streichholz an. Es war recht windig, und ich konnte nur erkennen, dass es eine menschliche Gestalt sein musste – der Kleidung nach offenbar eine Frau. Ich hielt mich nicht länger auf und ging in den Club und fragte nach meiner Gattin. Sie fand ich im vorderen Zimmer im Erdgeschoss. Ich ließ das Pony alleine im Hof zurück, gleich vor der Tür. Meine Frau war mit mehreren Clubmitgliedern zusammen. Ich erklärte ihnen: ‚Im Hof liegt eine Frau, aber ich kann nicht sagen, ob sie betrunken ist oder tot.’ Dann beschaffte ich mir eine Kerze und ging hinaus. In ihrem Licht konnte ich das Blut erkennen, noch ehe ich sie erreicht hatte. Ich berührte den Körper nicht, sondern machte mich auf die Suche nach einem Polizisten. Ich durchquerte einige Straßen, ohne einen zu finden, und kehrte ohne einen zurück. Ein Herr, den ich in der Grove Street getroffen hatte und der mit mir zusammen zurückgekehrt war, hob den Kopf der Toten an, und ich sah zum ersten Mal die Wunde an ihrem Hals. In diesem Moment trafen Eagle, ein Mitglied des Clubs, sowie einige Constabler ein. Mir war nichts und niemand Verdächtiges aufgefallen, als ich mich mit meinem Pony dem Club näherte. Die Ärzte trafen etwa zehn Minuten nach den Constablern ein. Die Polizei nahm anschließend unsere Personalien auf und durchsuchte jeden. Soweit ich sehen konnte, waren die Kleider der Toten in Ordnung. Sie lag auf der Seite, ihr Gesicht zur Wand des Clubs. Sobald die Polizei eingetroffen war, verlor ich das Interesse an der Sache und ging meinen Angelegenheiten im Club nach. Ich weiß nicht, in welcher Position die Hände der Toten waren. Ich sah nur, dass der Doktor das Kleid der Toten aufknöpfte und – nachdem er die Hand auf ihre Brust gelegt hatte – einem Constabler mitteilte, sie sei noch warm. Er wies den Constabler an, seine Hand ebenfalls dorthin zu legen, und dieser tat es. Mir scheint, auf dem Boden war etwa ein halber Liter Blut. Er schien aus ihrem Hals über den Hof geronnen zu sein. Die Leiche lag ein Yard von der Mauer entfernt. Ich habe nie Männer und Frauen zusammen in diesem Hof gesehen und habe von niemandem gehört, der etwas solches gesehen hat. Während ich den Wagen zur Tür des Clubs lenkte, könnte jemand aus dem Hof entkommen sein, doch nachdem ich die Mitglieder informiert hatte, ist dort mit Sicherheit niemand mehr herausgekommen.“
DIE ENTDECKUNG IN MITRE SQUARE
Viertel vor zwei Uhr desselben Morgens fand Police Constabler Edward Watkins, 881, von der City Police beim Durchqueren von Mitre Square, Aldgate – einen kleinen Platz mit drei oder vier Lagerhallen und einem Wohnhaus – in der südöstlichen Ecke die Leiche einer weiteren Frau, deren Kopf auf dem eisernen Deckel des Kohlenkellers lag. Die Frau, offenbar etwa 40 Jahre alt, lag auf dem Rücken und war ohne Zweifel tot, wenngleich ihr Körper noch warm war. Ihr Kopf war zur linken Seite gedreht, ihr linkes Bein ausgestreckt und ihr rechtes angewinkelt. Beide Arme waren ausgestreckt. Ihre Kehle wies einen halbkreisförmigen Schnitt auf – eine schreckliche Wunde, aus der eine große Menge Blut ausgetreten war und das Pflaster in weitem Umkreis befleckte. Ein weiterer Schnitt verlief von der rechten Wange zur Nase, und ein Teil des rechten Ohrs war abgetrennt worden. Entsprechend der Vorgehensweise im Mordfall in der Hanbury Street war der Unmensch nicht damit zufrieden, sein Opfer zu töten. Die arme Frau war vollkommen ausgeweidet worden, und Teile ihrer Innereien lagen auf ihrem Hals, gleich neben der dortigen Wunde.
„ICH BIN NICHT DER MÖRDER.“
Mrs. Lindsay aus der Duke Street, deren Mann ihre Aussage bestätigte, und Miss Solomon aus derselben Straße, meldeten einen außergewöhnlichen Vorfall und berichteten, dass sie während der Nacht durch Stimmen von der Straße her geweckt wurden, und als sie aus dem Fenster blickten, einen Mann mit einem Regenschirm und einem Paket sahen, der eilig davonlief und deutlich sagte: „Ich bin nicht der Mörder.“
Eine Reihe kurzer Einträge schloss sich an. Sickert las die ersten sehr hastig und die letzteren äußerst aufmerksam und genau, wie Gebete. Er zerbiss die Haut neben seinen Fingernägeln, presste seine Füße gegen den Fußboden, bis sie schmerzten, und knirschte mit den Zähnen, während er die letzten Seiten des Tagesbuchs verschlang. Es war, als versuche sein Körper sich selbst zu zerstören, ehe er ans Ende der grausigen Aufschriebe gelangen konnte.
8. Oktober 1888
Der Pater hält mich wieder gefangen. Verständlich. Ich habe nichts dagegen.
Angeblich hat er dafür gesorgt, dass meine Fahrt nach Mandalay ausgesetzt wird. Ich weiß nicht, warum er es sagt, aber ich glaube, dass er lügt. Am Anfang hieß es, nur mein Tod könne mich davon befreien.
11. Oktober 1888
Ich bin wahnsinnig. Ich höre Stimmen. Wenn ich Stimmen höre, ist das ein Zeichen, dass ich wahnsinnig werde, nicht wahr? „Töte mehr Frauen“, flüstern sie. „Reiße noch einmal für uns, Jack.“
Nein, es sind keine Stimmen. Ich flüstre es mir selbst vor. Ich bin nicht verrückt genug, um zu halluzinieren, aber verrückt genug, um irres, gefährliches Zeug zu sagen.
Wann werde ich hängen? Will er mich tatsächlich verschonen, nach allem, was ich tat? Will er mich hier unten von meinem Wahn kurieren und dann nach Burma schicken? Glaubt er, dass ich den armen Sündern dort unten die wahre göttliche Botschaft überbringen kann, sobald Gott mich, den schlimmsten Sünder, den diese Erde je sah, mit seiner Gnade aus der Finsternis errettet hat?
Wird Gott es schaffen, bis zum 9. November? Noch vier Wochen. Ich fühle mich noch lange nicht errettet. Ich stehe auf einer Treppe, und jeden Tag tut sich eine neue Stufe vor mir auf – doch immer nur weiter hinab in die Tiefe …
18. Oktober 1888
Wenn ich bis in drei Wochen gesund werden soll, muss Gott sich beeilen. Ich renne manchmal schreiend durchs Zimmer und höre erst auf, wenn meine Kehle wund ist und wie Feuer brennt. Ich schlafe in kurzen, unregelmäßigen Intervallen. Ich spreche mit den Schatten in meiner verriegelten Kammer, als wären es meine Reliquien. Doch in den Schatten ist nichts als Leere.
20. Oktober 1888
Ist meine Mutter tot? Ich würde ihr gerne einen Brief schreiben, aber ich weiß nicht, was ich schreiben soll. Sie sorgt sich gewiss um mich. Sicher hat sich davon gehört, wie unsicher der Londoner Osten geworden ist, mit den Rippermorden und den aufgebrachten Menschenmassen …
24. Oktober 1888
Heute habe ich bemerkt, dass mein Chirurgenkoffer noch immer unter meinem Bett steht. Alle Messer sind vorhanden. Es kann kein Zufall sein. Der Pater kann es nicht vergessen haben.
Was hat das zu bedeuten? Ich fahre mit den Klingen über meinen nackten Körper, als wolle ich mich von dem feinen Haarflaum befreien. Natürlich denke ich daran, damit zuzustoßen und meinem Dasein ein Ende zu machen. Natürlich. Doch der Termin meiner Abreise rückt näher. Noch zwei Wochen. Lieber möchte ich nach Burma fahren als zu sterben. Auch ohne Talisman.
Wenn ich nur endlich diesen ripperverseuchten Londoner Osten verlassen könnte! Ich schwöre, es würde mir besser gehen. Selbst hier unten spüre ich die Anwesenheit dieses Mörders.
Richtig. Ich bin es ja selbst. Und ich muss heute wahnsinniger sein denn je zuvor, sonst hätte ich es nie vergessen können.
27. Oktober 1888
Jetzt habe ich begriffen, wie alles zusammenhängt. Pater Ouston kann mich nicht der Polizei übergeben, sonst würde herauskommen, dass er gelogen hat, als dieser Sergeant Keelie bei uns war. Man könnte ihn dafür ebenfalls an den Galgen bringen, mindestens aber ins Zuchthaus.
Vielleicht wäre ihm geholfen, wenn ich mich selbst töten würde. Er scheint darauf zu hoffen, sonst würde er mir mein Chirurgenwerkzeug nicht weiterhin anvertrauen. Mir, einem Verrückten!
28. Oktober 1888
Nein, selbst wenn ich mich tötete, würde seine Lüge auffliegen. Was führt er dann im Schilde?
Es gibt nur eine Antwort: Er muss darauf hoffen, dass ich ihm eines Tages mit einem der Messer die Kehle durchtrenne, wenn er in die Kammer kommt, um mir das Essen zu bringen.
Schrecklich! Es ist schrecklich! In welche Verzweiflung habe ich diesen guten alten Mann getrieben?
1. November 1888
Ich habe den Pater darum gebeten, mir Bücher über Geisteskrankheiten zu besorgen. Will versuchen, mich selbst zu kurieren. Ich bin Chirurg und habe von Eingriffen gehört, die manische Zustände kurieren können. Ich würde mir zutrauen, eine einfache Operation an mir selbst auszuführen, wenn mir ein starkes Schmerzmittel und ein Spiegel zur Verfügung stünden.
Der Pater hat abgelehnt. Natürlich. Es wäre auffällig, würde er sich jetzt in öffentlichen Bibliotheken oder Buchhandlungen nach Büchern über gefährliche Geistesstörungen umsehen.
Es scheint keinen Ausweg aus meinem Irrsinn zu geben.
Statt der gewünschten Lektüre bringt er mir geistliche Bücher aus seiner privaten Bibliothek. Das ist besser als nichts. Es hält meinen Verstand beschäftigt und verhindert, dass ich weiterhin Dinge tue, von denen ich nicht weiß, ob sie einer Krankheit entspringen oder ob ich sie nur unternehme, um mir die Diagnose zu erleichtern. Ist es Wahnsinn, sich für wahnsinnig zu halten?
6. November 1888
Drei Tage bis zu meiner Abreise. Der Pater besucht mich nun öfters und scheint mich aufmerksam zu beobachten. Ich verstehe. Er hofft, dass ich die Reise bei guter Gesundheit antreten kann. Er zählt auf mich. Natürlich hat er sie nie abgesagt. Dass ich nach Burma verschwinde, ist seine einzige Chance, unbescholten aus der Sache herauszukommen.
„Sie müssen mir versprechen, drüben keine Frauen zu töten“, sagte er mir vor einer Stunde mit überraschender Klarheit. Die Zeit für Versteckspiele ist vorüber. Noch drei Tage. Kein Raum mehr für Lügen.
„Ich verspreche es, solange ich bei Sinnen bin“, antwortete ich. „Doch wenn der Irrsinn von mir Besitz ergreift, kann ich für nichts garantieren.“
„Dann müssen Sie dafür sorgen, dass er Ihnen fernbleibt“, erwiderte er mit unbestechlicher Logik. „Ich werde übermorgen den Schlüssel abziehen und Ihnen bei Ihren Vorbereitungen helfen. Ich vertraue Ihnen. Denken Sie daran. Ich vertraue Ihnen, obwohl Sie mich immer wieder enttäuscht haben – ganz, wie der Herr es uns lehrt.“
Ich nickte. Drei Tage. Zwei, bis die Tür aufging. Wenig Zeit, um den Wahnsinn zu besiegen.
Als er gegangen war, blätterte ich wieder in den Büchern, die er mir gebracht hatte. Seit Wochen habe ich nicht mehr gebetet, nicht mehr zu Gott geredet, und er hat nicht zu mir gesprochen. Es gibt eine Chiffre, in der er sich mir immer mitgeteilt hat …
Der 9. November, der Tag meiner Abreise, ist der Tag des Aurelius von Rifitio. Wer immer dies liest, kann sich nicht vorstellen, wie ich erschrak, als es mir bewusst wurde.
Wieder ist es ein Mosaik, bei dem jedes Steinchen zum anderen passt und es zu einer unbestreitbaren Tatsache werden lässt, dass Gott direkt zu mir spricht.
Erstens: Ich habe nur drei Tage Zeit, um meinen irr gewordenen Verstand in Ordnung zu bringen. Ich muss es tun, muss nach Burma gehen und dem Galgen entfliehen, nicht um meiner Willen, sondern um des armen Paters Willen, der unschuldig in die Sache hineingeraten ist und über lange Wochen hinweg mein Leben verschont hat. Drei Tage, um meinen kranken Kopf zu kurieren und den seinen aus der Schlinge zu ziehen.
Zweitens: Der Pater wird mich am Vortag meiner Abreise in die Freiheit entlassen, und mein Schiff geht am neunten gegen acht Uhr morgens.
Drittens: Aurelius von Rifito ist der Schutzheilige gegen Kopfkrankheiten.