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Das Schiff, das der Kunstmaler Walter Sickert am 10. Mai 1903 im französischen Dieppe bestieg, nahm eine große Zahl Reisender auf, die bereits einen weiten Weg hinter sich hatten. Viele kamen aus Indien oder den britisch besetzten Ländern „dahinter“, und die bunte Mischung aller Rassen und Berufsstände, die sich an Bord aufhielten und sich gegenseitig mit unverhohlener Neugier musterten, regte seine Fantasie an. Mehrere Bilder entstanden in seiner Vorstellung, und er fertigte eine Zahl von Skizzen an, wie er es stets tat, wenn er auf Reisen war.
Seit fünf Jahren lebte er in Frankreich, doch als seine Heimat sah er noch immer England an. Die Scheidung von seiner Frau war ein Auslöser für ihn gewesen, seine Lebensumgebung zu wechseln, und dies, obwohl sich die Londoner Öffentlichkeit eben für seine impressionistische Kunst zu interessieren begann. Der Gedanke, eines Tages in die britische Metropole zurückzukehren und dort erneut ein Studio zu eröffnen, begleitete ihn die ganzen Jahre über, und mehrmals fuhr er auf die Insel hinüber, um das sich wandelnde London anzusehen und Pläne für eine Rückkehr dorthin zu schmieden – die Schiffsverbindungen von Dieppe aus waren günstig.
An diesem kühlen, regnerischen Frühlingstag bereitete es Sickert großes Vergnügen, die Menschen dabei zu beobachten, wie sie sich gegenseitig taxierten. Nicht nur Künstler verfügen über eine blühende Vorstellungskraft, und einige der illustren und exotischen Gestalten verführten selbst den nüchternsten Kaufmann zu kurzweiligen Tagträumen über die bizarren Abenteuer, die diese oder jene Person erlebt oder noch vor sich haben mochte.
Walter Sickert fiel ein hagerer Mann mit leicht hervortretenden Augen auf, der das Gewand eines Geistlichen trug und den die Reise nach England sichtlich nervös machte. Dass der Maler diesen verhältnismäßig unscheinbaren Passagier während der ganzen Reise nach London immer wieder interessiert betrachtete, lag daran, dass er einen Schatten hatte.
Ein kleiner, agiler Mann mit heller Haut und dunklen Haaren verfolgte offenbar jeden Schritt des Kirchenmannes. Nicht, dass er es auffällig und ungeschickt tat – vermutlich hatte weder der Beschattete noch irgendeiner der anderen Reisenden etwas bemerkt, doch dem geschulten Auge eines Malers konnte es nicht entgehen. Obwohl der kleine Kerl nicht explizit nach Ganove roch, umgab ihn die Aura des Verbrechens, und Sickert fragte sich, welches Interesse er an dem Geistlichen haben mochte. War der Kleriker reicher, als es den Anschein hatte?
Als das Schiff in die Themse einfuhr und sich der Hauptstadt des britischen Empires näherte, wurden beide – der Beobachter und sein Objekt – zusehends unruhiger. Das Gesicht des Kirchenmannes zuckte vor Anspannung, während der kleine Kerl mit den dunklen Haaren fahrig in seinen Taschen kramte.
Walter Sickert nahm sich vor, auch beim Aussteigen in der Nähe der beiden zu bleiben und herauszufinden, ob der Schatten seinem Opfer weiterhin folgen würde. Hinter der fröhlichen Bordkulisse verbarg sich die Andeutung einer kriminellen Tat, und der Maler, der sich keineswegs als Freizeitdetektiv verstand, war fasziniert von seiner eigenen Fähigkeit, das zu erkennen, was für andere unsichtbar blieb.
Das Schiff legte an, und Sickert hatte alle Mühe, die beiden nicht aus den Augen zu verlieren.
Der Geistliche trug einen Koffer und eine kleine Tasche bei sich. Kaum war er von Bord gegangen, sah er sich unsicher um. Entweder, er wartete auf jemanden, oder er konnte sich nicht recht entscheiden, in welche Richtung er sich wenden sollte. Er musterte auffällig die Umgebung, wie jemand, der noch nie oder lange Zeit nicht mehr an diesem Ort gewesen war.
Es war früher Abend, gerade eben sechs Uhr, doch der dunkle Himmel schien zusammen mit dem immer dichter fallenden Regen alles daran zu setzen, den Tag zur Nacht zu machen. Der Kirchenmann ging mit seinem Gepäck nach Norden davon, ohne eine Kutsche zu rufen. Der Kleinere, der nur eine Stofftasche bei sich trug, folgte ihm in einiger Entfernung.
Walter Sickerts Herz begann zu pochen.
Das Schiff hatte in der Nähe des Towers angelegt. Von dort aus war es in nördlicher Richtung nur eine halbe Meile bis zum Stadtteil Whitechapel, der vor anderthalb Jahrzehnten durch die traurige Serie grauenhafter Morde von sich reden gemacht hatte und – entgegen aller Bemühungen der Politiker und Anwohner – bis heute ein Schandfleck der Metropole geblieben war. Sickert hatte mehrere Male als Atelier in Frage kommende Räumlichkeiten in Whitechapel und dem benachbarten Bethnal Green besichtigt, sich jedoch trotz der verlockend niedrigen Preise nie entschließen können, dort einzuziehen. Die Armut und das florierende Nachtleben hatten ihn stets mehr abgestoßen als inspiriert.
Zeit zum Nachdenken blieb ihm keine. Wollte er die Spur der beiden Männer nicht verlieren, musste er sich sputen. Er behielt den Verfolger stets im Auge; falls der Kleine sich umwandte und ihn entdeckte, musste er wohl oder übel aufgeben und einen anderen Weg einschlagen. Während er versuchte, sich die Position der Polizeistationen ins Gedächtnis zu rufen – für alle Fälle –, folgte er den beiden Männern durch den Regen in Richtung Norden. Der Geistliche bog in eine der dunkleren Seitengassen ein und begann plötzlich zu rennen. Sein Verfolger tat es ihm gleich. Es gab einen dumpfen Schlag, als der Fliehende seinen Koffer fallen ließ.
„Mach keinen Unsinn“, keuchte der Maler im Selbstgespräch, und doch lief er den beiden hinterher, als wäre er durch einen unsichtbaren Marionettenfaden mit ihnen verbunden. Zwischen den engstehenden Häusern herrschte nahezu Finsternis. Die Gaslaternen standen nur vereinzelt und waren kein ernstzunehmender Gegner für die Dunkelheit.
Kein Zweifel, der Kirchenmann hatte seinen Verfolger bemerkt und versuchte ihn abzuschütteln. Ein sinnloses Unterfangen – er war älter und unbeweglicher als der flinke Kleine, und seine weite Kleidung behinderte ihn bei jeder Bewegung. Was Walter Sickert nicht verstand, war der Hang des Fliehenden, die großen Straßen zu meiden und sich immer tiefer in den schlecht ausgeleuchteten Gassen zu vergraben. Die belebten Straßen Whitechapels waren nicht mehr weit und hätten ihm seinen Verfolger vom Hals schaffen können.
Hätte Walter mehr Zeit zum Kombinieren gehabt, hätte er zu dem Schluss kommen müssen, dass der Geistliche diesen Teil Londons ausgesprochen gut zu kennen schien und außerdem alles daran setzte, nicht von einer großen Anzahl Menschen gesehen zu werden. In diesen gedankenlosen Augenblicken allerdings konnte der Kunstmaler sich nur darauf konzentrieren, den beiden zu folgen, ohne sich selbst der Entdeckung preiszugeben.
Es dauerte nicht lange, da entledigte sich der Kirchenmann auch seiner Tasche. In hohem Bogen schleuderte er sie durch die Luft, und Sickert glaubte erkannt zu haben, wie sie knapp über eine Mauer hinweg flog und im Hinterhof landete, der sich daran vermutlich anschloss.
Der kleinwüchsige Verfolger blieb für einen Moment stehen und schien die Höhe der Mauer abzuschätzen. Offenbar wägte er ab, welches von beidem ihm wichtiger war – die Tasche oder der Mann. Er entschied sich für den Mann, wohl, weil er annahm, zu einem späteren Zeitpunkt hierher zurückkehren und sich die Tasche sichern zu können. Den Kunstmaler, der seinerseits ihn verfolgte, hatte er nicht bemerkt.
Walter Sickert verlangsamte seine Schritte. Er war außer Atem und gab die Verfolgung auf. Ihn interessierte die Tasche, denn dass sie von besonderer Relevanz war, stand außer Zweifel. Wie der Geistliche sie mit aller Kraft über die Mauer geschleudert hatte, sprach Bände.
Während sich die Schritte der beiden Männer entfernten, erforschte Walter Sickert die Umgebung. Zwei Laternen erhellten den Ort, eine aus nächster Nähe, die andere vom Ende der Gasse her. Die Örtlichkeiten hinter der Mauer lagen gewiss in tiefster Finsternis, doch die dort hinabgefallene Tasche zu finden, würde auch ohne Licht keine Schwierigkeit darstellen.
Es regnete noch immer. Das Straßenpflaster glänzte schwarz wie die Schuppenhaut eines Dämons, und die etwa mannshohe Mauer wirkte glitschig. Sickert wollte sich die Zeit, einen Zugang zu dem Hinterhof zu suchen, nicht gönnen. Wahrscheinlich war der Ort nur von der nächsten Parallelstraße aus zu erreichen, wo es möglicherweise von Passanten wimmelte. Hier war es ruhiger. Die Fenster der Nachbarhäuser waren bis auf ein oder zwei nicht erleuchtet, und niemand schien in diesen Minuten hinaus in den Regen zu sehen.
Kurzentschlossen kletterte er über die Mauer und fand die Tasche in der aufgeweichten Erde des Innenhofes. Er presste sie an sich und nahm den gleichen Weg zurück über die Mauer. Seine Fußspuren würde der stetig stärker werdende Regen in kurzer Zeit verwischt haben.
Mit klopfendem Herzen trat er den Weg zu einer Herberge im nahen Wapping an, wo er schon oft genächtigt hatte, wenn er in London weilte. Er hatte den festen Vorsatz, die Tasche noch im Verlauf dieser Nacht der Polizei zu übergeben, doch bevor er das tat, wollte er einen kurzen Blick auf ihren Inhalt werfen.