9
Es war ein Kellerraum; es roch darin nach feuchter Kohle und saurem Schimmel. Der Boden war, soweit die beiden gelben Petroleumlampen das erkennen ließen, notdürftig gesäubert worden, während von der Decke der Moder rieselte. Was diesen Raum so unheimlich machte, war seine Schwärze. Die Wände waren vom Kohlestaub geschwärzt und wirkten wie verbrannt. Dieser Ort mutete an wie eine schlichte, uninspirierte Imitation der Hölle.
Alan Spareborne war an eine Art Holzkreuz gefesselt worden. Seile banden ihn an die Konstruktion. Wo sie ihn hielten, drückten sie ihm das Blut ab, und er hatte das Gefühl, am Gewicht seines eigenen Körpers sterben zu müssen. Er trug noch immer seine Kleidung, doch die Schuhe waren ihm ausgezogen worden. Drei Schritte vor ihm, nahe an der gegenüberliegenden Wand, stand ein klobiger, morscher Tisch, darauf ruhte eine der beiden Lampen – die andere hing von der Decke herab –, und eine Frau saß dahinter, mit langen blonden Haaren und einer dunklen Haube. Sie hatte den Kopf gesenkt und schien lautlos zu weinen.
Es gab nur ein einziges Fenster im Raum, ein wenig oberhalb des Ortes, wo die Frau saß – eine vergitterte, kleine Luke, hinter der Alan das Gesicht eines alten Mannes zu erkennen glaubte.
„Er ist erwacht, Mary“, sagte eine raue Stimme, die zu diesem Gesicht gehören musste – die Schatten waren zu dick, um eine Bewegung des faltigen Mundes erkennen zu lassen. „Deine Arbeit beginnt. Verrichte sie gewissenhaft, und du wirst reich belohnt werden.“
Die Frau zuckte hoch wie eine Marionette, deren Fäden plötzlich gerafft wurden. Sie wischte sich die Tränen von den Wangen und starrte Alan an. Er seinerseits sah sie an. Atemlose Stille herrschte für einige Sekunden in dem unterirdischen Raum, als die beiden Menschen sich taxierten.
Die Frau war jung und durchaus hübsch. Die kleine Narbe an ihrem Kinn zerstörte nicht die Ebenmäßigkeit ihrer Züge, und selbst die geröteten Augen und die vom Weinen geschwollene Nase vermochten die Anmut dieses mädchenhaften Gesichts nicht zu verbergen. Ihre Augen verrieten, dass sie viel Härte und Pein erlebt haben musste, doch ihre Züge hatten noch keine Zeit gehabt, all die Qualen zu dokumentieren. Sie wirkte wie eine Gefangene, und Alan fühlte sich ihr spontan verbunden, doch sie war nicht gefesselt, und er vermutete, dass sie diesen Raum verlassen konnte, wenn sie es wirklich wollte. Etwas hielt sie hier, bei ihm, war stärker als ihre nur zu offensichtliche Angst.
Die Belohnung, die der Alte ihr in Aussicht stellte.
Die Kleidung und das Gebaren der Frau weckte in Alan Spareborne die Annahme, es könne sich um eine Prostituierte handeln. Ein Straßenmädchen namens Mary …
Alan war zu diesem Zeitpunkt nicht in der Lage, die Umstände dieser Situation zu durchschauen. Er spürte nur, dass er auf schreckliche Weise in Gefahr war.
Erst jetzt entdeckte er die beiden Gegenstände, die vor der Frau auf dem Tisch lagen. Das eine war nichts als ein Schreibblock, und er konnte aus dieser Entfernung nicht entdecken, ob die oberste Seite leer oder beschrieben war. Doch da ein Schreibgerät nirgends zu sehen war, musste er davon ausgehen, dass von der Frau nicht erwartet wurde, etwas hineinzuschreiben. Sie sollte vielmehr etwas davon ablesen. Weitaus mehr fesselte seine Aufmerksamkeit das zweite Objekt. Es war ein langes Messer, wie es auch zu seiner Chirurgenausrüstung gehört hatte. Die Klinge war poliert worden – und gewiss nicht nur das. Sie blitzte ihn bedrohlich an.
Die Frau schien etwas sagen zu wollen, doch die Stimme aus dem winzigen Fenster hinter ihr meinte ruhig, aber mit Nachdruck: „Fang an. Jetzt.“
Verwirrt tastete das Mädchen nach dem Schreibblock, rückte die Lampe näher und folgte mit dem Zeigefinger offenbar einer Zeile. Dann vernahm Alan zum ersten Mal ihre Stimme. Leicht und dünn war sie, wie die eines Schulmädchens.
„Sind Sie … Mr. Alan Spareborne?“, lautete ihre erste Frage. Sie las langsam und stockend; allem Anschein nach hatte sie wenig Übung im Lesen und setzte die Buchstaben mühsam zu Wörtern zusammen. Bei der Abkürzung für „Mister“ blieb sie hängen und machte drei hilflose Versuche, die beiden Lettern auszusprechen, bis sie hinter ihr Geheimnis kam.
Alan empfand Mitleid mit dem jungen Ding.
„Ja“, erwiderte er und räusperte sich mehrmals. Seine Stimme klang kalt, glitschig und klamm wie dieses unterirdische Verlies. „Mein Name ist Alan Richard Spareborne.“ Was für einen Sinn machte es, irgendetwas zu leugnen? Das Mädchen und das Chirurgenmesser hypnotisierten ihn. Er hatte nicht das Gefühl, dass sie den Mut haben würde, das Messer auch nur zu berühren. Aber da war ein Schatten hinter ihr, und Alan spürte, dass er für jede Lüge, die er aussprach, große Schmerzen würde erleiden müssen.
Das Mädchen nickte. Ob sie seine Worte wirklich gehört hatte, stand zu bezweifeln. Offenbar hakte sie in Gedanken nur die erste Frage ab, nachdem sie sie gestellt hatte. Wie viele mochten noch auf ihrer Liste stehen?
„Sie sind katholischer Geistlicher?“
„Ja, das bin ich.“
„Sind Sie … Jack the Ripper?“
Alan hatte die Frage erwartet und war doch überrascht, dass sie so früh kam. Die Frau sah ihn jetzt an. Ihre weiße Stirn war gerunzelt. Zum ersten Mal zeigte sie so etwas wie echtes Interesse. Sie wollte seine Antwort hören. War neugierig, wie er sie formulieren würde. Wollte eine Regung in seinen Augen sehen.
„Ja“, sagte er nur. Er wusste nicht, was sie in seinen Augen erblickte. Er konzentrierte sich so sehr auf dieses arme, hübsche Ding, dass kaum mehr Raum für andere Empfindungen in ihm war.
Mary erhob sich. Ihre Anspannung ließ nicht mehr zu, dass sie sitzen blieb. Vorsichtig kam sie hinter dem Tisch hervor. Für einen Moment sah es aus, als zuckte ihre Hand nach dem Messer, doch sie griff nur die Lampe und wagte damit einen Schritt auf Alan zu. Noch immer trennten sie zwei Schritte.
„Es tut mir leid, Mary“, sagte Alan leise. „Ich habe Ihre Frage ganz falsch beantwortet. Ich war einmal … Leather Apron, die Lederschürze. Heute bin ich es nicht mehr. Jack the Ripper war ich nie.“
Die Frau betrachtete ihn eine volle Minute lang und kehrte dann wieder zum Tisch zurück.
„Ich möchte Sie bitten, diesmal dem Schatten hinter Ihnen eine Frage zu stellen“, rief Alan. „Wer tötete das arme Zimmermädchen in Mandalay? Sie hatte es weiß Gott nicht verdient zu sterben!“ Seine Worte klangen hohl in dem schwarzen Gewölbe.
„Frage Neun“, zischte das Gesicht hinter dem vergitterten Fenster.
Eilig zählte Mary die Fragen ab und las, ohne sich zu setzen: „Hatten Ihre Opfer den Tod verdient, Mr. Spareborne?“
„Warum fragen Sie mich nicht selbst?“, brüllte Alan. „Was für ein Spiel ist das? Warum lassen Sie Mary nicht in Frieden?“
„Frage Sieben, schnell“, keuchte der Schatten.
Das Mädchen setzte sich, machte jedoch keine Anstalten, die Frage vorzulesen.
„Frage Sieben!“, krächzte der Alte. „Wenn du dich widersetzt, bekommst du keinen Penny. Unsere Abmachung war eindeutig!“
Das Mädchen schluckte und las: „Frage Sieben. Hat es einen … bestimmten Grund, dass zwei Ihrer Opfer Mary … hießen? Gefällt Ihnen der Name? Hat es Ihnen … be-besondere Freude gemacht, Mary Nichols und Mary Kelly zu … er-ermorden?“ Sie war sehr blass geworden.
„Sie foltern sie mehr als mich!“, schrie Alan. „Das arme Ding ängstigt sich zu Tode. Hören Sie auf damit, sofort!“
„Beantworte ihre Fragen, und sie wird bald erlöst sein“, richtete der Alte erstmals sein Wort an Alan. „Sie hat sich freiwillig bereiterklärt, die Befragung durchzuführen, und sie erhält eine fürstliche Bezahlung dafür. Für das Geld, das wir ihr zahlen, müsste sie für Hunderte schmutziger Herumtreiber die Röcke heben.“
Stille. Alan atmete tief durch. Sein Körper bebte vor Zorn. „Wir“, murmelte er. „Wer ist … wir? Was für ein gottloses Sadistenpack …“
„Lies ihm die Frage noch einmal vor, Mary! Er hat sie vergessen. Lies sie immer wieder, bis er sich herablässt, dir eine Antwort darauf zu geben.“ Die Hände des Alten umklammerten jetzt die Gitterstäbe. Was hätte Alan dafür gegeben, an das lange Messer zu kommen …
„Frage Sieben“, begann das Mädchen erneut. „Hat es einen bestimmten Grund, dass zwei Ihrer Opfer Mary hießen? Gefällt Ihnen …“
„Hören Sie auf!“, schrie Alan. „Ich antworte! Sie brauchen nicht alles zu tun, was diese alte Ratte von Ihnen verlangt … Die Antwort lautet Nein: Ich habe die Frauen nicht getötet, weil sie Mary hießen. Das heißt … Mary Nichols Name hatte eine besondere Bedeutung für mich, damals. Glaube ich. Doch das ist schwer zu erklären. Von Mary Kelly wusste ich nicht einmal, wie sie hieß.“
„Wusstest du auch nicht, dass sie Katholikin war, Jack?“, schaltete sich der Alte ein.
Alan antwortete nichts. Ja, er hatte es erst später erfahren. Einige der Zeitungen waren ihm nachgeeilt, wie Schatten, die man nicht loswerden konnte. Einen Artikel hatte er sogar ausgeschnitten und in sein Tagebuch geklebt, als er schon in Burma war. Er tat es, um einen Abschluss zu finden. Es war seine schrecklichste Tat gewesen. Er wollte offen zu sich sein und das Finale einer schlimmen Zeit nicht verdrängen.
„Weiter mit Frage Drei, und dann die vorgegebene Reihenfolge“, ordnete der Mann hinter dem Fenster an. „Einem alten Mann wie mir gibt er keine Antworten. Er reagiert nur auf Fragen aus dem Mund einer Frau. Er mag die Frauen, weißt du, Mary. Er liebt sie.“
Ja. Alan liebte Frauen. Er wusste es. Es wäre schön gewesen, wenn es die Welt auch gewusst hätte. Wenigstens dieses Geschöpf musste es erfahren. Wenigstens sie durfte nicht glauben, dass er der irre Prostituiertenhasser war, den alle in ihm sehen wollten.
Das Mädchen wandte sich dem Block zu und verlas die dritte Frage.
„Wie viele haben Sie getötet?“
„Fünf“, erwiderte Alan ohne Zögern.
„Frage Vier. Nennen Sie die Namen Ihrer Opfer.“
Alan atmete tief ein. „Mary Nichols“, sagte er und stockte.
„Du musst Frage Vier wiederholen, Schätzchen“, verlangte der Alte. „Er leidet unter geistigen Aussetzern.“
„Nennen Sie die Namen Ihrer Opfer“, las die blasse Mary folgsam.
Alan ballte die Fäuste. „Nach Mary Nichols kam ... Annie Chapman. Dann Elizabeth Stride und … Catherine … Catherine … Ich habe Ihren Nachnamen vergessen. Und die letzte war Mary … Mary Kelly.“
Stille.
„Worauf wartest du noch?“, donnerte der Schatten, als Mary wie versteinert dasaß. Was es war, das sie lähmte, war nicht zu erkennen. Vielleicht hatte das häufige Auftauchen ihres Namens sie irritiert. Vielleicht war sie in diesem Moment erstmals davon überzeugt worden, dass vor ihr an dem hölzernen Kreuz tatsächlich niemand anderes hing als die wahnsinnige Bestie, von der alle getuschelt hatten, als sie ein kleines Mädchen gewesen war. Das Ungeheuer, vor dem ihre Mutter sich gefürchtet hatte, wenn sie nachts im Eastend dem Gewerbe frönte, dem ihre Tochter eines Tages auch einmal nachgehen würde …
„Fra-Frage Sechs“, begann sie erneut mit kaum hörbarer Stimme.