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Vor dem nächsten Eintrag war wieder ein Zeitungsausschnitt eingeklebt worden. Sickert empfand es zunächst beinahe als Erleichterung, sich eine Pause von den Ausführungen dieses Menschen gönnen zu dürfen, doch der Inhalt des Artikels machte das eben Gelesene nur noch schlimmer.
Im Fall des Jack the Ripper gab es keinen Raum für Gnade und Erleichterung.
East London Observer
Samstag, 1. September 1888
Eine weitere grauenhafte Tragödie in Whitechapel.
Eine Frau ermordet in Buck’s Row aufgefunden.
Die schrecklichen Einzelheiten.
Die neusten Enthüllungen,
Während der Schrecken der Ereignisse von George Yard den Menschen von Whitechapel noch immer in all seinen widerwärtigen und abscheulichen Details gegenwärtig ist, hat sich im selben Distrikt der Vorhang für eine weitere Tragödie geöffnet, die jener von George Yard nicht nur im Hinblick auf die grauenhafte Weise, auf die das Opfer den Tod fand, ebenbürtig erscheint, nein, auch hinsichtlich des Mysteriums, das die Umstände und Hintergründe ihres Todes umgibt.
Am Freitagmorgen gegen halb fünf führte die Streife Police Constabler Neale in die Nachbarschaft von Buck’s Row. Kurz nach halb fünf, im Licht des anbrechenden Tages, entdeckte er außerhalb der hohen Ziegelmauern, die das Essex-Kai umgeben, auf dem Gehsteig eine liegende Frau, deren Hände ineinander verkrallt waren und die den Eindruck eines Menschen machte, der unter größten Schmerzen gestorben ist. Sie trug eine kleine schwarze Strohhaube, die nahezu bis zur Unkenntlichkeit zugerichtet war und unter ihrem Kopf lag. Sie umhüllte ein Mantel – ein zerschlissenes Kleidungsstück, das einst rot gewesen war, nun jedoch eine dumpfe, schmutzige Farbe hatte. Er war vorne offen, und das schwarze Oberteil ihres Kleides war ein wenig geöffnet und enthüllte einen schrecklichen Schnitt von mehr als einem Inch Durchmesser, der von einem Ohr zum anderen reichte und die Luftröhre durchtrennte.
Doch während es keinen Zweifel geben kann, dass die Frau ermordet wurde, scheint es kein plausibles Motiv für das Verbrechen zu geben. Raub scheidet aus, da das Opfer offenbar in extremer Armut gelebt hat. Wie die arme Martha Tabram scheint auch die bedauernswerte Unbekannte das Opfer eines Unmenschen geworden zu sein. In der Tat betonen die Bewohner von Buck’s Row ihre Überzeugung, dass die Ähnlichkeiten der Umstände, unter denen die beiden Opfer ihren Tod fanden – beide im Dunkel der Nacht, beide mit höchst abscheulichen Verletzungen und beide ohne ein erkennbares Motiv – darauf hindeuten, dass der Mörder von Martha Tabram auch der Mörder der armen Unbekannten in Buck’s Row war.
Walter Sickert las weiter. Die Schrift Sparebornes sprach Bände von der falschen Ruhe, zu der sich der Verfasser zu zwingen bemühte. Er versuchte offenbar zurückzukehren zu dem Menschen, der er einst gewesen war, versuchte nüchtern die Ereignisse dieser Tage zu Papier zu bringen. Alles Versuche, die ihm kläglich missglückten …
3. September 1888
Die Umstände von Marys Tod füllen die Presse. Nun kenne ich den Namen der Gasse, in der sie zu Tode kam, ebenso, wie Marys Nachnamen – zumindest, wenn man den Reportern vertrauen kann. Sie bezeichnen ihr Kleid als schwarz, und doch habe ich gesehen, dass es braun war. Überall ist die Rede von einer furchtbaren Tragödie, und ich kann ihnen nur beipflichten. Dass dieses arme Ding sterben musste, getötet von einem Metzger, der wie ein gemeiner Mörder vorging, ist eine Schande.
Diese Schande lastet schwer auf mir, umso mehr, als ich mich nicht dazu entschließen kann, eine Beichte darüber abzulegen. Weder der Priester noch die Öffentlichkeit darf erfahren, wer sich hinter dem dilettantischen Metzger verbirgt, obgleich es mir vermutlich die Reise nach Burma ersparen könnte.
Lazarus schützt mich noch immer, trotz meines Versagens, und das gibt mir Kraft in diesen schwierigen, von Schmerz, Reue und Verwirrung geprägten Tagen. Er hat meine Bemühung anerkannt und mein Unvermögen nicht bestraft.
Falls ich eine zweite Chance erhalte, darf ich ihn nicht wieder enttäuschen.
4. September 1888
In der Presse tauchte heute der Name „Leather Apron“ – „Lederschürze“ auf. Man glaubt, ein Metzger sei für Mary Ann Nichols Tod verantwortlich. Erstaunlich, wie eng man an der Wahrheit sein kann, ohne ihr wirklich nahe zu kommen.
5. September 1888
Bei dem Bazar in Spitalfields, den ich heute betreute, besorgte ich mir einen schwarzen Mantel und eine braune Mütze mit einem Schild vorn und hinten. Niemand hat es gesehen, denn ich tat es in dem Raum, in dem ich die Vorbereitungen für den Verkauf traf, und niemand war zu diesem Zeitpunkt bei mir. Ich trug einen Packen Kleidung zur Kirche zurück, wie ich es manchmal tue, um die Objekte, die niemand gekauft hat, dort an die Bedürftigen zu verteilen. Die zwei genannten Kleidungsstücke jedoch behielt ich für mich.
Ich habe eine Ahnung, als ob ich sie bald brauchen würde.
7. September 1888
Es ist schwer, weiterzuleben, als wäre nichts geschehen. London ist in Aufregung. Menschen strömen in die Kirchen – sogar in die katholischen – und suchen nach Trost und Erklärungen. Ich tue mein Bestes, um sie zu trösten, doch erklären kann ich ihnen nichts. Man nennt das East End einen Schandfleck der britischen Metropole – nicht zum ersten Mal, aber nachdrücklicher als zuvor.
Je mehr ich über diesen sogenannten Mord lese, desto weniger habe ich das Gefühl, etwas damit zu tun zu haben. Das Geschehene wird in einer Weise dargestellt, die nichts mit den tatsächlichen Umständen und Hintergründen zu tun hat. Kein einziger dieser protestantischen Schreiberlinge erwähnt den Namenstag des Heiligen Lazarus; sie suchen einen Frauenhasser oder Prostituiertenmörder. Mit diesen Ansätzen werden sie mir nie auf die Spur kommen, und dafür danke ich dem Herrn und seinen Heiligen jeden Tag.
Heute hat man mir Fotografien aus Burma gezeigt. Es ist ein hässliches, unordentliches Land. Die Menschen leben in Hütten, essen mit den Händen, heiraten in bunten Gewändern und beten sitzende Buddhas aus Gold und Messing an. Die Missionare leben dort wie Menschen, die nicht dorthin gehören – es muss sein, als betrete man den Traum eines anderen. Ich habe widerwillig einen langen Bericht gelesen und fühlte das Fieber zurückkehren, noch ehe ich damit fertig war.
Morgen ist der achte September, Mariä Geburt, ein mehr als besonderer Tag – der Tag der heiligen Mutter Maria, die unseren Herr Jesus unbefleckt empfing. Seit dem Tag des Heiligen Antonius vor sieben Jahren weiß ich, welche Macht in einem Datum steckt. Es ist eine exakte Wissenschaft wie die des menschlichen Körpers. Heute spüre ich mehr als je zuvor, dass ich einen starken Talisman brauche, wenn ich in dieser Stadt Mandalay bestehen will. Eine Reliquie, die nicht Eigentum der Kirche ist, muss aus dem Eigentum eines Menschen stammen, der nicht der Kirche gehört. Im ersten Korintherbrief aber steht geschrieben: „Wisst ihr nicht, dass euer Leib ein Tempel des Heiligen Geistes in euch ist, den ihr von Gott habt, und dass ihr nicht euch selbst angehört?“ Demnach ist der Körper nicht das Eigentum des Menschen. Und demnach ist derjenige kein Dieb, der etwas aus diesem Körper stiehlt, außer er stiehlt es von Gott.
Eine Unruhe stieg erneut in Walter Sickert auf, und es wurde ihm so flau im Magen, dass er glaubte, sich übergeben zu müssen. Vielleicht erinnerte er sich unbewusst an ein Datum, von dem er sich einbildete, er hätte es vergessen. Das Datum von Jack the Rippers zweitem Mord. Soweit er wusste, war nie jemandem aufgefallen, dass es sich um Mariä Geburt handelte.
8. September 1888
Es ist vollbracht. Jetzt, zwei Stunden danach, bin ich noch voller Erregung und Unruhe. Ich kann mich nicht dazu überwinden, die Einzelheiten des Geschehens niederzuschreiben, denn die englische Sprache ist nicht dafür geschaffen worden, solche schrecklichen Minuten zu beschreiben. Schilderte ich sie in der nüchternen Sprache meiner Wissenschaft, fehlte es ihnen an der inneren Bewegung, und stellte ich sie mit den Versen eines Poeten oder Theologen dar, könnte der Eindruck entstehen, ich hätte irgendeine verquere Form von Freude oder Spaß dabei empfunden.
Nichts daran war amüsant oder erquicklich. Nichts an seiner Arbeit bringt den Metzger oder den Totengräber zum Lachen. Und doch tut er, was er tun muss.
Die Frau und ihre Kleidung zu beschreiben, ist müßig. Morgen werden es die Zeitungen ausführlicher tun, als ich es an dieser Stelle und zu diesem Zeitpunkt vermag, inklusive der üblichen kleinen Abweichungen, die zu korrigieren nicht meine Aufgabe ist. Vielleicht werden bereits die heutigen Abendausgaben ihren Namen veröffentlichen, zusammen mit einer Beschreibung des Mannes, der mit ihr zusammen war, denn ich fürchte fast, man hat mich in dem Hinterhof mit ihr gesehen. Gut, dass es sehr dunkel war. Gut, dass ich die braune Mütze und den schwarzen Mantel trug.
Wichtig ist nur, dass ich diesmal nicht scheiterte. Lazarus breitete seine Hand über mich aus, verlieh mir den Mut, sie mit fachlicher Präzision zu öffnen, beinahe, wie im Operationssaal des alten General Hospital in Birmingham, und mir zu nehmen, was nicht ihr, sondern Gott gehört. Ich fürchte, ich muss noch mehr mit diesem Tempel des Heiligen Geistes angestellt haben. Ich erinnere mich nicht an die Einzelheiten, nur daran, dass ich von der Menge der möglichen Reliquien überwältigt war und für einige Augenblicke den Wunsch verspürte, sie alle anzusehen.