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Diesmal war der Stil nach der Schreckenstat nüchterner gewesen, und auch die Schrift hatte einen Teil ihrer Unstetigkeit verloren. Zum ersten Mal hatte der Mörder sein Ziel erreicht, und der Stolz und die Erleichterung darüber war jedem seiner Worte anzumerken.

10. September 1888

Der Priester schalt heute mein Interesse an den Tageszeitungen. Einem Geistlichen stehe es nicht zu, sich an den blutigen Schilderungen abscheulicher Verbrechen zu ergötzen – so lauteten seine Worte. Ich erwiderte: „Gott ist kein Kräuterdoktor!“ Diese Formulierung, die mich fortan wie ein Aphorismus oder ein Psalm begleiten würde, schoss mir in diesem Moment zum ersten Mal durch den Kopf, und ich weiß nicht, wie viel davon Henry Ouston verstand.

Die Zeitung warf ich zornig weg, doch ich habe schon erfahren, dass die Tote Annie Chapman heißt. Ihren Uterus bewahre ich hier unten in meiner Kammer auf, die auch einige Apparaturen und Chemikalien beherbergt, mit denen ich meinen Forschungen an den Reliquien nachgehen konnte. Jetzt müssen sie mir dabei helfen, eine neue Reliquie zu erschaffen. Noch heute Nacht, wenn der Priester schläft, werde ich damit beginnen.

Die Reise nach Burma wird einen großen Teil ihres Schreckens verlieren, wenn ich erst im Besitz dieses Talismans bin.

Plötzlich gab es einen erneuten Einschnitt. Die Zeilen hielten sich nicht mehr an der Linierung fest, sondern verliefen diagonal darüber, als hätte der Schreiber das Buch schräg gehalten. Die ersten Zeilen des Textes überschnitten sich mit den horizontal verlaufenden des vorigen Abschnittes, und es schien dem Verfasser nicht aufgefallen zu sein. Es war, als hätte er geschrieben, ohne seine Worte mit den Augen zu verfolgen. Was war vorgefallen, das ihn so sehr erschütterte?

11. September 1888

Es hätte nicht geschehen dürfen. Ich hätte mich besser vorsehen müssen.

Der Priester weiß alles! Pater Henry Ouston weiß alles!

Ob er etwas geahnt hat oder auf göttliche Eingebung hin handelte, vermag ich nicht zu sagen, doch plötzlich stand er in meiner Kammer, die nicht zu verschließen ist (dafür hat er gesorgt) und starrte auf mich und auf den Uterus, den ich zunächst auf ein Papier gelegt hatte, um mit dem Präparieren zu beginnen.

„Was tun Sie da?“, brüllte er.

„Gehen Sie bitte hinaus“, antwortete ich. „Sie verstehen nichts davon.“

Natürlich ist ein Mann wie er durch heftige Worte nicht einzuschüchtern. Das Präparat auf meinem Arbeitstisch hatte ihm weder die Sprache noch die Autorität geraubt. Es stimmt, sein Gesicht wurde abwechselnd tiefrot und leichenblass, und sein Mund zuckte wie ein toter Frosch, den Galvani an eine Stromquelle angeschlossen hatte, doch er stand wie ein Fels im Zimmer und machte keine Anstalten, sich auch nur abzuwenden.

„Ist das eine … Gebärmutter?“, fragte er langsam, und ich erwiderte: „Ein Uterus“, vielleicht in der lächerlichen Hoffnung, er würde mich nicht verstehen und sein Verhör abbrechen, bevor es richtig begonnen hatte.

„Wo haben Sie das her?“

Ich schwieg.

„Vater im Himmel!“, schnaufte er. „Das kann nicht möglich sein! Sie haben diese Frauen getötet! Sie waren es! Diese Martha Tabram, diese Mary Nichols und …“ Er bewies ungewollt, dass er die Zeitungen wesentlich aufmerksamer studiert hatte, als er es mir gegenüber hatte zugeben wollen. Er war es gewesen, der sich an den blutigen Schilderungen ergötzte, während ich sie aus Gründen las, die …

Ja, aus welchen Gründen eigentlich?

„An Martha Tabram hat ein Dilettant sich versucht“, antwortete ich. Mir war nicht nach Lügen zumute. Ich fühlte mich im Recht. Wenn er schon im Begriff war, die Wahrheit zu erfahren, dann die ganze und präzise Wahrheit, nicht die der Presse.

Meine Aussage war ein Geständnis gewesen, und er wurde darauf still und finster. An diesem Tag wechselte er kein Wort mehr mit mir. Er zog sich aus meinem Zimmer zurück, und später sah ich ihn den ganzen Tag über beten. Ob er es für mich tat oder für sich oder für die armen Toten, das weiß ich nicht.

Heute ist er nicht zur Polizei gegangen. Wird er es morgen tun? Die Situation ist nun eine neue: Ich muss jeden Augenblick damit rechnen, verhaftet zu werden. Sicherheit gibt es keine mehr für mich. Alle Sorgfalt, mit der ich vorgegangen bin, war vielleicht umsonst.

Ein Mörder würde an meiner Stelle möglicherweise mit dem Gedanken spielen, ihn zum Schweigen zu bringen. Ich könnte es nicht. Abgesehen davon, dass diese Tat ganz Scotland Yard auf meine Spur bringen würde – ich könnte nicht einen Menschen aus derart niedrigen Gründen töten. Ich bin ein Metzger, kein Mörder.

In all meiner Verzweiflung kann ich doch nichts tun, als mich zur Ruhe zu zwingen. Weniger als zwei Monate verbleiben bis zu meiner Abreise. Was mir zuvor als schlimmste Strafe erschien, kommt mir nun milde vor, verglichen mit dem Galgen, der hier in London auf mich wartet. Könnte ich doch nur früher fahren – je früher, desto besser. Ich fürchte, mein Talisman wird mir nichts nützen, wenn mich die Polizei erst einmal in den Fingern hat.

Sie werden mich behandeln wie einen Mörder.

East London Observer

Samstag, 15. September 1888

KOMMENTAR

Die Problematik des East End

Der Osten Londons musste schon so manche übertriebene und verzerrte Beschreibung seiner Einrichtungen und Bewohner ertragen, doch der Austausch, der in den letzten Jahren zwischen dem Osten und dem Westen etabliert wurde, hat viele Vorurteile ausgelöscht, die in den Köpfen der Menschen gegenüber unserem großartigen Industriebezirk bestanden. Es ist daher umso bedauerlicher, dass die scheußlichen, rasch aufeinander folgenden Morde der letzten Zeit die Wirkung zu haben scheinen, unseren Teil der Stadt in den Augen der anderen zu diskreditieren. Um nur ein Beispiel aus all dem Unsinn herauszugreifen, der über uns geschrieben wird: „Wie man es auch betrachtet – das East End ist ein Seuchenherd unserer Zivilisation.“ Die Verfasser solcher Zeilen können den Osten Londons nicht wirklich kennen, doch der sorglose Umgang mit solchen Äußerungen erweckt im Geist jener, die sie lesen, eine Vorstellung, die nur schwer wieder auszulöschen ist. Die Menschen in den Provinzen, die unsere Hauptstadt nach solcher Lektüre besuchen, haben zweifellos Angst davor, sich uns auch nur zu nähern; und doch würden sie rasch herausfinden, dass ihre Person und ihre Besitztümer im East End so sicher sind wie in jedem anderen Teil des Königreichs. Es mag sich herausstellen, dass die verbrecherischen Taten, die die Öffentlichkeit so sehr entsetzen, das Werk einer irren oder schwachsinnigen Kreatur sind, die zu der Ansicht gekommen ist, es sei ihre Mission, Frauen von unmoralischem Lebenswandel zu töten, oder genügend von ihnen, um ihresgleichen in Angst und Schrecken zu versetzen. Sollte dies der Fall sein, ist es ein Unglück, dass er sich unser Ende der Stadt ausgesucht hat; doch es berechtigt niemanden dazu, das East End als „Seuchenherd“ zu verdammen.

EINE HERRSCHAFT DER ANGST IN WHITECHAPEL.

Eine neue grauenvolle Tragödie.

Die Menschen in Panik.

Die Polizei ratlos.

SPEZIALREPORTAGE.

Der Schauder der Entrüstung und des Grauens, der die gesamte Hauptstadt im Zusammenhang mit den schrecklichen Einzelheiten um den Mord an der Frau namens Nichols in Buck’s Row erfasste, hatte kaum Zeit abzuklingen, als letzten Samstagmorgen – gerade eben eine Woche nach dem Vorfall in Buck’s Row – London aufs Neue von den Nachrichten einer weiteren Tragödie erschüttert wurde – diesmal in der Hanbury Street. Als die Details des Mordes an die Öffentlichkeit drangen, erwiesen sie sich als noch als weitaus schrecklicher als jene, die mit dem Mord an Polly Nichols verknüpft sind.

John Davis, der in der Hanbury Street 29 lebt – ein dreistöckiges Haus, dessen vorderer Raum im Erdgeschoss als Geschäft für Katzenfleisch genutzt wird, während ein Hinweisschild über dem Eingang zum Flur in unregelmäßigen weißen Buchstaben verrät, dass hier Mrs. A. Richardson, eine Herstellerin von Frachtkisten, wohnt – begab sich am Morgen gegen sechs Uhr in den Hinterhof. Der Hof lässt sich durch drei Steinstufen erreichen, die aus dem Flur hinauf führen, und links von der Treppe befindet sich ein Zaun, der diesen Hof von dem benachbarten trennt. Die Tür aus dem Flur hinaus in den Hof stößt beinahe gegen diesen Zaun, wenn sie geöffnet wird. Als Davis die oberste Stufe erreicht hatte, sah er zwischen der Treppe und dem Zaun – in einem Raum von etwa drei Fuß Breite – eine Szenerie, die ihm das Blut vor Grauen gefrieren ließ. Eine Frau lag dort, ihre Kleider so weit hochgezogen, dass ihre wie vor Pein angezogenen Knie sichtbar waren, zusammen mit dem unteren Teil ihres Unterleibs, der in furchtbarer Weise verstümmelt war. Die Eingeweide, mit den Gedärmen und dem Herzen, waren buchstäblich aus dem malträtierten Körper herausgezogen worden und lagen neben ihr. Der Kopf der Frau war nach hinten gedreht und wies einen gewaltigen Schnitt auf – so breit und so tief, dass der Kopf beinahe vom Körper getrennt war. Das Gesicht – das einer Frau um die Vierzig – war totenblass und das gewellte braune Haar ein wenig zerwühlt. Das Fleisch in der unteren Körperhälfte war teilweise zerfetzt, das Kleid mit Blut besudelt – ebenso wie ein guter Teil der Einzäunung, der offenbar einen Strahl aus einer durchtrennten Arterie abbekommen hatte.

Die Szenerie zu beschreiben, die sich an jenem Samstagmorgen entfaltete – als die Augen der Hauptstadt sich an einem hellen, sonnigen Tag wie einmütig auf dieses kleine Leichenschauhaus abseits der grimmigen Montague-Street richteten, mit der schwarzen Totenkiste darin und einem Haufen Lumpen – denn mehr als Lumpen waren sie nicht –, aus denen das Blut der ermordeten Frau langsam sickerte und tropfte, wäre nahezu unmöglich. Zu sagen, dass die gesamte Nachbarschaft – nein, der gesamte Londoner Osten – vor Schrecken gelähmt war, vermittelt nur einen schwachen Eindruck von der Panik, die herrschte. Dass ein Mord sich nahezu unter den Nasen der dicht gepflanzten Polizeikräfte ereignet hatte, die eigens dazu eingesetzt worden waren, um nach dem Vorfall in Buck’s Row die Gegend im Auge zu behalten; dass der Mord von den schrecklichen und unverwechselbaren Verstümmelungen begleitet war, die keinen Zweifel an der Übereinstimmung des Mörders von Polly Nichols mit dem von Annie Chapman lassen; dass das Leben einer Frau geopfert und ihr Körper so widerlich entstellt wurde, während ein Dutzend Leute sich in Hörweite aufhielten, und dass diese dennoch kein Schrei, kein halb erstickter Hilferuf erreicht haben sollte; dass einige Hundert geschäftiger Marktleute keine zwanzig Yards davon entfernt hin und her gegangen waren und doch keinerlei Ahnung von dem grauenhaften Verbrechen hatten, das verübt worden war – Überlegungen wie diese, sowie das schmerzliche, tiefe und offenbar unergründliche Geheimnis, das die gesamte Angelegenheit umgab, ließ Frauen Meilen davon entfernt sich voller Angst in ihre Häuser verkriechen, und selbst starke Männer sahen sich unsicher um, während sie ihre muskulösen Hände zu Fäusten ballten und dem Vollbringer einer solch abscheulichen Tat murmelnd Rache schworen. Männer, die auch nur die geringste Ähnlichkeit mit den Porträts des Schuldigen hatten, die die Fantasie der vielen angeblichen Zeugen sich ausgemalt hatte, wurden gnadenlos durch die Straßen gejagt und gehetzt, bis sie den Schutz der Polizei suchten oder die aufgebrachte Menge von ihrer Unschuld überzeugen konnten.

Jeder Zeitungsverkäufer im Umkreis von zwei Meilen kann bestätigen, dass es niemals, solange er zurückdenken kann, einen solchen Ansturm auf die Abendzeitungen gegeben hatte. Menschenmengen warteten vor den Läden, bis frischer Nachschub hereingebracht wurde, während sich um jene, die sich erfolgreich ein Exemplar gesichert hatten, neue Mengen scharten, die mit empörtem Grummeln die entsetzlichen Einzelheiten des Mordes lasen. Gerüchte weiterer Morde kamen in Umlauf, und einige davon wurden bereitwillig geglaubt, bis das östliche London von Angst wie gelähmt war. Berichte von mehreren Festnahmen machten die Runde, und Tausende von Menschen versammelten sich vor den Polizeistationen in der Leman-Street, der Commercial-Street und in Bethnal Green und grölten und schrien nach dem Mörder von Annie Chapman. Die Rufe nach Rache, die am Samstagnachmittag aus einigen tausend Kehlen klangen, waren keine leeren Drohungen. Londons Bevölkerung war nicht in der Stimmung für hohle Phrasen.

Der Inhaber einer Wachsfigurenwerkstatt in der Whitechapel-Road machte ein kleines Vermögen damit, drei schrecklich entstellte Figuren, die bereits bei früheren Anlässen ihren Dienst verrichtet hatten, mit einigen Streifen roter Farbe zu verzieren und Hunderte leichtgläubiger Menschen um ihre Pennies zu erleichtern, indem er ihnen die „Opfer von George Yard, Buck’s Row und ’Anbury Street“ vorführte. Sein Glück war allerdings von kurzer Dauer, denn ein Polizeiinspektor mit Sinn für Pietät ließ die Figuren herabnehmen und hörte sich die ungebildete Hasstirade gegen die Polizei im Allgemeinen und gegen sich im Besonderen geduldig an.

Am Samstag nahmen die Menschenmassen, die sich in einigen Straßen des Londoner Ostens versammelt hatten, eine sehr bedrohliche Haltung gegenüber der hebräischen Population des Distrikts an. Es war wiederholt behauptet worden, dass kein Engländer ein solch grauenvolles Verbrechen wie jenes in der Hanbury Street begangen haben konnte, und dass es von einem Juden verübt worden sein musste – und sofort ging der Mob dazu über, all jene unglücklichen Hebräer zu bedrohen und zu misshandeln, die in den Straßen zu finden waren. Glücklicherweise verhinderte die Gegenwart einer großen Anzahl Polizisten schließlich, dass es zu einem Aufruhr kam. „Wenn die von Panik ergriffenen Leute, die ‚Nieder mit den Juden’ rufen“ – so ein Leserbriefschreiber – „da sie sich einbilden, ein Jude hätte die grauenhaften und ekelerregenden Verbrechen begangen, die Whitechapel zu einem gefürchteten Ort haben werden lassen, auch nur irgendetwas von der jüdischen Abscheu vor dem Blut wüssten, würden sie zögern, ehe sie einem friedliebenden und gesetzestreuen Volk mit Vernichtung drohen. Seit der Rückkehr der Juden nach England im Jahr 1649 wurden nur zwei Juden wegen Mordes gehängt, Marks und Lipski, und wenn man sich die Herkunft vieler der armen Burschen ins Gedächtnis ruft, die aus der Verfolgung in fremden Ländern hierher fliehen, ist das eine äußerst bemerkenswerte Statistik. Dass die Bestie, die Londons Osten mit Schrecken erfüllt, kein Jude ist, steht für mich fest. Etwas allzu Schreckliches, Unnatürliches, Unjüdisches liegt in dieser Mordserie, als dass ein Israeli der Mörder sein könnte. Nie gab es einen Juden, der sich zu solch verabscheuenswürdigen Morden herablassen würde, wie sie bekannt wurden. Seine Natur sträubt sich gegen die Blutschuld, und die gesamten Umstände der Schlachtereien von Whitechapel widersprechen dem jüdischen Charakter.“

Die Theorien, die die Polizei aufgestellt hat, sind folgende: 1. Dass der Mörder unweit von Hanbury Street wohnt oder logiert. 2. Dass, da die Opfer nicht ausgeraubt wurden, der Mörder zur Mittel- oder sogar zur Oberschicht gehört. 3. Dass die furchtbaren Verstümmelungen der Körper, die diesen ohne erkennbaren Grund zugefügt wurden, darauf hindeuten, dass der Mörder entweder ein Mann mit wilden und heftigen Gefühlsausbrüchen ist, oder ein Irrer, der wahrscheinlich unter einer Art Epilepsie leidet. 4. Dass die saubere Weise, in der die Wunden zugefügt wurden, und das Wissen, welches durch das Herausnehmen und Auslegen der Innereien und des Herzens bewiesen wurde, nicht auf einen Metzger als Mörder hindeuten, denn die Wunden hätten dann anders aussehen müssen, sondern auf jemanden, der Anatomie studiert hat und höchstwahrscheinlich im Umgang mit dem Seziermesser vertraut ist. 5. Dass, falls der Mann geisteskrank ist, er eine spezielle Abscheu gegen die Klasse der Benachteiligten hegt, unter denen er seine Opfer findet. Da die Polizeiarbeit auf dem Hintergrund dieses Profils vorangetrieben wird, ist man zuversichtlich, den Mann endlich dingfest machen zu können.