10
Walter Sickerts Taschenuhr zeigte elf Uhr und vierzig Minuten. Mitternacht rückte heran, und er scheute sich weiterzulesen, denn der erste Mord des Alan Spareborne stand bevor, und er wusste nicht, ob er bereit dafür war.
Schließlich gab er den Widerstand auf und fügte sich in die Macht, die dieses Tagebuch des Grauens auf ihn ausübte.
25. August 1888
Meine Krankheit ist vorüber. Kein Fieber mehr heute, nur eine tiefe Kraftlosigkeit, nachdem ich fast einen Monat im Bett verbrachte. Ich gehe umher, habe sogar einen Spaziergang durch die Stadt gewagt. Wieder habe ich die Rippe des Lazarus mitgenommen. Ganz sicher ist es dem Priester nicht verborgen geblieben, doch er scheint nun nachsichtiger mit mir zu sein, hat mich nicht einmal darauf angesprochen. Ob ihn meine lange Krankheit milde stimmt oder aber die Aussicht, mich in etwas mehr als zwei Monaten vielleicht für immer vom Hals zu haben, weiß ich nicht.
Ich trieb mich fast den ganzen Nachmittag in Whitechapel herum, beobachtete einige der Straßenmädchen. Eine davon heißt Mary. Immer wieder bin ich an ihr vorübergegangen. Sie ist schlank, hat hochstehende Wangenknochen und graue Augen. Ich hörte mehrmals, wie sie beim Namen gerufen wurde. Manche nennen sie Polly, andere Mary.
Mary. Maria.
Lazarus’ Schwestern hießen Martha und Maria. Beide haben sie zu Jesus gesprochen.
Vielleicht sprechen sie jetzt zu mir.
Martha starb vor zwei Wochen, getötet von einem Dilettanten.
In sechs Tagen ist der Tag des Heiligen Lazarus.
Lazarus ist nicht der Beschützer der Mörder, aber der der Metzger und Totengräber.
Ich bin weder das eine noch das andere.
Meine Messer sind schärfer als die jedes Metzgers.
Die Schrift änderte sich nun bei jedem Eintrag, teilweise sogar mitten im Text. War der vorige Abschnitt mit ungewöhnlich großen Lettern verfasst worden, als habe der Schreiber darin etwas besonders Wichtiges mitzuteilen versucht, fiel der folgende unvermittelt wieder zurück in die engen, gekippten Buchstaben der ersten Zeilen.
28. August 1888
Es geht mir den Umständen entsprechend gut. Ich habe einen gesunden Appetit und sehe, wie sich mein Gesicht im Spiegel wieder etwas rundet.
Heute hat man mir den exakten Termin meiner Abreise verkündet. Der 9. November soll es sein; und man hat nicht versäumt, noch einmal zu betonen, dass nichts als mein Tod oder mein Austritt aus der Kirche den Antritt meiner Mission verhindern könne. Diesmal wies man mich ausdrücklich darauf hin, dass ich keine der Reliquien würde mitnehmen dürfen, da sie Eigentum der Kirche seien.
Kein Wort darüber, wie es mit Reliquien steht, die nicht Eigentum der Kirche sind. Reliquien, die ich mir selbst besorge.
Ich habe nicht nachgefragt.
Drei Tage bis zum Tag des Heiligen Lazarus.
Jeden Abend öffne ich den Koffer und wiege die chirurgischen Skalpelle in der Hand.
Mary aus Whitechapel scheint es nicht gut zu gehen. Sie ist zweifellos Alkoholikerin und bedient einige Dutzend Kunden pro Tag, was sie erschöpft und verschlissen aussehen lässt. Doch sie behält den Kopf oben.
Ich muss darauf achten, sie nicht zu oft und zu lange zu beobachten. Falls ihr etwas Vergleichbares zustößt, wie vor drei Wochen Martha Tabram, soll kein vertrottelter Polizist mich für ihren Mörder halten.
Während die letzten Worte Sickert noch beschäftigten, fiel ihm auf, dass der nächste Eintrag nur aus einem kurzen Bibelzitat bestand. Unkommentiert und beinahe verloren stand es da.
Und ein Kommentar war tatsächlich nicht nötig …
30. August 1888
1. Korinther 9, 11: Wenn wir euch zugute Geistliches säen, ist es dann zuviel, wenn wir Leibliches von euch ernten?
Der anschließende Text unterschied sich von allen anderen, bisher gelesenen. Die Schrift deutete erstmals auf eine Hand hin, die ernsthaft zitterte. Die Hektik und Unregelmäßigkeit früherer Passagen war einer furchtbaren inneren Bewegung gewichen, die wie ein Seismograph die Nachbeben einer schrecklichen Katastrophe nachzeichnete.
31. August 1888
Ich habe kläglich versagt. Heiliger Lazarus, vergib mir! Der Geist in mir wollte etwas tun, wozu das Fleisch nicht fähig war.
Ich schreibe diese Zeilen am frühen Morgen, noch vor fünf Uhr. Eben erst bin ich zurückgekehrt von den Straßen Londons und suche nun Zuflucht in den Mauern des Gotteshauses, das ich schon bald verlassen werde. Anstatt meine Aufschriebe im Schutz meiner Kammer zu machen, habe ich mich in die Obhut der Heiligen begeben. Alleine sitze ich im Kirchenschiff, in der ersten Bankreihe, nahe an den Altären und Gebeinen, und verfasse mein Tagebuch im Licht der ewig flackernden Kerzen, deren Flammen der Luftzug niemals zur Ruhe kommen lässt.
Noch vor Mitternacht bin ich hinausgegangen, um mir mein eigenes Heiligtum zu holen – eines, das niemals im Besitz der Kirche war und dies niemals sein kann. Nicht von einer Frau, die der Papst heilig sprach, sondern von einer, die der Herr über die Natur selbst heiligte, wie er die Kohle im Schmutz der Berge zum Diamanten erhebt.
Eine halbe Stunde lang verfolgte ich Mary. Sie trug ein braunes Kleid und einen rotbraunen Ulstermantel darüber, über den Kopf ein schwarzes Strohhäubchen. In dieser Nacht schien sie außergewöhnlich betrunken zu sein; sie war offenbar auf der verzweifelten Suche nach Freiern und fand auch rasch einen. Ich zog mich zurück und entfernte mich sogar ganz von Whitechapel. Ich fühlte mich sehr unsicher, sehr hin- und hergerissen, sehr sprunghaft. Seit um Mitternacht der Namenstag herangebrochen war, war ich wie verwandelt, voller Unruhe. Es muss schon beinahe drei Uhr gewesen sein, als ich in die Straßen von Whitechapel zurückkehrte, wo noch immer keine Stille eingekehrt war.
Ich fand Mary erneut, wie ein Jagdhund, der eine einmal gerochene Fährte nie mehr verliert. Zu den Straßen, die sie mit Vorliebe ging, gehörte die breite, offene Baker’s Row, von der aus sich kleinere, dunklere Gassen in die ruhigeren Gebiete hin erstreckten. Anstatt sie zu beobachten, sprach ich sie an. Wie ein Verbrecher hatte ich darauf geachtet, dass niemand uns beobachtete. Wie ein Dieb führte ich sie in eine Gasse, deren Namen ich nicht kenne.
Dort handelte ich sehr schnell. Ich wusste, dass sie nicht zum Schreien kommen durfte, damit man nicht auf mich aufmerksam wurde und mich, den kleinen Dekan, mit einem Dieb oder Mörder verwechselte. Es ist der Tag des Lazarus, und Lazarus ist der Schutzheilige der Metzger und Totengräber, nicht der Diebe und Mörder. Wäre ich ein Dieb oder ein Mörder, könnte ich keinen Schutz von ihm erwarten.
Mit einer müden und tragischen Bewegung hob sie Röcke und Unterröcke hoch, nachdem sie mir den Rücken zugewandt hatte, als verachte sie mich. Ich packte ihre Kehle von hinten und drückte zu. Es war wegen des Schreis, und wenigstens in diesem Punkt war ich erfolgreich. Der Schrei blieb in ihr verborgen, ich schleuderte sie herum, und sie prallte gegen die Steinwand und sank daran zu Boden. Sofort hatte ich mein Köfferchen geöffnet, denn in Notfällen muss man schnell sein. Der erste Schnitt gehörte ihrer Kehle, um sicherzugehen, dass sie nicht mehr zu sich kam. Ich wollte nicht, dass sie leiden musste. Ich wollte auch nicht, dass sie die grauen Augen öffnete, mich vom Boden aus ansah, während ich mich mit dem Messer über sie beugte, und mich für ihren Mörder hielt. Ich bin nicht ihr Mörder. Ich bin ihr Metzger und Totengräber und Dekan.
Meine Hände zitterten entsetzlich. Ich erinnere mich, dass ich zwei oder drei Versuche machte, an das zu kommen, weswegen ich hier war. Es gelang mir nicht. Bilder aus meinem Anatomiebuch standen klar und scharf umrissen vor meinem Auge in der Dunkelheit der Gasse. Ich wusste, wo ich zu suchen und wie ich zu schneiden hatte. Doch es gelang mir nicht, die Bilder mit ihrem Körper zu überlagern. Sie erschien mir fremd, eigen, unzugänglich, als passe sie nicht in das Muster, das ich gelernt habe. Als versuche ein Pferdemetzger ein Schwein zu zerlegen.
Weinend verstaute ich das Messer in meinem Koffer und stahl mich davon wie ein erbärmlicher Taschendieb.
Hier bin ich, zurück in St. Patrick’s, und ich habe Angst. Angst davor, den Heiligen Lazarus enttäuscht zu haben. Angst auch, mich in etwas verwandelt zu haben, als was er mir nicht mehr beistehen kann.
Mary ist tot. Mary ist tot. Vor dieser Wahrheit darf ich die Augen nicht verschließen. Ich darf nicht so tun, als wäre ich in dieser Nacht nicht mit dem Tod eines Menschen konfrontiert worden. Es wäre ein Zeichen von Wahnsinn, wenn ich mir einredete, ich hätte nicht den Tod gesehen, sondern nichts als eine Frau, die sich weigerte, ihr Heiligstes herzugeben. Mary ist tot. Ich darf es nicht leugnen.
Es ist das Los von Metzgern und Totengräbern, von Chirurgen und Dekanen, mit dem Tod in Berührung zu kommen. Daran ist nichts Schönes oder Erhebendes, nichts Erfüllendes oder Befriedigendes. Es ist einfach so.
Lazarus weiß es am besten, denn er war tot und kehrte zurück.
Vielleicht kehrt Mary auch zurück. Es wäre schön. Sie hatte keinen Grund zu sterben.