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Walter Sickert ließ die Seiten aus seinen Fingern gleiten. Stöhnend rollte er sich zur Seite. Seine Hände waren taub vom krampfhaften Festhalten der Seiten, sein Nacken schmerzte, und sein Rücken war steif geworden. Mühsam setzte er sich auf.

Hier endeten die Aufschriebe auf den losen Blättern. Das Tagebuch schloss sich an, mit dem 13. Juni 1888. Sickert versuchte sich zu erinnern. Hatten die Rippermorde damals nicht im August begonnen?

Er blätterte zum Ende der Aufschriebe. Der letzte Eintrag datierte vom 9. November. Danach folgte noch ein Zeitungsartikel.

Mittlerweile war es neun Uhr. Wenn er noch ein Abendessen wollte, musste er sich allmählich auf die Suche nach einem Restaurant machen. Aber der Gedanke, das Tagebuch im Zimmer zurücklassen zu müssen, gefiel ihm so wenig wie der, es nach draußen mitzunehmen.

Etwas zu essen war jetzt nicht wichtig. Er würde bis zum Frühstück hungern. Bis dahin würde er seine Lektüre beendet haben.

Er würde der erste Mensch sein, der die Hintergründe der Ripper-Morde kannte.

Die Vorstellung ließ ihn frösteln, und er wickelte sich erneut in die zerschlissene Decke.

13. Juni 1888

Sieben Jahre sind vergangen, seit der Heilige Antonius mich erwählte – ein erneuter Namenstag und eine Gelegenheit, sich an Vergangenes zu erinnern und erste Bilanz zu ziehen. Ich erachte es für einen guten Zeitpunkt, um mit dem Abfassen eines Tagebuchs zu beginnen.

Seit zwei Jahren erfülle ich hier in St. Patrick’s im Stadtteil Wapping das Amt eines Dekans, und ich kann von mir behaupten, mit der mir vom Herrn aufgetragenen Arbeit glücklich zu sein. Die täglichen Aufgaben lassen mir genügend Zeit, mich der Erforschung von Reliquien zu widmen, und der hiesige Priester, Henry Ouston, ist ein alter, intelligenter Mann, der nichts dagegen einzuwenden zu haben scheint, wenn ein beträchtlicher Teil unserer finanziellen Mittel in den Erwerb neuer Reliquien oder diese betreffender Fachbücher fließt – auf meinen Antrieb hin natürlich. Er gehört zu jenen Menschen, die zwischen der ihnen angeborenen Milde und der ihnen anerzogenen Strenge hin und her schwanken, und manchmal kann er deshalb zu raschen, schlecht vorherzusehenden Gemütsschwankungen neigen.

Londons frommes Leben ist weitgehend in der Hand der Anglikaner, und der Priester scheint meine Theorie zu teilen, dass wir den Beistand der Heiligen bitter nötig haben, um uns zu behaupten.

Unsere Gemeinde setzt sich zum großen Teil aus irischen Einwanderern zusammen, geradlinige, aufrechte Menschen, die auch dann noch den Herrn preisen, wenn sie bis zur Gurgel mit Alkohol gefüllt sind. Meiner stetig wachsenden Sammlung von Reliquien bringen sie zwar nicht die tiefe, glühende Verehrung entgegen, wie es die Italiener täten, doch scheinen sie sich in der Gesellschaft der Gebeine wohl zu fühlen, die den Altarbereich der Kirche füllen. Eine Irin würde niemals tun, was die namenlose Italienerin in meiner Herberge in Padua tat, doch die Iren lieben die Toten und ihre Knochen, viel mehr als die Engländer, und ich glaube, viele von ihnen hätten mich verstanden, wenn ich ihnen meine Geschichte erzählt hätte – vor den Ereignissen in Whitechapel und vielleicht sogar danach.

Seit ich das Stück einer Rippe des Lazarus aus Südfrankreich erworben habe, fühle ich mich diesem Heiligen enger verbunden. Nach und nach beginnt er in meinem Leben eine größere Rolle zu spielen als der gute Antonius, dem ich meine Flucht aus den Gewölben und meine Errettung von den Fleischeslüsten zu verdanken habe. Antonius ist der Schutzheilige der Reisenden, und seine Reliquien beschützten mich, als ich auf Reisen war. Doch nun bin ich nicht mehr unterwegs und nicht mehr auf der Suche.

Ich bin sesshaft geworden, ein Mann, der die Kraft der Toten erweckt, wie Jesus den Lazarus vier Tage nach dessen Tode erweckte. Lazarus ist der Schutzheilige der Metzger und Totengräber, der Kranken und der Krankenhäuser. Ich bin kein Metzger und kein Totengräber, und dem Hospital habe ich den Rücken gekehrt, und doch ist von alldem etwas in mir.

Lazarus ist mein Schutzheiliger, seine Rippe gibt mir Kraft, und ich werde darauf bedacht sein, seinen Namenstag am 31. August in gebührender Weise zu begehen.