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Noch während er auf dem Weg zur Herberge war, fiel ihm auf, dass es schwierig werden würde, später Rechenschaft darüber abzulegen, wie er zu der Tasche gekommen war und warum er sie zunächst an sich genommen hatte. Als er durch den langen Flur zu der schmuddeligen Theke der Herbergsmutter ging und die alte Frau mit den nach allen Seiten abstehenden Locken wie einen hässlichen Geist hinter einer im Luftzug flackernden Kerze sitzen sah, dämmerte ihm, dass er diese Tasche und ihren Inhalt vielleicht nie an die Polizei würde weitergeben können. Irgendjemand würde ihn damit gesehen haben. Die Erde, die an ihr klebte, würde beweisen, dass er sie nicht einfach von der Straße aufgelesen haben konnte. Sie würde auf den Hinterhof verweisen, und dieser darauf, dass er gesehen hatte, wie der Fliehende sie dorthin geworfen hatte, und …

„Mr. Sickert? Sind Sie das? Wieder einmal in London? Es ist lange her. Wir sind alle alt und grau geworden …“

Die Frau, die das sagte, war schon vor zwanzig Jahren alt und grau gewesen, und sie schirmte ihr Gesicht von der Kerzenflamme ab, um ihn besser mustern zu können. Sah sie die Tasche? Sah sie den Schmutz darauf?

Fünf Shilling und zwei Minuten später saß Walter Sickert auf einem Bett in einem der winzigen, kalten Räume. Kopfschüttelnd über die eigene Dummheit betrachtete er die Tasche. Es war mehr ein Sack, ein einfacher Beutel, dessen Öffnung mit einer Kordel zuzuziehen war. Vielleicht war es noch nicht zu spät, sie den Behörden zu übergeben. Noch hatte er sie nicht geöffnet. Noch hatte er nichts damit zu tun.

Mit aufeinandergepressten Lippen löste er den Knoten, was angesichts der Nässe der Schnur einige Zeit in Anspruch nahm.

Er leerte den Inhalt auf die flickenbesetzte Bettdecke und drehte die Lampe heller. Zwei in bunte, exotische Tücher eingeschlagene Gegenstände waren herausgefallen, einer davon größer und schwerer als der andere. Sickert packte den größeren zuerst aus und starrte auf eine Bibel, auf deren schwarzem Einband silberne Buchstaben prangten. Das Einschlagtuch, das offenbar aus einem südostasiatischen Land stammte, hatte die Feuchtigkeit des Regens aufgesogen, die der dünne Stoff der Tasche durchgelassen hatte, und so war die Heilige Schrift von der Nässe nicht erreicht worden.

Walter Sickert hängte das Tuch zum Trocknen auf und legte die Bibel vorsichtig auf dem kleinen Tischchen neben der Lampe ab, nachdem er sie an mehreren Stellen aufgeschlagen und keine Besonderheiten daran entdeckt hatte.

Offenbar handelte es sich bei dem zweiten Päckchen ebenfalls um ein Buch – so jedenfalls fühlte es sich an. Als er es ausgepackt hatte, hielt er ein dünnes Notizbuch in Händen, mit einem braunen, von der Nässe etwas aufgeweichten Einband. Bevor er es aufschlug, fragte er sich, was mittlerweile aus seinem Besitzer geworden war. War der Kirchenmann klug genug gewesen, in einer der belebteren Straßen Zuflucht zu suchen? War er vielleicht sogar auf dem Weg zu einer Polizeiwache gewesen und hatte lediglich eine Abkürzung dorthin genommen? Je mehr er darüber nachdachte, desto unwahrscheinlicher erschien es ihm, dass der Geistliche tatsächlich den Schutz der Einsamkeit gesucht haben sollte. Was konnte schon schlimmer sein, als in einer der dunkelsten Gassen Londons mit einem geheimnisvollen Verfolger allein zu sein?

Sickert legte das Notizbuch auf eine trockene Stelle der Bettdecke. Seine Kleider waren nass, und er erschrak, als ein Tropfen von seinen Haaren auf den Umschlag fiel.

Langsam öffnete er das Buch und sah, dass etwa die Hälfte der Seiten beschrieben war. Die zweite Hälfte des Buches war weitgehend frei von Aufschrieben, nur an einigen Stellen fanden sich einige Kritzeleien, manchmal Zahlen, manchmal mehrfach nachgezogene geometrische Formen, wie man sie aufs Papier bringt, während die Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt sind. Die eine oder andere Zahl schien ein Datum darzustellen, einige weitere mochten auf Bibelstellen hindeuten. Bisweilen waren kleine Papierstücke eingeklebt, offenbar ausgeschnittene Zeitungsartikel. Das billige Papier war rascher vergilbt als das des Notizbuches, und die verblassten Lettern waren mit dem goldbraun verfärbten Papier verschmolzen.

Die beschriebenen Seiten bildeten offenbar ein Tagebuch. Der erste Eintrag datierte vom 13. Juni 1888. Zwischen dem Umschlag und der ersten Seite lag ein Bündel eng beschriebener Blätter, die neuer wirkten als das Buch. Sie waren von eins bis neun durchnummeriert, und die erste Seite begann mit der Zeile: „15. August 1902, Mandalay, Burma“. Schimmelflecken bedeckten die Seiten des Buches, nicht aber die losen Blätter.

Er legte das Tagebuch beiseite, schlüpfte aus seinen nassen Kleidern und kroch unter die Bettdecke. Die Schrift der Aufschriebe war ausgefallen: Die Buchstaben drängten sich eng gegeneinander, als suchten sie aneinander Wärme und Geborgenheit. Sie waren stark nach links gekippt und schienen sich kaum entschließen zu können, die linierten Seiten zu füllen.

Walter Sickert begann zu lesen. Er wusste schon bald, dass er diesen Fund sein Leben lang nicht mehr vergessen würde …

15. August 1902, Mandalay, Burma

Mein wirklicher Vater ist der fünfzehnte Earl von Tussleford, nicht der Trinker, mit dem meine Mutter für ein paar Jahre zusammenlebte. Sie sagt, ich bin eines aus einem guten Dutzend seiner unehelichen Kinder, und ich glaube nicht, dass er sich je die Mühe gemacht hat, meinen Namen zu erfahren oder zu behalten.

Trotzdem habe ich kein Recht, mich über meinen Erzeuger zu beschweren. Seine finanziellen Zuwendungen kann man nur als großzügig bezeichnen, und wenn ich auch nie das Privileg genoss, die Luft seines adeligen Umfelds zu schnuppern, so erlaubte mir sein Geld, kombiniert mit der eisernen Sparsamkeit meiner Mutter, das Studium der Medizin, ohne das mein Leben zweifellos ein vollkommen anderes gewesen wäre. Als der Lebensgefährte meiner Mutter eines Tages zwei Pfund aus meinem Vermögen bei obskuren Wetten verspielt hatte, warf sie ihn kurzerhand aus dem Haus. Sie wollte, dass ich Arzt wurde, und ich tat ihr den Gefallen.

Wenigstens für kurze Zeit, bevor ich meine wahre Berufung erkannte.

Ich weiß nicht, ob meine Mutter glücklich wäre, wenn sie mich jetzt sehen könnte. Hier in diesem fernen Land, unter Menschen, deren Gesichtszüge ihr vielleicht Angst einjagen würden. Ich habe ihr nicht geschrieben, wo ich mich aufhalte. Seit Herbst 1888 habe ich ihr nicht mehr geschrieben, und vermutlich denkt sie, ich sei längst tot.

Vermutlich ist sie selbst längst tot.

Diese Zeilen füge ich als eine Art Vorwort einem Tagebuch hinzu, das ich zwischen Juni und November 1888 verfasste. Wer immer es in die Hand bekommen wird, wird es ohne diese erläuternden Seiten nicht verstehen können. Es ist ein Dokument des Grauens. Von hundert Menschen, die es lesen, werden fünfzig glauben, der Teufel hätte es geschrieben. Neunundvierzig werden sagen, es stamme von einem Wahnsinnigen. Und nur der hundertste wird einen Sinn darin erkennen, einen tieferen Sinn, eine Wahrheit, die er vielleicht an anderen Stellen in seinem Leben bereits erahnte, die er spürte wie einen flüchtigen Hauch. Diese Wahrheit wird kaum irgendwo so deutlich greifbar sein wie in diesem Tagebuch. Deshalb ist es so wertvoll, trotz der furchtbaren Dinge, die darin beschrieben werden.

Die Wahrheit ist Gott.

Nur die Bibel allein sagt mehr über Gottes Wege als dieses Tagebuch. Wann immer diese Aufschriebe den Leser verwirren und abstoßen mögen, suche er Trost in der Heiligen Schrift. Gestärkt und ermuntert von den Worten des Herrn lese er weiter in diesen Seiten, und wenn er am Ende angelangt ist, wird er weiser sein als zuvor.

So wie ich es heute bin.

Ich bin nicht mehr der armselige Sünder, der diese Aufzeichnungen machte. Die Zeit unter Gottes Führung hat mich in einen neuen Menschen verwandelt. Auf die Turbulenzen, die mich zu verschlingen drohten, folgten ruhige Gewässer. Durch Jesus, den Sohn des Herrn, wurde ich wiedergeboren.

Heute bin ich Alan Spareborne – ein katholischer Missionar von 48 Jahren, stationiert in einem wunderschönen Land, das man Burma nennt und in dem fremdartige buddhistische Mönche in langen roten Gewändern die Lehre Gottes verkünden. Nicht nur ihr Äußeres und ihre Sprache sind fremd, auch ihre Art zu denken und zu argumentieren ist es. Der Buddhismus ist eine Prüfung des Herrn. Nur, wer hinter den Schleier des Fremdartigen zu blicken vermag, erkennt in der fernöstlichen Lehre ein neues, frischeres Christentum, frei von verwirrenden Ornamenten und komplexen Symbolen – eine rohe und geradlinige Lehre.

Heute bin ich also Alan Spareborne, doch zu der Zeit, als ich das Tagebuch schrieb, hatte mir die Öffentlichkeit andere Namen gegeben.

„Leather Apron“ war einer davon – Lederschürze.

Die weitaus meisten kannten mich unter dem hässlichen Namen „Jack the Ripper“, den mir ein anonymer Briefeschreiber gab und von dem es mich nicht überraschen würde, wenn er drüben, im Königreich, längst vergessen wäre.