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Walter Sickert kroch aus dem Bett und kramte in seiner kleinen Reisetasche nach einem Biskuit, das er auf dem Schiff eingesteckt hatte. Er ahnte, dass ihm der Appetit bald vergehen würde – vielleicht für lange Zeit.

19. Juli 1888

Der Priester hat mich heute erstmals im Zusammenhang mit meinen Reliquien gerügt. Habe ich „meine Reliquien“ geschrieben? Nein, es sind unsere, die Gebeine der Kirche und die Gebeine des Herrn. Der ganzen Menschheit gehören sie, und doch betrachte ich sie als meine eigenen Schutzheiligen, und es stimmt, ich halte mich nur noch in ihrer Nähe auf und fühle mich nur noch in der Anwesenheit der Heiligen entspannt und glücklich. Wann immer ich die Kirche verlassen muss, komme ich mir schutzlos und nackt vor; ich werde unsicher und gereizt, und der Priester sagt, ich schade damit dem Ruf unserer Kirche.

Er hat nicht Unrecht, doch es ist nun einmal ein Leben für die heiligen Reliquien, das ich wählte, und mir sollte das Recht zugestanden werden, mich immerzu in ihrer Nähe aufhalten zu dürfen. Es besteht kein Grund, mich hinauszuschicken in die kalte Stadt, in das sündige East End, um gefallenen Mädchen die frohe Botschaft zu überbringen, lächerlich pathetische alte Damen auf dem Sterbebett zu besuchen oder bei Wohltätigkeitsbazaren und religiösen Vorträgen zu assistieren. Andere können das tun. Warum überlässt man mich nicht ganz meiner Arbeit? Habe ich nicht eine Karriere als Chirurg ausgeschlagen, um Gottes Auftrag zu erfüllen?

Ich habe Gott um ein Zeichen gebeten, doch der Herr lässt mich warten.

Der Kunstmaler drehte sich zur Seite und wollte eben die Seite umschlagen, als ein resolutes Klopfen an der Zimmertür ihn zusammenfahren ließ.

„Mr. Sickert?“, klang die volltönende Stimme der Herbergsmutter durch das Zimmer, als gebe es die Tür dazwischen nicht.

„Was … wollen Sie?“ Sickert hustete und versuchte seine Stimme wiederzufinden, die ihm durch den Schrecken abhanden gekommen war. Das Tagebuch steckte er zunächst unter das Kopfkissen, dann zog er es hervor und schob es unter das Bett.

„Haben Sie schon gegessen?“

„Nein, ich … Das heißt, ja: Auf dem Weg hierher hatte ich eine Portion französische Kartoffeln. Ich bin nicht hungrig. Vielen Dank, Mrs. Spareborne, Sie sind sehr …“

„Spearson, Mr. Sickert, Spearson“, kam es leicht indigniert zurück. Und dann fügte sie, mit wesentlich lauterer Stimme, hinzu, so dass es jeder ihrer Mieter hören konnte: „Wer heißt schon Spareborne?“

Walter Sickert, dem der Schweiß ausbrach, antwortete nichts und wartete mit pochendem Herzen ab, bis sich die schweren Schritte der dickleibigen Hausmutter im Flur verloren hatten.

24. Juli 1888

Hatte eine böse Auseinandersetzung mit dem Priester. Als er mich wieder einmal zu einem dieser törichten Bazare schicken wollte, hatte ich mich nicht dazu imstande gefühlt. Ja, ich war hinausgegangen, ich war zu Fuß durch Whitechapel in Richtung Spitalfields gelaufen, zornig und unruhig, aber gewillt, seinen Auftrag auszuführen. Doch in den Straßen von Whitechapel hatte ich es mit der Angst zu tun bekommen.

Es war helllichter Tag, und ich hatte einen unbedachten Blick in einen Hinterhof geworfen, wo ein kleinwüchsiger Mann auf einer Obstkiste stehend mit einem Straßenmädchen geschlechtlichen Verkehr ausübte. Ganz in der Nähe stand jemand, der den beiden ausgesprochen amüsiert dabei zusah. Nicht, dass mich dieser Anblick wirklich schockierte. Ich ging weiter und hatte ihn bald verdrängt. Der Gedanke allerdings, in wenigen Stunden, wenn der Bazar zuende und die Sonne längst untergegangen sein würde, denselben Weg wieder zurückgehen zu müssen, jagte mir eine Gänsehaut über den ganzen Leib, dass ich zunächst erstarrte und kurz darauf bibbernd zurück zur Kirche lief, die ganze Meile dorthin, um mir die Reliquie des Lazarus auszuleihen und unter ihrem Schutz meinen Weg erneut anzutreten.

Ein Gefühl der Stärke erfüllte mich, und ich nahm in voller Absicht denselben Weg durch die schmutzigsten Straßen Whitechapels noch einmal. Die Obstkiste lag noch immer an Ort und Stelle, doch die drei Menschen waren längst verschwunden. Auch der Rückweg machte mir nun nichts mehr aus, da ich Lazarus’ Rippe in einer Tasche unter meinem Kirchengewand spürte. Ich machte sogar noch einen Umweg und schlenderte durch einige finstere Stadtteile, wie jemand, der gegen jede Gefahr immun ist.

Als ich St. Patrick’s gegen acht Uhr abends betrat, wartete Henry Ouston, der Priester, auf mich. Gewöhnlich war er um diese Zeit längst zu Bett gegangen, da er meist gegen vier Uhr aufstand, doch offenbar hatte er das Fehlen der Reliquie bemerkt. Er musste eine Ahnung gehabt haben, sonst wäre ihm das Verschwinden des winzigen Rippenstücks kaum aufgefallen.

„Ich bringe sie zurück“, meinte ich mit leiser Stimme und versuchte, an ihm vorbei in den Altarbereich zu gelangen. Er versperrte mir den Weg.

„Ich verbiete Ihnen, die Reliquien in der Stadt herumzutragen“, sagte er. Es war, als spräche ein Schullehrer zu einem kleinen Jungen.

„Ich brauchte ihren Schutz.“

„Es ist nicht gut, die Körper der Heiligen zu benutzen wie die Heiden ihre Amulette und Talismane.“

Ich dachte lange über diese Worte nach und tue es noch immer. Wenngleich ich es für nötig erachte, zwischen Christen und Heiden eine klare Grenze zu ziehen, denn die einen sind dem Herrn begegnet, während die anderen fantastischen Abgöttern nachjagen, erachte ich es nicht für zwingend, zwischen Reliquien und Amuletten zu unterscheiden. In den Gebeinen der Heiligen wirken die ewigen Kräfte der edlen Seelen, die Gott unsterblich gemacht hat. Wenn es auf dieser Erde ein Amulett gibt, das eine wahre Wirkung zeigt, nicht nur eine eingebildete, durch Aberglauben erzeugte, dann muss es eine Reliquie sein.

Vorsicht vor dem Irrglauben ist angebracht und wichtig. Doch in diesem Fall führt übertriebene Vorsicht dazu, an der Herrlichkeit und Macht Gottes zu zweifeln. Die Rippe des Lazarus, meines Schutzheiligen, hat mich unbeschadet durch den finstersten Teil Londons geführt. Dies zu leugnen wäre ein Sakrileg.

Ich sagte nichts und gebe mich ohne Widerrede der Strafe hin, die der Priester mir auferlegt hat. Einen Tag und eine Nacht sitze ich in einer kleinen Kammer ohne meine Bücher. Es ist vielleicht gut, einmal in Ruhe nachsinnen und beten zu können.

Als Sickert den eben gelesenen Absatz mit dem folgenden verglich, fiel ihm auf, dass sich die Schrift verändert hatte. Sie war unsteter und unklarer geworden. Trotzdem bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, die gehetzt wirkenden Lettern zu entziffern …

29. Juli 1888

Etwas Schreckliches ist geschehen.

Ich spüre, wie das Fieber nach mir greift, das der Schock weckte, und ich will diese Zeilen niederschreiben, ehe die Krankheit meine Sinne umnebelt.

Ich soll diesen Ort verlassen – St. Patrick mit den Körpern der Heiligen, London, England, ja, sogar Europa! Die Welt, in der es Gotteshäuser, Heilige Schriften und fromme Gebete gibt, soll ich hinter mir lassen und in ein Land reisen, das von alldem noch nie gehört hat. Nach Burma will man mich aussenden, nach Britisch-Indien, in eine Stadt namens Mandalay, von der ich noch nie gehört zu haben glaube. Als Missionar soll ich gehen und die Menschen dort zu Gott bekehren, ihnen von der Heiligen Schrift erzählen, die noch niemand in ihre Sprache zu übersetzen sich die Mühe machte.

Eine Reise ins Nichts verlangt man von mir. Angeblich herrscht großer Mangel an katholischen Missionaren, und der Bischof wählte nach mir unbekannten Kriterien Männer für diese Aufgabe aus. Ich bin mir ganz sicher, dass Pater Henry Ouston seine Hände im Spiel hat. Obwohl ich ihn als Mensch und als Mann der Kirche schätze, sind in den letzten Wochen unüberbrückbare Meinungsverschiedenheiten zwischen uns zutage getreten, und als einzige Lösung dafür mag es ihm erschienen sein, meine Aussendung als Missionar zu erwirken.

Ein kluger, wenngleich unmenschlicher Plan. Die Zusammenhänge liegen klar vor mir. Und auch, dass man es mir nicht gestatten wird, einige der mir so teuer gewordenen Reliquien mit in die barbarische Fremde zu nehmen, steht außer Zweifel!

Eine schreckliche Mattheit erfasst mich bereits jetzt. Mitte November, so teilte man mir mit, solle ich gehen. Vier Monate oder fünf bleiben mir im Kreise meiner Heiligen. Vielleicht entwickle ich ein Fieber, das mich hinweg rafft von dieser Erde, ehe der Termin herbei rückt.

Vor zwei Wochen war ich noch das Glück in Person. Heute wünsche ich mir den Tod. Warum lässt man mich etwas aufbauen, um es dann wieder zu zerstören? Was soll ich tun? Wenn mir doch der Herr nur ein Zeichen schickte …

Die Schrift verschlechterte sich zusehends, und an einigen Wörtern hing der Maler minutenlang, um sie zu entschlüsseln. Niemand konnte so etwas imitieren. Jede der Qualen in Alan Sparebornes Seele spiegelte sich in diesen gepeinigten Lettern, und nicht selten war die Schrift von seinen Fingern verwischt worden. Seine Hände mussten schwarz gewesen sein von der Tinte, besudelt, wie sie es später vom Blut seiner Opfer sein würden …

6. August 1888

Eine Woche liege ich schon im Fieber, und keine Aussicht auf Besserung. Der Pater wirft mir vor, mir die Krankheit selbst zuzufügen. Er gibt mir zu verstehen, der Bischof werde seine Entscheidung unter keinen Umständen zurücknehmen und mich notfalls in siechendem Zustand nach Asien verschiffen.

Was versteht er schon von Entscheidungen und Krankheiten? Meine Gedanken kreisen immer mehr darum, wie ich mich schützen kann, wenn ich denn tatsächlich ins ferne Burma zu reisen gezwungen sein werde. Die Reliquien zu stehlen, sie durch Imitate zu ersetzen, das könnte eine Lösung sein. Doch der Pater wird damit rechnen, dass ich es tue. Er wird es zu verhindern wissen.

Ich muss einen anderen Weg finden. Entweder muss ich auf diesem Krankenlager sterben, oder ich habe gewappnet zu sein, wenn ich die große Reise antrete. Keinen Tag könnte ich an Bord eines Schiffes zubringen, ohne mir des Schutzes der heiligen Amulette sicher zu sein.

Jetzt habe ich niedergeschrieben, was meine Gedanken schon seit Tagen beherrscht. Amulett – das ist das verbotene, das ketzerische Wort. Und doch trägt es die Wahrheit in sich. Schon einmal habe ich ein ketzerisches Wort ausgesprochen und den Sieg davongetragen. „Schweinsleber“ hatte ich etwas genannt, das kein geringerer als der Papst als Heiligtum bezeichnete. Die Wahrheit ist stärker als Kirchenränge. Mein Wissen, meine Vernunft und meine Intelligenz hatten mir die Wahrheit verraten, und Gott belohnte mich dafür. Soll ich mich jetzt davor scheuen, etwas bei dem Namen zu nennen, den ein gewöhnlicher Priester für unangebracht hält?

Amulett. Amulett. Amulett. Der Schutz der Reliquie macht mich unbesiegbar. Ohne sie bin ich ein Nichts.

Heiliger Lazarus, hilf mir! Sende mir ein Zeichen! Unser Herr Jesus Christus hat dich auf das Flehen deiner beiden Schwestern Martha und Maria hin zum Leben erweckt. Erwecke nun mich vom Sterbebett. Zeige mir einen Weg. Zeige mir einen Weg!

Dein Tag ist der 31. August. Es ist nicht mehr lange hin. Wie krank ich auch sein mag, ich werde dir ein würdiges Fest bereiten.