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Die versteckten Vorankündigungen, die Hinweise zwischen den Zeilen waren so deutlich, dass Walter Sickert nicht mehr hoffen durfte, von weiteren Bluttaten verschont zu bleiben. Und doch hoffte er weiter für diesen ihm fremden Menschen, dass er sich diesmal als stark genug erweisen würde, der Versuchung zu widerstehen. Eine lächerliche Hoffnung. Walter Sickert konnte sich an weitere Opfer erinnern – und es führte kein Weg daran vorbei, ihnen heute Nacht noch zu begegnen …

30. September 1888

Zwei Märtyrerinnen wurden hingerichtet. Vier wären unmöglich gewesen. Whitechapel wimmelt von Polizisten. Schon bei der ersten hätte man mich beinahe erwischt. Ich hatte keine Zeit, ihr die Reliquie zu entnehmen. Ihr Tod war so sinnlos, scheußlich und schmutzig wie der von Marie Nichols – sinnlos, sinnlos, sinnlos! Ich weiß nicht einmal, wie der Ort hieß, an dem es geschah, aber ich werde es bald in der Zeitung lesen. Vielleicht eine halbe Stunde später fand ich im Mitre Square eine zweite Märtyrerin und entnahm ihr den Uterus und eine Niere – die linke. Es verletzt meine Berufsehre, es zugeben zu müssen, doch ich war in höchstem Maße nervös bei dem Eingriff, und ich fürchte, ich muss den Körper der armen Frau bei meiner wirren Suche furchtbar zugerichtet haben. Ich erinnere mich nicht daran, wie sie aussah. Ich werde sie nicht wiedererkennen, wenn sie ihr Gesicht in der Zeitung abdrucken. Die Teile von ihr, die ich besitze, werde ich umso sorgfältiger behandeln.

Es wird Zeit, dass all das ein Ende hat. Ich kann keine Operationen mehr brauchen, keine Namenstage und keine toten Frauen. Nie hätte ich ein Leben lang als Chirurg arbeiten können. Es hätte mich um den Verstand gebracht.

Beinahe bin ich froh, dass ich bald als Missionar in Burma sein werde. Fünfeinhalb Wochen noch. London beginnt mich zu erdrücken, mit seinen Kirchen und Prostituierten, mit seinen Zeitungen, die nur noch von Morden schreiben.

Ich scheine langsam den Verstand zu verlieren. Am klarsten denke ich noch im Fieber. In einfachen, kurzen Gedankengängen. Wenn ich fieberfrei bin, so wie jetzt, fallen mir die Widersprüche auf. Versuchungen Satans?

Ich werde mich daran machen, die Reliquien zu präparieren. Nichts darf auf meine Tat hindeuten, wenn Pater Ouston zurückkehrt. Was sage ich da? Wie soll ich es verheimlichen? Die Presse wird voll davon sein, und er wird heute schon in Dublin davon erfahren.

Heute schon! Wird er überhastet zurückkehren? Dann könnte er heute Abend bereits hier sein! Ich muss mich beeilen. Vielleicht sollte ich fliehen. Aber wohin? Wenn ich verschwinde, wird man wissen, dass ich es war. Und ich werde niemals nach Burma kommen.

Wenn ich in England bleibe, werden sie mich aufhängen, früher oder später.

Wird der Pater noch einmal zu mir halten?

1. Oktober 1888

Ich habe mir eine Zeitung gekauft. Es ist die Morgenausgabe der Daily News. Eine der Überschriften wühlt mich so auf, dass ich das Gefühl habe, meine Wut, heißer als jedes Fieber, das ich je hatte, werde jeden Augenblick das billige graue Papier in Flammen setzen.

In der zentralen Nachrichtenagentur ist bereits vor drei Tagen ein Brief eingegangen, der mit den Worten „Lieber Boss“ beginnt und sich liest wie das Machwerk eines geistig Zurückgebliebenen. Erst jetzt hat man sich zu seiner Veröffentlichung entschlossen – offenbar hatte die Polizei angeordnet, ihn zurückzuhalten.

Ein unverschämter Kerl bekennt sich zu den Morden, macht sich über den Namen „Leather Apron“ lustig, den ich zu respektieren begonnen habe, und nennt sich selbst „Jack the Ripper“. Als ich den Namen zum ersten Mal lese, weiß ich, dass die Presse und die Öffentlichkeit darauf einsteigen werden.

Der Name ist ordinär und reißerisch, ein Ausbund an Trivialität und Geschmacklosigkeit. Was ich getan habe, beginnt sich zu verselbständigen, wird zu einem Spielzeug in den Händen der Medien und der gelangweilten, frustrierten Menschen in den Straßen. Sie fangen an, sich einen Buhmann zusammenzuschustern, aus ihren eigenen Ängsten und Fantasien. Zwei Drittel der Leute dort draußen heißen Jack oder fühlen sich, als hießen sie so. Zwei Drittel träumen insgeheim davon, Frauen zu zerreißen. Wenn sie über die tragischen Unglücke nachdenken, sehen sie darin sich selbst – die Frauen erkennen sich als Opfer wieder, die Männer als Mörder. Als sie mich Lederschürze nannten, sahen sie in mir einen Fremden. Metzger sind ihnen unheimlich, wie die Ärzte oder die Juden. Nun, da sie beginnen, sich selbst, ihre eigenen kleinen Familien und Bekannten, in das Spiel von Schändern und Geschändeten einzubringen und daraus ein erbauliches Picknick im Kreise der Lieben zu machen, trägt der Name für sie keinen Sinn mehr. Alle heißen sie Jack, und alle wollen sie nur ungelenk zerreißen, wie es ihrer Natur entspricht.

Sie übersehen, dass die Polizei den Täter für einen Chirurgen hält und damit recht hat. Dass sie betont, wie sorgfältig und professionell das Unvermeidliche getan wurde. Jack the Ripper – was für ein hanebüchener Unsinn!

Es war drei Uhr, und Walter Sickert spürte keine Müdigkeit – nur eine stumpfe Trägheit. Er sehnte sich danach, es hinter sich zu bringen. Noch zehn Seiten oder weniger, dazu zwei längere Zeitungsartikel. Es ging dem Ende entgegen.