17

Lock sagte Ja. Nach einer Stunde in seinem Zimmer wusste er, wie seine Antwort lauten musste.

Er hatte am Fenster gesessen und auf den See hinausgeschaut, der jetzt stahlgrau unter den Wolken lag, die stetig von Westen herangezogen waren. Schwarze Bäume beugten sich über die Wasserfläche; sie sahen aus wie mit Kohle skizziert; das gegenüberliegende Ufer war nicht zu sehen.

Er war noch nie dem Tod nahe gewesen, und jetzt, nachdem er diese Erfahrung gemacht hatte, konnte er sich nicht daran erinnern. Sogar das hatte Malin ihm geraubt. Aber er wusste, dass die Dinge sich geändert hatten. Sein Leben – sein bisheriges kränkliches Dasein – hatte einen Scheideweg erreicht. In Berlin hatten sie ihn betäubt, doch in Wahrheit war er schon seit Jahren ohne Bewusstsein: heiter, friedlich, ein Narr unter Verbrechern. In den eigenen Tod zu stolpern, ohne zu sehen und zu denken – was für ein passender Weg, ein solches Leben zu beenden. Und es war zu Ende. Es war vorbei. Nicht nur, dass er sich nicht länger dazu bringen konnte, Malin zu schützen; er konnte es auch nicht länger ertragen, sein altes Ich zu schützen. Das FBI, die Schweizer, Tourna, die Journalisten, die Witzbolde in Moskau: Sie konnten ihn haben. Sie hatten von Anfang an recht gehabt, und wenn sie es beweisen und damit herumprahlen wollten, dann sollten sie doch.

Malin aber, Malin gehörte ihm. Lock wollte, dass dieses aufgeblasene und Schrecken verbreitende Leben zurechtgestutzt, seiner Macht beraubt und in seiner Verlogenheit bloßgestellt wurde. Er wollte, dass Malin verstand, wie es war, nichts zu sein, ein Bettler zu sein, jeden Halt zu verlieren.


Er fand Webster im Restaurant, der einzige Mensch in dem adretten, hellen Speisesaal. Ein leichter Geruch nach Toast und gebratenem Speck hing in der Luft. Webster rührte in einer Tasse Kaffee, der Löffel klirrte gegen den Rand; sein Tisch war der einzige mit einer Tischdecke.

»Sind Sie allein?«

»Sie haben keine Mittagsküche hier. Frau Maurer hat mir ein Omelette gemacht. Ich bin sicher, sie würde Ihnen auch eins machen.«

Lock schüttelte den Kopf. »Der Geruch reicht mir völlig. Danke.«

»Kaffee?«

»Wasser.«

»Setzen Sie sich.« Webster stand auf und ging in die Küche, er schien sich wie zu Hause zu fühlen. Lock schaute aus dem Fenster, vor dem gepflegte Nebengebäude aus Backstein zu sehen waren. Herr Maurer schob eine Sackkarre mit einem hohen weißen Kühlschrank zu einem weißen Transporter, der mit offenen Hintertüren bereitstand.

Webster kam mit jeweils einer Flasche stillem und kohlensäurehaltigem Mineralwasser, einem Glas und einer Schale Eiswürfel zurück.

»Ich wusste nicht, welches Sie wollten.«

»Was glauben Sie, was die mir gegeben haben?«

»Dmitri hatte etwas bekommen, das GHB heißt. Es wird aus Fußbodenreiniger hergestellt.« Lock sagte nichts. »Aber es war eine Flasche Gin in Ihrem Zimmer, die ich vorher nicht gesehen hatte. War das Ihre?«

»Nein. Kein Gin.«

»Dann haben sie Ihnen wahrscheinlich eine ganze Menge davon eingeflößt. Wenn auch vielleicht nicht aus dieser Flasche.«

»Das ergibt Sinn. Ich kann das Zeug in meinem Atem schmecken.«

Webster hielt Lock die Flasche mit stillem Wasser hin. Lock nickte.

»Wir sollten es machen.«

Webster schenkte ein und gab Lock das Glas.

»Sind Sie sicher?«

»Vollkommen. Ich schulde es Nina. Ganz zu schweigen von Marina und Vika. Verdammt, und allen anderen.« Er nahm einen Schluck. Er konnte es kühl und mineralisch in seiner Kehle spüren.

Webster beobachtete ihn, als ob er auf mehr wartete. Lock nahm noch einen Schluck.

»Haben Sie keine Zweifel?«

»Keine.«

»Dann haben wir eine Menge zu tun.«


An diesem Abend rief Lock Malin an. Webster hatte ein Skript für ihn geschrieben und ihn instruiert, einen professionellen Tonfall beizubehalten. Es sei ein Deal wie jeder andere.

Webster hatte am Nachmittag neue Handys aus der Stadt besorgt. Sechs Stück; ihr Verbrauch war beachtlich. Danach hatte er stundenlang mit Leuten in London über die Operation gesprochen. Leute von einer Sicherheitsfirma wurden eingeflogen, sie würden am Abend eintreffen. Nina plante, ihre Schwester in Graz zu besuchen. Lock staunte, wie exakt jeder Schritt berechnet werden musste. Ihm wurde klar, dass er sich zunehmend auf Webster verließ – er tauschte einen Lenker gegen einen anderen.

Es war spät in Moskau, als er anrief. Halb elf. Malin würde aber noch wach sein. Er schlief wenig.

Es klingelte fünf Mal, bevor er abnahm.

»Richard.«

»Konstantin.«

»Wo sind Sie?«

»An einem Ort, wo Sie mich zur Abwechslung mal nicht finden können.« Sie redeten russisch.

»Ich wünschte, Sie würden nach Hause kommen.«

»Es ist nicht mehr mein Zuhause, Konstantin. Seien wir ehrlich, das war es auch nie.« Webster, der neben Lock stand, tippte mit seinem Finger auf das Skript auf dem Tisch. Nicht abschweifen.

»Richard, ich bin vielleicht der einzige Mensch, der Sie schützen kann. Hören Sie nicht auf andere Leute, die behaupten, sie könnten das.«

Lock schaute zu Webster hoch, der nickte. »Konstantin, ich mache Ihnen einen Vorschlag. Ich habe etwas, das Sie wollen, und Sie haben etwas, das ich will. Ich habe Dmitris Dateien. Ich weiß, dass Sie danach gesucht haben.«

Das Skript sah hier eine Pause vor, um Malin Zeit für eine Reaktion zu geben, doch er sagte nichts.

Lock sprach weiter. »Ohne meine Hilfe werden Sie sie nicht finden, das steht fest. Ich bin bereit, sie Ihnen zu geben – im Tausch gegen meine Freiheit und eine Geldsumme, um mich für den Ärger zu entschädigen, den ich Ihretwegen hatte. Und was Faringdon betrifft: Ich garantiere eine glatte Übergabe meiner Eigentumsrechte an einen neuen Eigentümer Ihrer Wahl. Ich würde vorschlagen, dafür eine russische Lösung zu finden.«

»Wie viel?«

»Moment, ich bin noch nicht fertig. Ich würde mich ebenfalls verpflichten, mit jeglichen Strafverfolgungsbehörden lediglich über Dinge zu sprechen, die in meinem Zuständigkeitsbereich lagen. Ich werde keine weitergehenden Spekulationen anstellen. Wie Kesler Ihnen bestätigen kann, reicht das nicht aus, um Ihnen etwas anzuhängen. Nicht in Russland. Ich werde vielleicht nicht so viel Glück haben, aber das Risiko nehme ich gerne auf mich. Schließlich verpflichten Sie sich, mich in Ruhe mein Leben leben zu lassen. Das Gleiche gilt für Nina Gerstman.«

Malin schwieg vielleicht zehn Sekunden lang. Lock blickte zu Webster hoch und zuckte mit den Schultern. Dann redete Malin. »Das ist alles?«

»Im Großen und Ganzen ja. Wenn wir uns treffen, können wir die Details besprechen.«

»Wie viel?«

»Zehn Millionen Dollar.«

Malin grunzte. »Wo wollen Sie sich treffen?«

»Halten Sie sich bereit, am Montagmorgen nach Europa zu fliegen. Ich werde Sie morgen um Mitternacht anrufen und wissen lassen, zu welchem Flughafen. Der Flug wird von Moskau aus nicht länger als vier Stunden dauern. Wenn Sie landen, werde ich Sie wieder anrufen und Ihnen eine Zeit und einen Ort nennen, an dem wir uns treffen.«

»Das ist nicht genug Zeit, einen Flugplan genehmigen zu lassen.«

»Es ist Russland. Sie werden es schaffen.«

Es war still in der Leitung. Schließlich sagte Malin: »Lassen Sie mich Sie in einer Stunde zurückrufen. Ich muss nachdenken.«

»Nein, das müssen Sie nicht. Wenn Sie jetzt nicht einem Treffen zustimmen, rufe ich sofort das FBI an und gebe denen die Dateien. Die werden ihre Freude daran haben.«

»Sagen Sie mir, was die Dateien enthalten.«

»Sie können es herausfinden, wenn wir uns am Montag treffen. Das ist kein Trick.«

Wieder Stille. Lock stellte sich Malin vor, sein ausdrucksloses Gesicht, während er das Gehörte verarbeitete.

»Rufen Sie mich morgen an«, sagte Malin und beendete das Gespräch.

Lock spürte Websters Hand auf seiner Schulter und schaute auf.

»Was hat er gesagt?«, fragte Webster.

»Dass wir morgen anrufen sollen.«

»Das ist gut. Sehr gut. Hat er gesagt, dass er kommt?«

»Nein. Aber ich glaube, er wird kommen.«

»Wie war er?«

»Wie immer. Er lässt sich nicht in die Karten schauen.«

»Sie waren gut. Selbstsicher.«

Lock lächelte. Sein Kopf wurde langsam wieder klar, und zum ersten Mal an diesem Tag hatte er das Gefühl, etwas essen zu können.


Später aßen sie zusammen im Restaurant des Hotels. Es gab noch drei andere Gäste: eine Gruppe Amerikaner, bestehend aus einem Rentnerehepaar und einer Freundin, die zusammen einen Monat lang Deutschland und Holland bereisten. Vor dem Essen saßen Lock und Webster mit ihnen in der Bar und machten Small Talk. Webster bestritt den Großteil der Unterhaltung, während sich der immer noch angeschlagene Lock zurückhielt. Die Freundin war vor zehn Jahren schon einmal in Wandlitz gewesen, als das Hotel gerade eröffnet hatte; damals war Sommer gewesen, und sie war im See geschwommen. Webster lenkte das Gespräch auf ihre Reise. Ja, sie hatten Berlin besucht. Was für eine außergewöhnliche Stadt – ein historisches Monument für sich –, aber welche Gewalt sie erlebt hatte. Webster macht das gut, dachte Lock. Schließlich sagte er zu Locks Erleichterung, dass sie nun essen müssten, und sie gingen zu ihrem Tisch.

»Nette Leute«, sagte Webster.

»Nette Leute. Sehr nett. Sie hatten ein gutes Leben.«

»Kein Selbstmitleid, bitte. Sie haben mir gesagt, dass Sie sich positiv fühlen.«

»Nein, ich meine es ernst. Sie hatten ein gutes Leben. Das finde ich gut. Es ist schön, ein paar normale Menschen zu treffen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das zum letzten Mal getan habe.« Lock nahm einen Schluck Wasser. Er zog seine Serviette vom Tisch, schüttelte sie auseinander und breitete sie über seinen Schoß. »Wissen Sie, was ich tun wollte, bevor ich Sie in London anrief?«

Webster schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Ich wollte weglaufen. Ich hatte mir überlegt, dass ich, wenn ich es bis in die Schweiz schaffe, mein ganzes Geld dort abheben und anschließend verschwinden würde. Ich kenne jemanden in Istanbul, von dem ich dachte, dass er mir vielleicht einen Pass beschaffen könnte.«

»Wohin wären Sie gegangen?«

»Ich weiß nicht. Vanuatu. Oder irgendeine indonesische Insel. Irgendein Ort mit viel Sonne und ohne nennenswerte Regierung.« Er lächelte. »In der Schweiz habe ich fast neun Millionen Dollar. Wenn ich noch dreißig Jahre lebe, dann sind das dreihunderttausend pro Jahr. Das reicht.«

Eine Kellnerin kam und fragte, ob sie schon bestellen wollten.

»Was schaffen Sie?«, fragte Webster.

»Sehr wenig.«

»Was Sie brauchen, ist gekochter Reis mit Karotten. Und ein Glas Rotwein.«

»Warum in aller Welt sollte ich das wollen?«

»Gut für einen empfindlichen Magen. Vertrauen Sie mir. Ich würde nichts anderes nehmen.«

»Okay. Aber keinen Wein.«

Webster bestellte auf Deutsch. »Also, was ist passiert? Warum sind Sie nicht geflohen?«

»Mir fiel ein, dass die Schweizer angefangen hatten, nachzufragen. Sie hatten einen meiner Leute in Zürich zu einem Gespräch vorgeladen. Wussten Sie das?«

Webster schüttelte den Kopf.

»Also waren das nicht Sie?«

»Wir waren es nicht.«

»Ist wohl auch egal. Ich dachte, sie würden mich an der Grenze aufhalten, und das wäre es gewesen.« Lock brach sich ein Stück Brot ab. Er nahm einen kleinen Bissen und kaute langsam. Das Brot fühlte sich komisch an in seinem Mund. »Aber ich glaube nicht, dass sie es getan hätten.«

»Vielleicht doch. Wahrscheinlich noch nicht jetzt.«

»Genau. Ich glaube, ich hatte einfach Angst. Oder ich wollte einfach nicht gehen.«

»Weil das Paradies nicht so toll ist, wie alle sagen?«

»Ich glaube nicht, dass ich wieder jeden Tag in der Sonne liegen könnte.«

»Also was wollen Sie?«

»Ich habe keine Ahnung. Keine Ahnung.« Hatte er doch, dachte Lock. Er wollte in London leben und seine Frau und sein Kind sehen. Doch es laut auszusprechen, würde Unglück bringen.


Am Sonntag sahen sich Lock und Webster kaum: Webster fuhr nach Berlin, um zusammen mit George einen geeigneten Ort für das Treffen zu finden, und Lock verbrachte den Tag in seinem Zimmer und entwickelte einen Plan für die Übergabe von Faringdon.

Am Nachmittag wanderte er auf einem in den Schnee getrampelten Pfad um den See herum und beobachtete die Enten. Die Metallringe an den Masten der Boote klingelten leise im Wind wie Kuhglocken, und über seinem Kopf beugten sich schwarze Zweige unter ihrer Last aus gefrorenem Weiß. Auf dem Wasser lag ein leichter Nebel, und alles war in Silbergrau getaucht. Zwanzig Meter hinter ihm folgte einer von Georges Leuten.

Er wollte mit Marina sprechen. Sie würde sich Sorgen machen. Webster hatte erklärt, dass Malin den Anruf abhören, die Nummer von Locks Telefon ermitteln und versuchen würde, es zu lokalisieren. Selbst wenn sie dieses Telefon anschließend zerlegten und auf den wachsenden Haufen ausgedienter Handys warfen, würde Malin vielleicht dennoch in der Lage sein herauszufinden, von welchem Handy der Anruf kam – und obwohl ihm dafür nicht viel Zeit blieb und die Chancen, so etwas an einem Sonntag schnell zu bewerkstelligen, nicht besonders groß waren, konnten sie nicht riskieren, dass ihr Aufenthaltsort entdeckt wurde. Doch Lock hatte darauf bestanden, und so hatte Webster eine einfache Lösung vorgeschlagen, die ihnen zumindest den halben Tag Vorsprung garantieren würde, den sie brauchten: Sie würden die Schaltzentrale einer befreundeten Londoner Firma anrufen, die dann wiederum die Telefonzentrale einer freundlichen Firma in New York anrufen würde, die den Anruf schließlich an Marinas Nummer weiterleiten würde. So konnte Malin auf den ersten Blick nichts weiter sehen – zumindest solange er nicht einen oder zwei Tage Arbeit investiert hatte – als zwei scheinbar völlig unzusammenhängende Telefonnummern, die keine Rückschlüsse auf Lock zuließen. Webster meinte, das sollte ausreichen, vorausgesetzt, dass Lock darauf achtete, nicht zu erwähnen, wo genau er war, was er vorhatte und mit wem er es vorhatte. Für Lock, der eigentlich nur seiner Frau sagen wollte, dass er sie liebte, erschien das alles übertrieben vorsichtig.

Er machte den Anruf. Eine Minute später hörte er Marinas Stimme in der Leitung, die irgendwie unerwartet nah klang.

»Hallo. Ich bin’s.«

»Richard. Gott sei Dank. Wo warst du?«

»Tut mir leid. Es war schwer anzurufen.«

Marina war still. »Du hättest mir Bescheid sagen sollen.«

»Tut mir leid. Wirklich.« Eine Pause trat ein. »Wie geht es dir?«

»Ich habe Angst. Wo bist du?«

»Tut mir leid, Liebling. Mir geht es gut. Ich wollte dir keine Angst machen.« Unwillkürlich durchfuhr ihn ein freudiger Schauer bei dem Gedanken, dass sie an ihn gedacht hatte. »Ich glaube, ich habe einen Ausweg gefunden.« Er wartete auf eine Antwort. »Ich kann nicht darüber sprechen, aber ich treffe mich mit Konstantin. Ich halte einen Deal für möglich.«

»Ich habe mit ihm gesprochen.«

»Er hat wieder angerufen?«

»Ich habe ihn angerufen.«

Lock verspürte einen kleinen Stich der Angst – nicht Angst vor Malin, aber Angst davor, dass ihre Pläne aus dem Ruder liefen. Er blieb stehen und schaute über den See. Sein Bodyguard stoppte einige Meter hinter ihm.

»Du hast ihn angerufen? Warum?«

»Um zu sehen, wie viel von ihm noch übrig ist.«

»Wie meinst du das?«

»Ich habe ihm gesagt, dass mein Vater genau beobachtet, was er tut. Dass er endgültig verloren wäre, wenn er dir wehtut.«

»Was hat er geantwortet?«

»Dass sein Gewissen rein ist. Dass du keinen Grund hättest, ihn zu fürchten.«

»Du glaubst ihm?«

»Er hat gesagt, ich würde eines Tages erfahren, dass er alles für dich getan hat, was er konnte.«

Lock schnaubte. »Alles trifft es ganz gut.«

»Ich hatte den Eindruck, er selbst glaubt es.«

Ein Dutzend sarkastische Bemerkungen fielen ihm ein. Berechtigt, wahrscheinlich. Sie hatte ihn aufgefordert umzukehren, jetzt schien sie ihm die Rückkehr zu Malin nahezulegen. Er sah die Einwände, aber er fühlte anders. Marina war einfach nur genauso verängstigt, wie er es gewesen war.

»Glaube ihm nicht«, sagte er, und eine Welle der Energie durchströmte ihn bei dem Gedanken, dass er diese ganze Angelegenheit nun abschließen konnte. Er würde Konstantin die Bedingungen diktieren; er würde sich selbst befreien; er würde dieser Angst ein Ende setzen, die sein Leben langsam ausgehöhlt hatte, und ihres ebenso.

»Ich wollte nur …«

»Tu es nicht. Er hat sein Pulver verschossen. Er will, dass du mich überzeugst.«

»Wirst du mit ihm reden?«

»Ich rede mit ihm. Morgen.«

»Nicht in Moskau?«

»Das kann ich dir nicht sagen.«

Die Leitung war still. Er konnte ihre Augen sehen, die gerunzelte Stirn, voller Traurigkeit.

»Vielleicht bin ich morgen wieder in London«, sagte er. »Oder übermorgen.«

Immer noch Schweigen.

»Marina?« Er wusste, dass sie weinte. »Schatz, es ist okay. Ich habe etwas, das er will.«

»Okay.«

»Die Dinge haben sich geändert. Jetzt schon.«

»Gut.«

Er hörte, wie der Rhythmus ihres Atems stockte. Der See war, abgesehen vom sanften Klingeln der Bootstakelage, still. Er hielt nach Enten Ausschau, konnte aber keine entdecken. »Wo ist Vika?«

»Nebenan. Wir sind gerade mit dem Essen fertig. Sie wird in einer Sekunde hier sein.«

»Gibst du ihr einen Kuss von mir?«

»Ja.«

Sie schwiegen wieder, und Lock wusste, dass Marina nicht nur aus Angst, sondern auch aus Hoffnung weinte. Sie war wieder stolz auf ihn, und ihr Weinen erfüllte ihn mit Leichtigkeit, fast mit Jubel. Es würde funktionieren. Nicht an allem klebte das Unglück.

»Ich muss aufhören«, sagte er.

»Das solltest du.«

»Es wird alles gut.« Er zögerte. »Ich liebe dich. Es tut mir leid, dass ich das jemals vergessen habe.«

»Ich weiß.«

»Ich rufe dich morgen an. Wenn es vorbei ist.«


Am Montagmorgen fühlte Lock sich ruhig. Alle Unruhe, alle Anspannung der letzten Wochen waren seltsamerweise von ihm abgefallen, und er wusste, sie würden nicht zurückkehren. Malin kam. Lock hatte ihn in der vorigen Nacht angerufen und ihn mit wenigen Worten, die er regelrecht genoss, instruiert, nach Berlin zu fliegen. Malin kam, und er kam nicht als sein Herr und Meister, sondern als Bittsteller. Und egal wie der heutige Tag ausgehen würde, Malin würde nie mehr sein Herr und Meister sein.

Lock erwachte früh, kurz nach sechs. Der Lichtstreifen unter der Tür zeigte ihm, dass Webster schon wach war. Er saß im Dunkeln und stellte sich den Tag vor. Malin würde irgendwann heute Morgen landen. In ein paar Stunden würden sie ihn anrufen und ihm sagen, er solle um Mittag zur Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße kommen. Die Berliner Staatsbibliothek. Webster hatte ihm erklärt, dass das Gebäude offen, aber beherrschbar war; belebt, aber nicht hektisch. Ein nüchternes, stilles Gebäude, in dem man das Treffen kontrollieren konnte.

Draußen war das Schwarz des Himmels einem tiefen Blau gewichen.


Sie fuhren in George Blacks Auto in die Stadt. Lock mochte Black. Er war kein großer Mann, aber die Art und Weise, wie er sich bewegte, strahlte eine Souveränität aus, die Lock Sicherheit vermittelte. Sie saßen zu viert im Auto: Black, Webster, Lock, und am Steuer ein kultivierter junger Mann namens James. George und James waren in gewisser Weise genau wie ihre russischen Pendants und andererseits überhaupt nicht wie sie. Zum Beispiel verhielten sie sich viel höflicher.

Black drehte sich in seinem Sitz um und erklärte, dass vier weitere Männer bereits in Berlin waren. Sie waren in und um die Bibliothek postiert und würden Locks Sicherheit gewährleisten. »Wobei es nicht sehr wahrscheinlich ist, dass er in aller Öffentlichkeit etwas versuchen wird«, sagte Black. In Berlin angekommen, würden zwei von Blacks Männern in der Bibliothek sein und zwei draußen. Lock sollte ein paar Hundert Meter entfernt mit James im Auto warten. Erst wenn Malin eintraf – und keine Minute früher – würde James Lock vorfahren, und er würde ins Gebäude begleitet werden. Während des Treffens selbst sollten drei Männer aus kurzer Distanz zuschauen und drei weitere in der Umgebung patrouillieren. Sobald das Meeting zu Ende war, würde Lock rasch und auf kürzestem Weg zu seinem Auto eskortiert und zu einem Treffpunkt unmittelbar nördlich von Berlin gefahren werden. Der zweite Wagen würde mit einigem Abstand hinter dem ersten herfahren und Gegenobservation betreiben, um sicherzugehen, dass niemand dem ersten Wagen folgte. Webster und das Team würden sich die ganze Zeit über im Hintergrund halten. Es sollte unbedingt so aussehen, als ob Lock allein wäre – auch wenn Malin sicher annehmen würde, dass er es nicht war.

Webster hatte auch für ihn Anweisungen. Sie besprachen das Handy.

»Sie haben Ihre zwei Handys. Wenn Sie sich hinsetzen, ziehen Sie sie aus der Tasche und entfernen aus beiden die Akkus. Bitten Sie Malin, das Gleiche zu tun. Versuchen Sie, ein wenig nervös zu wirken. Lassen Sie ihn denken, dass Sie derjenige sind, der befürchtet, belauscht zu werden.«

»Er wird keines der beiden wiedererkennen.«

»Das ist okay. Er weiß ja, dass Sie neue Telefone haben. Also, der Rekorder startet, sobald der Akku entnommen ist. Legen Sie es mit dem Display nach unten auf den Tisch. Es enthält einen weiteren Akku, der für etwa eine Stunde Aufnahmezeit Strom liefert, vielleicht auch ein wenig mehr. Es speichert direkt auf den Chip. Es gibt keine Geräusche und kein Signal. Sie müssen sich überhaupt keine Gedanken darum machen. Schauen Sie es nicht an. Vergessen Sie, dass es da ist.«

Lock nickte. Er legte eine Hand auf die Aktentasche, die neben ihm stand. Sie enthielt sämtliche Dokumente aus Gerstmans Datenordner, ausgedruckt auf Herrn Maurers Computer.

»Er wird wahrscheinlich Leute dabeihaben«, fuhr Webster fort. »Aber das ist okay. Unsere Leute sind überall. Wir halten uns bedeckt, außer, wenn etwas passiert. Aber Malin wird nicht wollen, dass Ihnen etwas passiert, solange er in der Nähe ist. Also ist alles, woran Sie denken müssen, mit ihm zu reden.«

»Wie soll ich anfangen?«

»Wie immer Sie wollen. Denken Sie nicht zu viel darüber nach. Lassen Sie es fließen. Er erwartet, dass Sie wütend sind. Also seien Sie wütend. Fordern Sie ihn heraus.«

Sie fuhren jetzt auf einer Schnellstraße, die durch drei Meter hohe Metallwände abgeschirmt war; Lock hatte das Gefühl, dass er in einer Röhre seinem Schicksal entgegengespült wurde.

Als sie von der Schnellstraße abbogen, verschwanden auch die Schallschutzwände. Sie waren am industriellen Rand der Stadt angekommen. Lock sah Schornsteine wie Türme, die weißen Rauch in den Himmel ausstießen, struppige Flecken nicht erschlossenen Geländes, Wassertürme wie glänzend schwarz geteerte umgedrehte Raketen. Hier gab es keine Fußabdrücke im Schnee, kein Mensch lief hier herum. Dann ein McDonald’s, ein Möbel-Lagerhaus und dahinter die Vorstädte; eng gedrängte Wohnklötze in Beton und Waschbeton, die immer einen ganzen Block einnahmen, kamen dem Auto nah, auf den Bürgersteigen lag schmutziger alter Schnee. Nach einer Weile wurden die Straßen weiter, die Häuser entspannten sich, und in den Geschäften, Parks und an den Bushaltestellen wurden Menschen sichtbar. Lock hatte all das noch nie zuvor gesehen. Es war neu für ihn, einfach Dinge zu sehen. Eine Reihe Pappeln, geformt wie Pfauenfedern. Eine rote Ledertasche vor dem hellbraunen Schal einer Frau.

»Alles okay?«, unterbrach Webster seine Tagträume.

Lock wandte sich zu ihm. »Mir geht’s gut.«

»Nicht nervös?«

»Kein bisschen.«

Das Auto bog in den Tiergarten ein, und Lock schaute zu, wie die Birken an ihm vorbeizogen. Am Rand des Parks kamen sie auf einen großen offenen Platz, ein Durcheinander aus Straße, Straßenlampen, Ampeln und matschigen Schneisen, die sich durch den Schnee zogen. Die Schneisen führten von einem riesigen modernistischen Gebäude zum nächsten. Wie Rivalen standen sie da, jedes von ihnen in seiner eigenen Welt. Lock schaute nach links und sah fischflossenartige Platten in Orange auf einem Gewirr aus Kuben und Kurven; zu seiner Rechten eine glatte Betonstruktur in Grau; vor ihm ein niedriger massiver Kasten aus schwarzem Stahl und Glas. Über ihnen stand wachsam eine Kirche mit grünem Kupferdach, deren hässlicher eckiger Turm aus Ringen von gelben und roten Ziegelsteinen gemauert war. Über allem hing ein endloser grauer Himmel.

»Hier ist die Potsdamer Straße«, sagte Black.

»Sieht aus wie ein Architekturwettbewerb«, sagte Lock.

»Da ist die Bibliothek«, sagte Black und zeigte an James vorbei auf ein Gebäude am Rand des Platzes. Es war gedrungen, gezackt, aus unregelmäßigen grauen und gelben Betonblöcken und schwarzgerahmten schrägen Glasflächen zusammengesetzt. An einer Wand verdeckten waschbrettähnliche Blenden die Fenster. Das Gebäude stand ein Stück von der Straße zurückgesetzt. Neben den anderen wirkte es zurückhaltend, gebildet, akademisch.

»War das Ost oder West?«, fragte Lock.

»Beides«, antwortete Webster.

Sie fuhren an der Bibliothek vorbei und überquerten eine Brücke über den Kanal. Nach fünfzig Metern fuhr James an den Straßenrand, und Black und Webster stiegen aus.

»Ich rufe Sie an, wenn er auftaucht«, sagte Webster und schenkte Lock ein ruhiges, ermutigendes Lächeln, während er die Tür schloss.

James fuhr wieder an und bog bei der nächsten Gelegenheit nach links in eine ruhigere Straße ein. Auf halber Höhe wendete er das Auto und parkte.

»Das war’s«, sagte er.

»Das war’s«, sagte Lock.


Es war James’ Handy, das klingelte. Er nahm das Gespräch an, ohne ein Wort zu sagen, legte einen Gang ein und fuhr los. Lock schaute auf seine Handflächen; sie waren trocken.

James parkte gerade außer Sichtweite der Bibliothek. Ein Mann, den Lock nicht kannte, kam an seine Autotür und öffnete sie.

»Guten Tag, Sir. Sie müssen in den Cafeteria-Bereich. Gehen Sie hinein und dann rechts, dann sehen Sie es schon. Die Zielperson sitzt an einem Tisch mit Blickrichtung zur Tür. Sein Bodyguard steht ein kleines Stück dahinter.«

»Danke.«

»Viel Glück, Sir.«

Lock tastete in den Taschen nach den beiden Handys. Da waren sie. Er machte sich auf den Weg.

Sein Brustkorb fühlte sich leicht an, die Aktentasche wog schwer in seiner Hand. Er strich sich beim Gehen mit der freien Hand das Haar glatt. Bitte, lass es funktionieren, dachte Lock, lass es ihn sagen, lass ihn die Worte sagen. Er wollte der Welt erzählen, dass er ihn zu Fall gebracht hatte, er wollte, dass es jeder wusste. Die Journalisten sollten es wissen. Und Kesler. Und Tschechanow. Er wollte, dass es der schleimige Andrew Beresford erfuhr und all seine hochnäsigen englischen Freunde.

Sein Vater sollte es wissen. Und Marina. Er wollte so sehr, dass es Marina wusste. Und Vika. Eines Tages auch Vika.

Und Malin. Der jetzt da drinnen saß, mit seinem leeren Blick und seinem unergründlichen Willen. Lock wollte, dass Malin wusste, dass er es war.


Die Bibliothek war erfüllt von geschäftigem Treiben und gedämpften Geräuschen. Eine alte Dame mit einer Art Schneeketten an den Füßen klapperte über den Steinfußboden. Lock ging in Richtung Cafeteria. Da war er. Er saß allein an einem gelben Tisch vor einem der Glasfenster, die sich an dieser Seite des Gebäudes entlangzogen, seine Masse wirkte absurd auf einem der spindeldürren Metallstühle. Auf dem Tisch vor sich hatte er eine Tasse Tee und einen Umschlag. Mit dem Rücken gegen eine Säule in einigen Metern Entfernung gelehnt stand Iwan, der Bodyguard. Lock hatte immer irgendwie gewusst, dass der etwas Besonderes war. Iwan beobachtete ihn, als er sich dem Tisch näherte.

Lock spürte sein Herz bis zum Hals schlagen. Vier Tische weiter sah er Webster, der konzentriert eine deutsche Zeitung las. Die Cafeteria war ruhig, aber einige der Tische entlang der Fensterwand waren besetzt: ein bärtiger Mann mit einem Laptop; zwei Mädchen, die Sandwiches aßen; ein junger Mann mit Mütze und dicker schwarzer Brille, der sich über Papiere beugte, die er vor sich ausgebreitet hatte.

»Sie sind gekommen«, sagte Lock auf Russisch.

Malin drehte seinen Kopf einige Zentimeter in Richtung Iwan und nickte. Iwan trat heran und forderte ihn auf, seine Arme und Beine auszubreiten. Verunsichert tat Lock wie geheißen. Er schaute sich um, ungläubig, dass dies so offen an einem solchen Ort geschehen konnte. Iwan führte seine Hände schnell an Locks Seiten, Beinen und unteren Rücken entlang, dann klopfte er ihm auf Bauch und Brust. Er griff in Locks Jackett und zog die beiden Handys heraus, inspizierte sie kurz und gab sie Lock zurück. Dann öffnete er die Aktentasche und schaute hinein. Er nickte Malin zu und trat wieder zurück. Lock zog seinen Mantel aus und setzte sich. Die Aktentasche stellte er neben seinen Stuhl auf den Boden.

»Telefone, bitte«, sagte Malin.

Lock schaute ihn an, hielt seinen Blick eine Sekunde lang fest.

»Okay. Ihres aber auch.«

Er griff in seine Taschen und holte die beiden Handys heraus. Er schob von beiden die hintere Abdeckung ab, entnahm die Akkus und ließ die Teile auf dem Tisch liegen. Malin tat das Gleiche mit einem einzigen Handy.

Die beiden Männer schauten einander an. Malins Augen bohrten sich in Locks. Lock versuchte, sie zu verstehen, etwas dort zu erkennen, das er zuvor nicht bemerkt hatte. Aber sie waren wie immer: matt, tot, nichts spiegelte sich darin. In seinem schwarzen Mantel und dem grauen Anzug, dem weißen Hemd und der roten Krawatte sah er genauso aus wie immer.

»Sie sehen schlecht aus«, sagte Malin.

Lock erwiderte den Blick. »Danke für Ihre Fürsorge. Mir geht es gut.«

»In Moskau haben Sie besser ausgesehen.«

»Hier fühle ich mich besser.«

Malin zuckte kaum wahrnehmbar mit den Schultern, als wolle er sagen, dass er diesen Punkt nicht diskutieren würde.

»Haben Sie den Transfer vorgenommen?«, fragte Lock.

Malin schob den Umschlag mit der Hand zwei Zentimeter in seine Richtung. Lock griff danach und öffnete ihn.

»Es ist auf einem Treuhandkonto«, sagte Malin. »Jemand, den wir beide kennen. Er wird es freigeben, wenn er von Ihnen hört.«

Lock schaute das einzelne Blatt Papier an. Es war die Bestätigung eines Geldtransfers auf ein Konto in Singapur. Er legte es zurück auf den Tisch, griff unter seinen Stuhl und öffnete den Aktenkoffer. Er holte einen Stapel A4-Blätter heraus und legte ihn vor Malin, der ihn in die Hand nahm und anfing, sich hindurchzuarbeiten, wobei er jedes Blatt einzeln auf den Tisch legte, um es zu inspizieren. Lock schaute zu, wie er mit der Regelmäßigkeit eines Kartengebers die Seiten vor sich hinlegte und dabei gelegentlich seinen Daumen ableckte.

Als er das letzte Blatt des Bündels abgelegt hatte, atmete er tief ein und ließ die Luft geräuschvoll durch die Nase entweichen.

»Das ist es?«

Lock antwortete nicht.

»Das ist alles?«

»Ja.«

»Sie verarschen mich.«

»Das ist alles. Heruntergeladen von Dmitris geheimem E-Mail-Account. Ich kann Ihnen die Details geben.«

Malin schüttelte den Kopf. »Glauben Sie, dass das zehn Millionen wert ist?«

»Ja.«

»Zehn Millionen – für Rechnungen?«

»Es ist das, was Sie wollten.«

Malin lachte einmal kurz auf, seine massige Gestalt bewegte sich auf und ab. »Nein, nein, nein. Das ist nicht, was ich wollte. Das ist nicht, was ich brauchte.«

»Was macht das?«, fragte Lock. »Sie haben, was Sie gesucht haben. Es ist vorbei. Es sagt also nicht besonders viel aus. Das ist komisch, oder?«

Malin hob die Augenbrauen, sagte aber nichts.

»Das würde bedeuten, dass Sie Dmitri für Nichts umgebracht haben. Das ist nicht so komisch. Aber warum sollte Sie das bekümmern?«

Malin rieb sein Kinn, massierte die fleischigen Falten zwischen seinen Fingern. Er schüttelte den Kopf.

»Damit kann ich nicht nach Moskau zurückgehen.«

Lock runzelte die Stirn. »Was meinen Sie damit?«

»Die werden denken, dass ich den Verstand verloren habe.«

»Wer wird das denken? Wer sind die?« Lock spürte einen Schmerz in seiner Kehle.

Malin lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und balancierte sein Gewicht aus. Er ließ sich Zeit. »Richard, was glauben Sie, wer ich bin?«

Lock schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«

»Ich habe versucht, Sie zu beschützen, Richard. Die ganze Zeit. Weil ich Ihre Lage verstehe. Besser, als Sie glauben. Aber Sie haben mir Probleme bereitet. Sie und Dmitri. Es wäre besser gewesen, Sie wären geblieben.«

Lock beugte sich zu Malin hinüber, seine Stimme war leise und drängend: »Mich beschützen? Etwa, indem Sie dafür sorgen, dass Ihre Schlägertypen mich mit weiß Gott was abfüllen und von einem Hoteldach werfen? Haben Sie so auch Dmitri beschützt?«

Malin beugte sich ebenfalls vor, seine Hände waren auf der Tischplatte gefaltet. Er senkte die Stimme. »Nichts davon war ich.«

Lock versuchte zu schlucken, aber sein Mund war trocken. Er sehnte sich nach Wasser. Er konnte die kleinen Leberflecken auf Malins Wange sehen.

»Sie oder Ihre Leute«, sagte er. »Das ist mir egal.«

Malin schüttelte sanft den Kopf. »Richard, ich habe es Ihnen schon gesagt, als wir das letzte Mal miteinander sprachen. Ich konnte Sie nicht ewig beschützen. Wären Sie nach Moskau zurückgekommen, dann wären Sie kein Risiko mehr gewesen.«

»Ich bin kein Risiko für Sie. Ich will kein Risiko für Sie sein. Ich will überhaupt nichts mit Ihnen zu tun haben. Darum dreht es sich bei der ganzen Sache.« Locks Stimme wurde jetzt lauter. »Wir können auseinandergehen. Für immer. Trennung. Scheidung. Ich werde verschwinden. Ich werde Ihnen keinen Ärger machen. Sie wissen das.«

»Richard, das ist nicht meine Entscheidung.«

Locks Kopf wurde von einem lauten Rauschen erfüllt. Er konnte nicht mehr denken.

»Was?«

»Sie und ich, wir sind gleich, Richard. Wir sind Strohmänner für andere.« Er machte eine Pause. »Es waren nicht meine Männer, die versucht haben, Sie zu töten. Es waren Männer der Regierung.«

Lock wandte die Augen von Malin ab und schaute aus dem Fenster. Er sah Fahrräder, die ordentlich in ihren Ständern aufgereiht waren. Immergrüne Bäume, mit Schnee beladen wie Weihnachtsbäume.

»Ich bin hergeflogen, um zwei Dinge zu holen, Richard. Das hier«, er legte die Hand auf den Stapel Papier, »und Sie. Wäre das hier wertvoll gewesen, hätte ich zurückgehen und sagen können, dass Sie immer noch loyal sind. Vielleicht hätten Sie hierbleiben können. Vielleicht. Doch nun müssen Sie mit mir kommen. Damit kann ich nicht allein zurückgehen.«

»Ich gehe nicht zurück.«

»Richard, verstehen Sie das.« Malin beugte sich weiter vor. Jetzt flüsterte er beinahe. »Sie haben einigen sehr wichtigen Leuten schlaflose Nächte bereitet. Kreml-Leuten. Diese Leute sehen Russlands Interessen gefährdet. Sie sehen ihre eigenen Interessen offengelegt. Sie haben mir klar zu verstehen gegeben, dass ich diesen Schlamassel in Ordnung bringen muss. Wenn Sie mit mir nach Russland kommen, sind Sie sicher. Außerhalb von Russland wird man Sie nicht existieren lassen.«

»Ich kann nicht zurückgehen.«

Malin sagte eine Zeit lang nichts, die Augen unverwandt auf Lock gerichtet. »Richard, Sie wissen, was mit Leuten wie uns geschieht, wenn wir nicht mehr nützlich sind. Ich stehe kurz davor, nicht mehr nützlich zu sein. Ihre einzige Hoffnung ist es, mich zu begleiten und Gras über diese Episode wachsen zu lassen. In zwei Jahren werden wir beide wieder da sein, wo wir vorher waren.«

Lock schüttelte den Kopf. Sein Kinn war trotzig nach vorn geschoben, in seinem Kopf mischten sich Rauschen und Wut.

»Und Dmitri? Wo wird er sein?«

»Für Dmitri war es zu spät.«

»Dann ist es auch zu spät für mich.«

Malin lehnte sich zurück. »Es tut mir leid, Richard. Ich kann diese Entscheidung nicht Ihnen überlassen.« Er drehte sich zu Iwan um, wieder nur wenige Zentimeter, und nickte.

Lock sah, wie Iwan auf ihn zukam und mit einer Hand in seine Manteltasche griff. Lock schob seinen Stuhl zurück und wollte aufstehen. Er rief: »Hilfe! Stopp!« und hob die Hände, um Iwan abzuwehren. Webster und andere englische Stimmen schrien durcheinander. Er sah, dass Iwans Hand aus der Tasche glitt und dass sie eine Injektionsspritze hielt; er spürte, wie Iwans starke Hand seinen Arm packte. Dann lockerte sich der Griff, und Lock, aus dem Gleichgewicht gebracht, stolperte und fiel rückwärts gegen das Fenster. Als er aufblickte, sah er, dass zwei von Blacks Männern Iwan ergriffen hatten. Die Spritze lag auf dem Boden. Malin saß immer noch am Tisch, sein Gesichtsausdruck hatte sich nicht verändert; Webster war bei ihm.

Malin stand auf. Er schaute Webster an. »Wir gehen«, sagte er auf Englisch. Er sortierte die Papiere zu einem Stapel, nahm ihn an sich und ging an Iwan und Blacks Männern vorbei. Iwan schüttelte die Hände ab, die ihn hielten, und folgte ihm.

Einer von Blacks Männern bückte sich und hob die Spritze auf. Es war eine klare Flüssigkeit darin; sie war noch voll. Er übergab sie Webster, der gerade die Telefone und den Umschlag vom Tisch einsammelte.

»Kommen Sie«, sagte Webster zu Lock. »Gehen wir.«

Lock richtete sich auf. Von den umliegenden Tischen starrten Gesichter zu ihm herüber. Inzwischen waren auch zwei Wachleute der Bibliothek gekommen, und einer von Blacks Männern beruhigte sie: »Wir gehen.« Webster führte Lock zwischen den Tischen hindurch, hinaus in die Eingangshalle und in Richtung Tür.

»Sind Sie okay, Richard?«

»Mir geht es gut.«

»Was haben Sie erreicht?«

»Ich glaube, wir sind beide erledigt.«

Als sie den Eingang erreichten, stieß Black zu ihnen.

»Ich gehe vor.«

Lock folgte Black durch die Drehtür, Webster ging direkt hinter ihm.

Als er hinaus in die Luft kam, blinzelte er. Der Himmel war noch immer von schweren Wolken bedeckt, aber der Schnee war hell. Er konnte Malin und Iwan sehen, die den Pfad zur Potsdamer Straße entlanggingen. Malin ging langsam, mit schweren, rollenden Schritten. Fünf Meter vor sich sah er Black, der wachsam von einer Seite zur anderen blickte. Lock wartete einen Moment, drehte sich um und sah Webster aus der Tür kommen. Von weither hörte er einen dumpfen Knall, wie ein Stein, der auf trockenes Holz fällt. Seine Schulter wurde zurückgerissen, seine Arme ruderten in der Luft. Er fiel nach hinten, und sein Kopf schlug auf dem eisigen Boden auf. Websters Stimme drang zu ihm.

»Richard. Scheiße. Richard! George!«

Er sah nach oben. Mattgrauer Himmel. Websters Haare. Es war heiß in seiner Brust, und kalt.

»Richard. Sie sind okay. Richard. Können Sie mich hören?«

Er spürte, wie seine Lippen sich bewegten, als er zu sprechen versuchte. Sie waren trocken, sein Mund war trocken. »Ich will, dass Vika es weiß.« Jedes Wort einzeln, für sich allein.

Websters Stimme. »Was weiß, Richard? Dass sie was weiß?«

»Dass ich es war.« Er schloss die Augen.