14

Webster ließ sein Taxi in der Straße hinter Locks Hotel halten und lief die letzten paar Hundert Meter. Aus Gewohnheit verließ er nie ein Taxi direkt vor seinem Zielort. Aus der Luft hatte Deutschland sauber und ordentlich ausgesehen, schwarze Linien von Bäumen erstreckten sich über fleckenlose weiße Felder, die Stadt war ein Puzzle aus roten Dächern und geraden Straßen, aber unten angekommen war nichts makellos. Mit einem Bein noch im Auto machte Webster einen vorsichtigen Schritt über die gefrorene Pfütze im Rinnstein und bemühte sich, nicht auf dem eisigen Schnee auszurutschen, der von der anderen Seite des Bürgersteigs hierhergeschoben worden war. Er spürte, wie der Ostwind durch seine flatternde Hose wehte, und er wusste, dass sein dünner Londoner Mantel keinen Schutz gegen diese Kälte bieten würde.

Er fragte sich, welcher Lock auf ihn wartete: der überzeugende Anwalt oder der verängstigte Flüchtling. Am Telefon hatte er verzweifelt geklungen. Nicht zum ersten Mal fragte sich Webster, ob er Lock zu sehr antrieb, und erneut lautete seine Antwort, dass es außer ihm keinen Ausweg gab, alle anderen Optionen noch schlechter waren und es nicht mehr lange dauern werde. Und er glaubte auch Locks Antwort darauf zu hören: Hoffentlich haben Sie recht.

Es fühlte sich seltsam an, persönliche Entscheidungen über das Leben eines Mannes zu treffen, den er kaum kannte. Er hatte gleichzeitig ein starkes Gespür und überhaupt kein Gespür für ihn: Seine Vorstellung von Lock setzte sich aus Zeitungsartikeln, Unternehmensaufzeichnungen, Gerichtsakten und willkürlich begründeten Annahmen zusammen. Der Lock, den er im Enzo’s getroffen hatte, hatte ihn überrascht. Er hatte erwartet, dass er die Arroganz eines Menschen haben würde, der zu Macht gekommen war, ohne sie sich erarbeitet zu haben; dass er eine dickere Schale haben würde und eine Art Selbstzufriedenheit, die ihm ganz offensichtlich fehlte. Als er ihm im Mantel am Tisch gegenübersaß, schien Lock bereits gefallen zu sein, weniger ein wichtigtuerischer Mittelsmann als vielmehr ein Sünder auf der Suche nach Absolution, der nur zu gut zu wissen schien, was er getan hatte und wie viel auf dem Spiel stand.

Und war er letztendlich nicht auch ein Opfer der gleichen Unordnung, die Inessa getötet hatte, desselben verzweifelten Versuchs, die Wahrheit zu verschleiern? Webster wusste nicht, ob ihn das beruhigen oder nervös machen sollte: Seine eigene Rolle wurde dadurch unwichtiger, aber seine Verantwortung Lock gegenüber um ein Vielfaches größer. Die Verantwortung, was zu tun, fragte er sich. Einen Ausweg für ihn zu finden, ihm eine zweite Chance zu geben. Ihn am Leben zu halten.

Zum ersten Mal seit der Türkei hatte Webster das Bedürfnis nach einer Zigarette.

Im Hotel Daniel erklärte er, er sei ein Freund von Mr. Green. Zimmer 205, zweiter Stock. Er ging die Treppe hinauf und fand das Zimmer am Ende eines dunklen Korridors, eine einzelne Lampe sonderte trübes Licht ab. Er klopfte leise an die Tür und hörte drinnen eine Bewegung. Der Türspion wurde dunkel, und Lock öffnete die Tür, zuerst nur so weit, dass er den Korridor entlangblicken und sehen konnte, dass Webster allein war.

»Kommen Sie rein.«

Webster ging an ihm vorbei. Lock schloss die Tür, und einen Moment lang sahen sich die beiden Männer an, keiner von ihnen fand in dieser ungewöhnlichen Situation die richtigen Worte. Lock sah gequält aus. Sein Haar war fettig und ungekämmt, und er hatte eine kleine purpurrote wunde Stelle an seinem Mundwinkel. Er hatte sich seit London nicht mehr rasiert. Webster überflog das Zimmer: Das Bett war ungemacht, der Aschenbecher halbvoll, und die Luft roch nach Rauch und Schlaf und Whisky.

»Nehmen Sie den Stuhl«, sagte Lock. »Ich fürchte, zwei würden das Budget sprengen.«

»Wie geht es Ihnen? Warum gehen wir nicht etwas essen? Ich habe Hunger.«

Lock ging zum Fenster und schaute hinaus, wobei er einen halben Meter vor der Scheibe stehen blieb und sich zurücklehnte. Er drehte sich zu Webster um. »Ich würde gerne hier reden, wenn es geht. Es war … ich fühle mich nicht besonders sicher.«

»Warum nicht?«

Lock erzählte ihm von den vier Haaren und dem Mann mit der Mütze. Webster behielt seinen Gesichtsausdruck bei, spürte aber einen Stich der Unruhe: Entweder fing Lock an, sich Dinge einzubilden, oder es gab tatsächlich Grund zur Besorgnis. Die Schwierigkeit für ihn lag darin, dass er beide Möglichkeiten naheliegend fand.

»Vielleicht war es das Zimmermädchen.«

»Das Zimmer war nicht gemacht. Ich hatte das Nichtstören-Schild draußen.«

»Dann sollten wir uns nicht hier unterhalten. Falls Sie recht haben.«

Lock brauchte einen Moment, um ihn zu verstehen. »Scheiße. Ja. Natürlich. Mein Gott, ich hasse diese Sache. Ich weiß nicht, wie Sie diesen ganzen Mist ertragen.«

Webster lächelte, aber es war klar, dass Lock nicht scherzte.


In einem elsässischen Restaurant in Berlin Mitte saßen sie auf Holzstühlen an einem einfachen Holztisch und bestellten Essen. Lock trank Bier, Webster Wasser. Sie hatten einen Tisch im hinteren Bereich des langen, schmalen Raums gewählt, Webster mit Blick zur Tür, damit er Lock beruhigen konnte, dass keine finsteren Gestalten den Raum betraten. Auf dem Weg hatte Webster auf mögliche Verfolger geachtet und niemanden entdeckt.

Lock war unruhig, er aß nichts. Webster befragte ihn darüber, was er seit London gemacht hatte: War er dem Plan gefolgt? War er von Rotterdam aus direkt hierhergefahren? Wo hatte er zwischendurch angehalten? Was hatte er unternommen, seit er hier war? Als Lock an den Punkt kam, wo er Nina kontaktiert hatte, glaubte Webster zu verstehen. Entweder wurde ihre Wohnung überwacht und man war ihm gefolgt, als er den Brief eingeworfen hatte, oder jemand hörte ihr Telefon ab. Zog man das Timing in Betracht, war es wahrscheinlich Letzteres, aber es war egal. Möglicherweise überwachten sie auch Marinas Anschluss. Er sagte Lock nicht, was er dachte.

»Und seit Nina?«

»Seit dem Anruf? Ich habe mir diese Schuhe gekauft. Nicht weit von hier. Dann bin ich ausgegangen und habe zu Abend gegessen – und unterwegs zum Hotel fiel mir der Mann mit der schwarzen Mütze auf. Ich habe getan, was Sie gesagt haben, aber er ist mir nicht gefolgt, jedenfalls nicht so, dass ich es sehen konnte. Dann bin ich zurück ins Hotel gegangen.«

»Und dort blieben Sie bis wann?«

»Bis heute Morgen. Ich bin etwa um sieben rausgegangen, um zu frühstücken. Ich hatte schlecht geschlafen. Und als ich wiederkam, gegen elf, waren die Haare nicht mehr da. Dann habe ich Malin angerufen.«

»Sie haben Malin angerufen?« Webster hatte Mühe, die Fassungslosigkeit aus seiner Stimme zu halten.

»Ja.«

»Warum in aller … warum? Ich verstehe das nicht.« Also wusste Malin jetzt, dass Lock in Berlin war. Aber das erklärte nicht, dass er verfolgt wurde, wenn das wirklich stimmte.

»Ich habe nicht darüber nachgedacht. Ich wollte ihm einfach sagen, er soll mich in Ruhe lassen.«

»Und haben Sie es gesagt?«

»Ja.«

»Wie hat er reagiert?«

»Er hat versucht, mich davon zu überzeugen, dass ich in Moskau sicher wäre. Dass … dass in einem Jahr das alles hier vergessen sein würde.«

»Was halten Sie davon?«

»Ich will Moskau nicht mehr sehen. Und ich glaube ihm nicht. Ich habe das Gefühl, dass ich die Grenze überschritten habe.« Lock sah entrückt aus, fast neugierig, als stellte er sich die Grenze irgendwo hinter sich bildlich vor und fragte sich, warum er sie bisher nicht gesehen hatte.

»Womit haben Sie ihn angerufen?«

»Damit.« Lock deutete auf sein zerlegtes Telefon auf dem Tisch.

»Nun, das können wir wegwerfen. Und wenn er Ihnen bisher nicht gefolgt ist, wird er das jetzt tun.« Webster saß einen Moment da und brütete. »Erzählen Sie mir von Nina.«

»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Sie hat mir gesagt, dass ich abhauen soll. Freundlich, aber deutlich.«

»Wie gut kennen Sie sie?«

»Ich habe dreimal mit ihr gegessen. Ich glaube, es waren drei Male. Wir kamen miteinander aus, allerdings würde ich nicht sagen, dass wir einander verbunden sind.«

»Alles, bevor Gerstman Malin verließ?«

»Ja.«

»Also sieht sie Sie als Malins Mann?«

»Das tut sie. Ganz sicher.«

Webster nahm einen Schluck Wasser und versuchte zu entscheiden, wie er Nina dazu bekommen sollte, ihm die Tür zu öffnen. Sicher wusste sie, dass er und sie das Gleiche wollten: Malin bloßstellen. Die Frage war, ob sie mitmachen würde.

»In Ordnung. Ich werde versuchen, mit ihr zu reden. Wenn sie glaubt, dass man hinter Ihnen her ist, wird sie vielleicht nachgeben. Gehen wir.«

»Wir können mein Auto nehmen.«

»Falls Sie recht haben, dann haben sie es wahrscheinlich gesehen. Wir nehmen ein Taxi.«


Webster ließ den Fahrer langsam an Ninas Wohnung vorbeifahren, Lock lag auf dem Rücksitz. Er konnte niemanden sehen. Es war nicht leicht, hier jemanden zu überwachen. Die Straße war eine Einbahnstraße, und das Haus, in dem sie wohnte, befand sich ziemlich in der Mitte, was bedeutete, dass man sich nicht nur auf ein Auto beschränken konnte. Und es war nicht die Art von Gegend, wo alle Nachbarn sich nur um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern würden. Er behielt die Autos im Auge, die zu beiden Seiten der Straße standen. Sie waren alle leer. Es konnte immer noch sein, dass Lock sich die Sache eingebildet hatte; er war nicht mehr der zuverlässigste Zeuge.

Der Taxifahrer fand sie schlicht verrückt. Er ließ sie zwei Blocks weiter in einer Parallelstraße aussteigen. Webster bezahlte und schaute Lock an, der neben dem Taxi stand. In seinen Augen mischten sich Angst und Erwartung. Er sah verwahrlost aus, wie ein Getriebener. Webster fragte sich, ob er das mit ihm gemacht hatte. Zumindest hatte er es beschleunigt. Wenn sie mit Nina gesprochen hatten, konnte Lock anfangen, sich zu erholen.

»Wir müssen Sie ein wenig präsentabel herrichten. Können Sie etwas mit Ihrem Haar machen? Glätten Sie es ein bisschen. Vielleicht den Mantel ganz zuknöpfen. Okay. So ist es besser. Kommen Sie, gehen wir.«

Der eisige Pfad, den man in den Schnee getrampelt hatte, war nicht breit genug für sie beide. Lock ging voran, Webster hinter ihm behielt sorgfältig die Autos und Häuser im Auge.

Vor ihnen, zehn Meter vor der Ecke von Ninas Straße, hockte ein Mann auf dem Bürgersteig neben einem Auto. Mit einer behandschuhten Hand zog er die Plastikkappen von den Radmuttern, in der anderen Hand hielt er einen L-förmigen Radmutternschlüssel. Als sie näher kamen, stand er auf, trat einen Schritt zurück, und betrachtete sein Werk. Er war groß und trug einen grauen Mantel. Webster legte seine Hand auf Locks Schulter, damit er langsamer ging. Er hörte Schritte hinter sich, ein kaum wahrnehmbares Knirschen auf dem Eis, doch bevor er sich umdrehen konnte, fühlte er, wie seine Knie unter ihm nachgaben. Während er einknickte, hörte er ein dumpfes Krachen in seinem Kopf. Schmerz schoss hinter seine Augen. Er fiel nach vorn auf die Knie, Eis und Splitt stachen in seine Hände. Ein weiteres Krachen und dann Dunkelheit.


Zuerst hörte er Stimmen. Als er die Augen öffnete, sah er grauen Schnee, dahinter das Rad eines Autos. Ein Streifen aus hellem Schmerz verlief von seinem Nasenrücken bis zum Hinterkopf. Er spürte Kälte an seiner Wange und in seiner Kleidung. Er schloss die Augen wieder.

Jemand sprach Deutsch. Einige der Worte kannte er. Er hob den Kopf erneut, und der Schmerz schien zu einem Punkt zusammenzufließen, wie Wasser. Eine Hand berührte seine Schulter, er drehte sich auf die Seite und schaute nach oben, blinzelte in das Licht.

»Sind Sie verletzt?«

»Was ist passiert?«

Ein Arm schob sich unter ihn und half ihm in eine sitzende Position. Seine Hose war an der Hüfte nass, und er schmeckte Eisen. Er griff nach oben und betastete seine Stirn und seine Schläfe. Über seinem Ohr fühlte sich das Haar warm und verklebt an. Er nahm die Hand weg und schaute stirnrunzelnd auf das Blut.

Lock. Verdammt. Lock.

Er versuchte aufzustehen, aber seine Füße fanden auf dem Eis keinen Halt.

Er musste ihn finden.

»Bewegen Sie sich nicht. Wir haben einen Krankenwagen gerufen.«

Es waren drei Menschen. Ein Mann hockte neben ihm, und zwei Frauen standen dicht daneben, ihre Gesichter waren besorgt. Er legte seinen Arm um die Schultern des Mannes und stemmte sich mit den Beinen hoch. Der Mann richtete sich zusammen mit ihm auf.

»Wirklich. Er kommt gleich

Webster sah an sich herab. Sein Körper fühlte sich fremd an. Sein Kopf schwamm, und er kämpfte gegen Brechreiz. Er musste sich bewegen. Einen Moment lang lehnte er sich haltsuchend an den Mann, dann machte er sich wieder auf den Weg zu Ninas Wohnung; behutsam bewegte er jedes Bein, tastete mit der ausgestreckten Hand nach der Hauswand.

Hinter ihm ertönten Proteste.

»Danke«, sagte er und drehte sich um. »Hat jemand was gesehen?« Die drei wirkten ratlos und schüttelten die Köpfe. »Danke schön«, sagte er. »Danke.« Er ging weiter und hob eine Hand, als wollte er sagen, danke, bitte bleiben Sie zurück.

In Ninas Straße war alles ruhig. Keine Polizeiautos. Keine Russen. Kein Lock. Während er in Richtung ihrer Wohnung schlurfte, erfüllte ein Gedanke seinen Kopf, lauter als die Übelkeit, schärfer als der Schmerz: Bitte nicht noch einmal.


Vor ihrem Haus schaute er hinter sich; an der Straßenecke standen seine drei Helfer und beobachteten ihn. Er ging durch das Tor, lehnte sich gegen die Wand und drückte auf die Klingel ihrer Wohnung. Sein Spiegelbild in der Glastür starrte ihn verschwommen an. Sein Mantel war schmutzig und seine Krawatte heruntergezogen, aber ansonsten schien seine Kleidung wenig Schaden genommen zu haben. Als er jedoch sein Gesicht in der silbernen Platte der Gegensprechanlage betrachtete, sah er, dass eine Seite rot von Blut war – über die Stirn geschmiert, dick und karmesinrot über seinem Ohr und den Hals hinunter.

Er drückte die Klingel erneut und betete darum, sie möge zu Hause sein. Um Locks willen.

»Hallo.«

»Frau Gerstman, hier ist Ben Webster.« Die Worte waren unförmig und zäh in seinem Mund.

Nina sagte nichts. Er drehte sich vom Mikrofon weg und spuckte Blut und Schmutz. Er wartete, dass sie etwas sagte, aber sie war nicht mehr da. Er klingelte noch einmal.

»Ich möchte Sie nicht sehen, Mr. Webster. Außer, wenn Sie Neuigkeiten für mich haben.«

Er schloss die Augen vor Schmerz und Frustration. »Ich muss mit Ihnen sprechen.« Seine Stimme war jetzt ernst, drängend. »Ich war bei Richard Lock. Er ist entführt worden.«

»Bitte, Mr. Webster, gehen Sie. Ich habe genug.«

»Hier, in Ihrer Straße. Ich wurde niedergeschlagen. Die gleichen Männer, die in Ihr Haus eingebrochen sind.« Nina schwieg.

»Die gleichen Männer, die Sie anrufen.«

Die Tür summte, gerade lange genug, dass er sein Gewicht von der Wand lösen und gegen die Tür schieben konnte.

Nina erwartete ihn wieder im Treppenhaus, sie schaute ihn mit verschränkten Armen an, als er die Aufzugtür öffnete. Sie war noch immer schwarz gekleidet.

»Lieber Gott.«

»Es ist okay. Halb so schlimm.«

Sie warf ihm einen langen, festen Blick zu, und dann, ohne ein weiteres Wort, drehte sie sich um und ging in ihre Wohnung. Webster wischte seine Füße auf der Fußmatte ab und folgte ihr den Korridor entlang, die feuchten Sohlen seiner Schuhe immer noch laut auf dem Holzfußboden.

Vor dem Wohnzimmer ging sie nach links in ein Badezimmer, das moderner als der Rest der Wohnung war, alles in Marmor und Glas. Sie zog ein Handtuch von einer Stange, machte es unter dem Wasserhahn nass und gab es ihm.

»Setzen Sie sich auf die Badewanne.«

Er drückte den Stoff an die Seite seines Kopfes und spürte die Kälte stechend an der Wunde. Als er es abnahm, war es mit Blut getränkt.

»Ich habe zugelassen, dass sie ihn erwischt haben. Es passiert schon wieder.«

»Warten Sie.« Nina holte ein weiteres Handtuch und ließ Wasser darauf laufen. »Hier.« Sie stand neben ihm und tupfte das Blut auf seiner Stirn weg.

»Danke.«

»Was ist passiert?«

»Wir wollten zu Ihnen kommen.« Er schüttelte den Kopf und fühlte, wie der Schmerz darin hin und her rollte. »Ich weiß nicht, wo sie herkamen. Ich habe niemanden gesehen. Ich habe niemanden gesehen.«

»Sollten Sie nicht die Polizei rufen?«

»Die werden ihn nicht finden. Ich muss ihn finden.« Er drehte sich um und schaute ihr in die Augen. »Ich muss mit ihnen verhandeln.«

Sie sagte nichts, dann wich sie seinem Blick aus und beugte sich zu ihm, um das Blut von der Seite seines Gesichts zu wischen. Er wandte sich ab.

»Nina, ich habe gehört, was Prock zu Ihnen gesagt hat. Wann wurde hier eingebrochen?«

Sie schüttelte den Kopf, warf das Handtuch in die Badewanne und ging aus dem Zimmer.

»Nina.« Er folgte ihr den Korridor entlang. Es war schon Nachmittag, Wolken waren aufgezogen, das Licht im Wohnzimmer wurde schwach. Sie schaltete eine Stehlampe an, setzte sich in ihren Sessel und starrte auf den Boden. Er nahm eine Fernbedienung vom Couchtisch, schaltete den Fernseher an und drehte die Lautstärke hoch, sodass Stimmen und Musik den Raum erfüllten.

Er hockte sich vor ihren Sessel und schaute zu ihr auf, leise auf sie einredend. »Nina, hören Sie mir zu. Ich habe Angst. Sie wissen genau, was hier vor sich geht. Ich muss wissen, was Dmitri wusste. Sonst ist Richard Lock tot.«

»Ich weiß nicht, was er wusste.«

»Diese Männer waren in Ihrer Wohnung. Die haben Sie angerufen. Die waren heute Nachmittag da draußen und haben uns beobachtet. Verdammt noch mal, vielleicht stehen jetzt andere dort. Geben Sie auf. Die lassen erst dann locker, wenn sie davon überzeugt sind, dass Sie es nicht haben.«

Sie seufzte abrupt, es klang fast wie ein Aufschluchzen.

»Ich will ihn nicht so in Erinnerung behalten. Gejagt für das, was er wusste.«

Er musste weiterkommen, dachte Webster. Er hatte keine Zeit für das hier.

»Nina, sagen Sie mir Folgendes: Warum wollen Sie daran festhalten? Was nützt es Ihnen?«

»Dmitri wollte nicht, dass sie es bekommen.«

»Ohne Dmitri hat es keine Bedeutung mehr.«

Nina schwieg. Sie sah auf ihren Schoß.

Er redete weiter. »Er hätte es für Richard getan. Sie waren Freunde.«

Sie schnaubte, dann schaute sie ihn an. »Sie wollen es also gegen Lock eintauschen?«

»Genau. Wenn es nicht zu spät ist.«

»Und danach, was nützt es dann? Lock lebt und Malin ist was? Immer noch der Gleiche.« Sie schloss die Augen und atmete tief. Sie saß eine Weile so da, und er störte sie nicht. »Ich habe kein Recht, es wegzugeben«, sagte sie schließlich.

»Es ist der Teil von ihm, an den Sie sich nicht erinnern wollen. Lassen Sie es los.«

Nina nickte – einmal, bedächtig – und verließ das Zimmer. Als sie zurückkam, hielt sie ein kleines zusammengefaltetes Blatt Papier in der Hand. Schweigend gab sie es Webster, der es nahm, öffnete, wieder zusammenfaltete und in die Tasche steckte.

»Danke. Rufen Sie mich unter dieser Nummer an, wenn etwas passiert.« Er ließ ihr eine weitere Karte da.

Sie nickte wieder. Er zögerte, als ob es noch etwas zu sagen gäbe. Aber er wusste, dass es nicht so war, und mit einem kurzen Abschiedsgruß ging er.


Von Ninas Wohnung aus rannte Webster östlich in Richtung des Hotels, die kalte Luft strömte ihm entgegen. Er brauchte ein öffentliches Telefon. Wie schnell die normale Welt zusammenstürzen und einen in Angst und Schrecken versetzen kann. Er sprach ein kurzes Gebet, dass es Lock gut ging; er betete nicht oft, aber Lock tat es. In der Dunkelheit war der Schneefall stärker geworden, er hinterließ eine dünne Puderschicht auf den vereisten Straßen.

Am Steinplatz fand er ein Telefon. Es war offen, eine Säule aus Stahl mit einem kleinen Glasdach über dem Kopf als Wetterschutz. Er drückte sich unter die Abdeckung, schob seine Kreditkarte in den Schlitz und wählte eine der Nummern, die er auswendig kannte. Während es klingelte, beobachtete er den Platz. Auf seiner Seite schob eine Mutter einen Kinderwagen in seine Richtung, zu seiner Linken rutschten zwei Mädchen mit langem Anlauf über das Eis. Sein Kopf pulsierte vor Schmerz.

»Hallo?«

»Ike, hier spricht Ben. Lock ist verschwunden.«

»Wieder eine Mitternachtsspritztour?«

»Nein. Schlimmer.«

Hammer hörte Websters Erklärungen aufmerksam zu.

»Wie geht es Ihnen?«

»Ich bin okay. Geschockt, aber okay. Ich ärgere mich über mich selbst. Sie müssen Malin erreichen.«

»Über Onder?«

»Über Onder oder über Tourna. Vielleicht hat der eine Telefonnummer für ihn. Sagen Sie ihm, wir haben, was er will, und falls Lock etwas zustößt, schicken wir es direkt an Hewson von der Times. Wenn er uns wissen lässt, dass es Lock gut geht, reden wir weiter. Und sprechen Sie mit Juri. Eines der Handys, die ich für Lock gekauft habe, hat GPS. Wenn er es noch bei sich hat, können wir ihn genau lokalisieren.«

»In Ordnung. Was ist mit Gerstmans Sachen?«

»Schauen Sie es sich an. Es liegt auf einem Yahoo-Account.« Er las die Zugangsdaten zweimal vor. Ein Username und ein Passwort, um das große Geheimnis zu enthüllen. Bitte, lass es gut sein.

»Ich hab’s notiert.« Hammer machte eine Pause. »Wie konnten die ihn finden?«

»Er ist zu Ninas Wohnung gegangen. Das war dumm. Ich hätte daran denken sollen.« Er seufzte. »Das war mein Fehler, Ike. Meine Verantwortung.«

Hammer sagte nichts.

»Würden Sie die Polizei einschalten?«, fragte Webster.

»Ja. Aber nur, weil die Ihnen sagen kann, wenn etwas passiert. Das heißt auch, dass Sie mit drinstecken, wenn tatsächlich etwas passiert. Das ist Ihnen vermutlich ohnehin lieber.«

»Können Sie George anrufen?«

»Damit er Ihnen ein paar Leute schickt?«

»Zunächst einmal nur, damit er sie bereithält.«

»Okay. Ich nehme an, Sie melden sich bei mir?«

»Bis ich ein neues Handy habe, ja. Ich rufe heute Abend wieder an.«

Webster hängte den Hörer ein. Seine Hand fror in der Abendluft. Er steckte sie tief in die Manteltasche und rannte los, um ein Taxi zu finden.

Zweihundert Meter vor dem Daniel bat er den Taxifahrer, anzuhalten. Er suchte beide Seiten der Straße mit den Augen ab und konnte nichts Verdächtiges sehen, nur leere Autos. Er ging ein ganzes Stück am Hotel vorbei, und auch dort fiel ihm nichts auf.

Er hatte sich entschieden, die Leiterin des Hotels um Hilfe zu bitten; er musste in Locks Zimmer und zog es vor, nicht bei einem Einbruchsversuch erwischt zu werden. Frau Werfel war nicht der Typ Frau, der in Panik geriet; sie betrachtete seinen Kopf mit Interesse, aber mehr auch nicht. Er erklärte ihr in stockendem Deutsch, dass er einen Streit mit Mr. Green gehabt habe und von einem Moped angefahren worden sei, als er ihm über eine befahrene Straße nacheilen wollte. Als er wieder zu sich kam, sei Green verschwunden gewesen, was besorgniserregend sei, weil er unter Depressionen leide und nun vielleicht seine Medikamente nicht dabeihabe. Es war das Beste, was ihm gerade einfiel. Frau Werfel nickte ernst, als würde sie ihm kein Wort glauben, aber solche Dinge nur allzu gut verstehen. Ob sie Mr. Green gesehen hatte? Nein, das hatte sie nicht, aber sie war schließlich den Nachmittag über beschäftigt gewesen und hatte oft in den Keller hinuntergehen müssen. Ob es ihr etwas ausmachen würde, Webster in das Zimmer zu lassen? Sie schaute forschend in sein Gesicht, schätzte ihn ein. Nein, würde es nicht. Webster dankte ihr und folgte ihr zwei Treppen hoch in Locks Stockwerk; er betrachtete ihre dicken Knöchel in den schafwollgefütterten Stiefeln, während sie Stufe für Stufe erklommen. Als er den düsteren und überheizten Korridor entlangging, hatte er eine brutale Vision, in der er die Tür öffnete und Lock erhängt vorfand, seine neuen Schuhe in der Luft baumelnd. Er schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu verjagen.

Es war niemand in Locks Zimmer. Frau Werfel ließ ihn hinein, und er suchte demonstrativ im Bad nach der Medizin. Aber schon als die Tür sich öffnete, hatte er auf dem Tisch einen Umschlag bemerkt, der vorher noch nicht dort gelegen hatte, da war er sich sicher.

»Er scheint sie mitgenommen zu haben«, sagte er, als er aus dem Bad kam, »das ist gut. Hören Sie, ich würde gehen und ihn suchen, aber ich habe keine Ahnung, wo ich suchen soll. Sein Telefon ist abgeschaltet. Ich denke, ich werde hier auf ihn warten. Ich will sicher sein, dass ich ihn erwische.«

»Ich könnte Ihnen Bescheid sagen, wenn er wieder zurückkommt.«

»Aber Sie sind beschäftigt, Frau Werfel. Ich will Sie nicht zwingen, den ganzen Abend an der Rezeption zu sitzen.«

Sie schien kurz zu überlegen, ob sie ihm widersprechen sollte. Schließlich nickte sie nur, wünschte ihm einen guten Abend und ging, wobei sie die Tür hinter sich schloss.

Der Umschlag war cremefarben und klein und nicht beschriftet oder bedruckt – die Art, wie man sie für private Briefe benutzt. Er sah aus, als gehörte er zu dem Hotelbriefpapier, das im Regal direkt daneben lag. Webster nahm ein Blatt Papier aus dem Regal und drehte mit dessen Hilfe den Brief um. Er war nicht zugeklebt; die Lasche war lediglich eingesteckt. Webster zerriss sein Blatt sorgfältig in zwei Teile, mit denen er seine Finger bedeckte, um die Lasche erst nach hinten und dann heraus zu ziehen. In dem Kuvert befand sich ein einzelnes Blatt Papier, das einmal gefaltet war. Mit immer noch bedeckten Fingern zog Webster es aus dem Umschlag und breitete es auf dem Tisch aus. Es war ein Blatt Briefpapier des Hotels Daniel. Die Kanten waren ein wenig angestoßen, als hätte es schon längere Zeit in dem Zimmer gelegen, bevor es benutzt worden war.

Das Papier war in einer gleichmäßigen Handschrift mit blauem Kugelschreiber beschrieben. Die Schrift war regelmäßig, zeigte aber Anzeichen von Übermut: Ein Schnörkel beendete das »f«, das »g« schwang sich elegant hinauf zum »e«. Webster erkannte die Schrift von den Unterschriften auf Hunderten von Dokumenten, die er in letzter Zeit gelesen hatte.


Seit mein Freund Dmitri Gerstman tot ist, bin ich unglücklich. Ich habe einen guten Freund verloren. Meine Familie habe ich schon vor langer Zeit verloren. Vor Gericht und in den Zeitungen habe ich meinen guten Ruf verloren. Ich habe nichts mehr. Ich will nicht mehr weitermachen.


Webster las den Brief noch einmal und ein drittes Mal, während sein Herz heftig gegen seine Rippen schlug. Er las ihn wieder und wieder, aber er gab keine neuen Informationen mehr preis. Dann schaute er sich im Zimmer um, um zu sehen, ob sich noch etwas verändert hatte. Locks Sachen waren an ihrem Platz. Seine alten Schuhe mit den Wasserflecken standen neben der Heizung, das Hemd von gestern hing über der Stuhllehne am Schreibtisch. Das Bett war gemacht und der Nachttisch aufgeräumt worden: auf der einen Seite die beiden Bücher, ordentlich gegen die Wand gelehnt; auf der anderen Seite die beiden Scotch-Flaschen und eine leere Flasche Gin, dicht beisammen. Die Ginflasche war vorher nicht da gewesen, dessen war er sich sicher. Er zog seine Hand in den Ärmel zurück und hob sie am Verschluss hoch. Es war ein kleiner Rest Flüssigkeit am Boden übrig.

Er benutzte einen Kuli zum Wählen und rief die Rezeption an. Frau Werfel nahm ab.

»Frau Werfel, hier spricht Mr. Webster aus Mr. Greens Zimmer. Darf ich Sie fragen, wann Sie während der letzten halben Stunde nicht an der Rezeption gewesen sind? Tut mir leid, aber es könnte wichtig sein.«

Frau Werfel ließ Webster mit einem kleinen Räuspern wissen, dass sie bereits sehr hilfreich gewesen war und ihr diese ganzen Unregelmäßigkeiten langsam auf die Nerven gingen. »Das kann ich nicht genau sagen. Bevor Sie ankamen, war ich eine halbe Stunde da, glaube ich, weil einige Gäste etwa um halb fünf eingetroffen sind.«

»Und kam noch jemand anderes während dieser halben Stunde?«

»Nein, niemand, Herr Webster. Ist das alles?«

»Das ist alles. Vielen Dank, Frau Werfel.« Er sehnte sich danach, etwas zu tun. Er tat dann das einzig Nützliche und rief die Berliner Polizei an. Er erklärte, dass sein Freund vermisst wurde und er in seinem Hotelzimmer gerade etwas gefunden hatte, das wie ein Abschiedsbrief aussah. Die Polizei fragte ihn, ob er versucht hätte, seinen Freund anzurufen. Ja, natürlich. Ob er irgendeine Ahnung hatte, wo sein Freund hingegangen sein könnte? Nein, keine; und ihm sei klar, dass die Polizei wenige Möglichkeiten habe, aber sie könnte vielleicht Fotos von Richard Lock im Internet finden und an ihre Streifenwagen weiterleiten. Der Polizist schnaubte und sagte Ja, das könnten sie tun.

Er legte auf und schaute aus dem Fenster. Die Straßen unten sahen aus wie vorher. Der Schnee auf den Kühlerhauben zeigte ihm, dass alle Autos in seinem Blickfeld kalt und in letzter Zeit nicht gefahren worden waren. Nichts bewegte sich, abgesehen vom dichten Schneefall; runde Flocken, die wie Regen herunterfielen und manchmal von einem Windstoß durcheinandergewirbelt wurden. Er zog die Vorhänge zu und blieb einen Moment lang einfach stehen, die Hände in den Vorhang gekrallt, die Augen geschlossen. Das durfte nicht noch einmal geschehen.

Er musste mit Hammer sprechen, wollte aber den Raum nicht verlassen für den Fall, dass Lock durch irgendein Wunder trotzdem zurückkehrte. Er ging ein Risiko ein und benutzte das Hoteltelefon auf dem Tisch. Selbst Malins Leute waren nicht so schnell, dass sie auch dieses schon angezapft haben konnten. Außerdem machte es eigentlich keinen Unterschied. Sollten sie es doch hören.

»Ike, hier ist Ben.«

»Ja?«

»Ich bin im Hotel. Das hier ist keine sichere Leitung. Es gibt einen falschen Abschiedsbrief und eine Flasche Gin, die noch nicht hier war, als wir vor vier oder fünf Stunden das Zimmer verlassen haben.«

»Also gibt es ein Muster.«

»Es gibt ein Muster.«

»Weiß die Polizei Bescheid?«

»Sie wissen, dass er verschwunden ist und an Depressionen leidet.«

»Okay. Ich habe gerade unserem fetten russischen Freund eine Voicemail-Nachricht hinterlassen. Unser liebster Eton-Absolvent hatte eine Telefonnummer. Ich wollte den Klienten noch nicht hineinziehen. Ich weiß nicht, welches von Malins Handys ich da erreicht habe. Ich könnte es bei dem Klienten versuchen, aber ich vermute, er hat keine Nummer, die wir nicht schon haben.«

Webster grunzte seine Zustimmung. »Was ist mit Locks Handy?«

»Das Signal ist tot.«

»Verdammt.« Webster drückte sich mit der freien Hand die Augen zu. »Die Dateien?«

»Die kommen als Nächstes.« Hammer machte eine Pause. »Ich weiß nicht, was wir sonst noch tun können.«

»Es gibt sonst nichts.«

»Sind Sie okay?«

»Nein. Ich habe es satt, Fehler zu machen.«

»Ich habe darüber nachgedacht«, sagte Hammer. »Wann hat Lock Nina angerufen?«

»Gestern Morgen.«

»Und nachmittags gibt es schon jemanden, der ihn beschattet? Das ging sehr schnell.«

»Ich denke, dass das Privatdetektive waren. Leute von hier.«

»Vor Ort angeheuerte Leute täuschen keine Selbstmorde vor. Zumindest nicht diejenigen, die ich kenne.«

»Die Russen könnten gestern spät angekommen sein.«

»Stimmt.«

Webster dachte einen Moment nach. »Lohnt sich vielleicht, das zu überprüfen.«

»Das ist nicht leicht.«

»Lassen Sie unseren Freund im Reisebüro die Last-Minute-Buchungen checken.«

»Was ist mit privaten Flügen?«

»Dabei sollte Juri uns helfen können.«

»Okay.« Hammer machte eine Pause. »Was tun Sie jetzt?«

»Ich werde hierbleiben und langsam durchdrehen. Vielleicht kommt er zurück. Wenn Sie mich brauchen, rufen Sie das Hotel Daniel an und fragen Sie nach Mr. Green in Zimmer 205.«

»Gut. Machen Sie keine Dummheiten.«

»Okay.«

Es gab nichts weiter zu tun.

Er saß auf dem Bett und nahm Locks Exemplar von Middlemarch in die Hand. Der Rücken war nach etwa hundert Seiten gebrochen, und das Buch öffnete sich von selbst. Noch sechshundert Seiten. Er fragte sich, ob Lock die Chance haben würde, es zu Ende zu lesen.

Wo war er jetzt? Irgendwo in einem dunklen Keller, in einem Transporter, der aus Berlin hinausraste; im Fluss, tief unter den Eisschollen, die auf der Oberfläche trieben wie erkaltetes Fett? Wie würden sie es diesmal machen? Ihn unter einen Zug werfen, von einer Brücke, aus einem Fenster? Er sah einen benommenen und verängstigten Lock vor sich, der von zwei gesichtslosen Männern mit steinhartem Griff fortgezerrt wurde, die Augen aufgerissen und rot unterlaufen, wissend und nicht wissend, was als Nächstes kommen würde; Lock in einer hell erleuchteten Zelle, mit schmutziger Kleidung, eine Menschentraube um ihn herum, die einzige Farbe in dieser Szene war die rote Linie quer über seiner Kehle.

Und wofür das alles? Eine sinnlose Suche nach irgendeiner fernen, flackernden Gerechtigkeit, von der Webster wusste, dass er sie nie zu fassen bekommen würde.

Er warf seinen Kopf zurück und schlug ihn gegen die Wand. Neuer Schmerz stach in seiner Wunde. Er machte es noch einmal, seine Augen blickten zum Himmel auf, flehten, füllten sich mit Tränen der Wut. Und noch einmal, fester.