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Lock lag auf dem Rücken und spürte, wie die Hitze seinen Körper nach Stellen absuchte, die sie noch verbrennen konnte. Es war windstill, und durch die geschlossenen Augenlider hindurch sah er das rote Lodern der Sonne. Von Zeit zu Zeit begann eine lauernde Unruhe an ihm zu nagen, doch er verscheuchte sie wie eine Fliege. Er war nicht in Moskau, das genügte. Er fühlte seinen Körper bernsteinfarben erglühen, er spürte eine Leichtigkeit in seiner Brust. Wie viel besser es ihm hier ging.

Um ihn herum lagen andere Urlauber auf Sonnenliegen. Eine Bedienung lief mit leisen, flinken Schritten vorbei. Das Geräusch gedämpfter Unterhaltungen ließ ihn wegdösen; dann, laut und eindringlich, die eine Hälfte eines Telefongesprächs – natürlich auf Russisch, was sonst. Er konnte nur einzelne Worte verstehen, aber er erkannte den Tonfall: gebieterisch und fordernd. Er öffnete die Augen und überlegte, ob er sich noch einen Drink holen sollte. Einen Moment lang starrte er in den makellosen Himmel hinauf, umspült von der Hitze, dann stützte er sich auf einen Ellenbogen auf. Der Schmerz in seinem Rücken ließ ihn zusammenzucken. Sein verdammter Rücken.

Oksana lag vielleicht einen Meter neben ihm auf dem Bauch, frisch gebräunt. Ihr Gesicht war ihm zugewandt, aber die Augen waren geschlossen, und er hätte nicht sagen können, ob sie schlief. Er schaute an sich selbst hinunter. Seine Haut war blass. Er sonnte sich seit drei Tagen, trotzdem sah er immer noch grau aus.

An diesem Morgen hatte sein Rücken ihn früh geweckt. Er hatte Oksana schlafen lassen und war joggen gegangen. Er zog sich im Bad an, um sie nicht zu wecken. Seine Laufschuhe hatten sich fremd angefühlt, und sein Shirt spannte. Unmittelbar vor Sonnenaufgang war Monte Carlo kühl und friedlich, überwölbt von einem Himmel, dessen dunkles Blau sich am Horizont langsam aufzuhellen begann, und Lock war, anfangs schwerfällig und dann mit einer Art angestrengtem Rhythmus, am Jachthafen vorbeigejoggt. Er folgte einem Uferweg, der weg von der aufgehenden Sonne gen Westen führte. Seine Rückenschmerzen ließen nach, und er lief weiter, seine Atemzüge wurden schwerer. Er verfluchte die ölige Luft Moskaus, während er sich am Anblick der Welt erfreute, die um ihn herum allmählich aus der Dämmerung auftauchte. Und dann war der Pfad plötzlich zu Ende gewesen, dort, wo Monaco einfach aufhört. Keuchend war Lock am Wegesrand stehen geblieben, hatte sich nach vorn gebeugt und gespürt, wie das Gewicht seines Körpers leicht vor und zurück schwankte, während das Herz in seiner Brust pochte.

Morgen würde er wieder laufen gehen, aber besser auf das richtige Tempo achten und sich vielleicht einen längeren Weg suchen. Jetzt brauchte er einen Drink. Er winkte der Bedienung, ihm das Gleiche noch einmal zu bringen, und nach einer Minute kam sie mit Scotch und Soda. Er setzte sich auf und trank. Der Drink seines Vaters. Wie er das zerstoßene Eis und das lange, zierliche Glas verachtet hätte. Wie er ganz Monaco verachtet hätte, wenn man es recht bedachte. Urlaub hatte für ihn bedeutet, im Harz zu wandern oder auf dem Ijsselmeer zu segeln, mit Lock und seiner Schwester als unfreiwilliger Crew. Aktivität war die eine Konstante dieser Ferien gewesen, die andere Konstante war ein ordentlich in einer Aluminiumkiste verstauter Primuskocher, der purpurfarbenen Spiritus verbrannte, der in alten Wasserflaschen aufbewahrt wurde. Auf ihm kochte Everhart Lock mit nie ermüdendem Enthusiasmus Bohnen, Eier und Speck. Es war für ihn undenkbar, Locks Mutter in ihrem Urlaub arbeiten zu lassen. Er war ein großer, ernsthafter Mann, der die ständige Bewegung brauchte und dessen Instinkt ihn in die Wildnis trieb; dorthin, wo es nur vereinzelt Menschen gab, aber Luft im Übermaß. Städte waren zum Arbeiten da. Gott, sein Vater hätte es gehasst, Geld zu bezahlen, um mit den Reichen in einem Beach Club sitzen zu dürfen (in dem er, wie Lock grollend dachte, diesem lächerlichen Ober trotzdem zwei Fünfzig-Euro-Scheine hatte zustecken müssen, um einen halbwegs anständigen Platz in Strandnähe zu bekommen), er hätte es gehasst, den ganzen Tag in der Sonne zu liegen, umgeben von Jachten, Autoverkaufsräumen und Beton-Wohnblocks, nur in Restaurants zu essen – wie ein Gefangener in dieser kleinen reichen Enklave zu sitzen, eingepfercht zwischen den Bergen und dem Meer. Doch Lock fühlte sich wohl hier. Hier war sein Platz, ein Teil seiner Welt. Hier war das Leben leicht, überschaubar und beherrschbar.

Vor fünfzehn Jahren hatte er zum ersten Mal Monaco besucht, um Maître Cricenti zu treffen und ein Unternehmen für Malin zu gründen, das erste von mittlerweile Hunderten. Cricenti war winzig klein, kaum 1,50 Meter, aber er war ein echter Monegasse, mit einer Haltung, die uralten Stolz und Unangreifbarkeit ausstrahlte. In seinem Büro hingen Drucke des Palastes aus dem neunzehnten Jahrhundert und Porträts der Fürsten Rainier und Albert; in jeder Ecke gab es Stangen mit Flaggen. Ohne es wirklich auszusprechen, vermittelte er Lock den Eindruck, dass die Entscheidung für Monaco seinem Unternehmen den Glanz einer siebenhundertjährigen Tradition verleihen würde, einer Tradition würdevoller und kompromissloser Unabhängigkeit, die nichts mit der eintönigen Welt von Steuern und staatlicher Einmischung gemein hatte. Das hier war nicht irgendeine dieser vulgären Karibikinseln, auf denen die Skrupellosen ihren Reichtum versteckten; nein, dies war ein glorreiches Relikt aus einer Zeit, die noch gar nicht so weit zurücklag, in der winzige, bunte Königreiche wesentlich zahlreicher gewesen waren als Nationalstaaten und in der Könige das Sagen hatten. Hier wusste man sein Vermögen und sein Gewissen in sicheren Händen.

Lock hatte dieses Verkaufsgespräch genossen; er hatte sich eingeredet, dass er kein Wort davon glaubte, und unterschrieben. Das war die Geburtsstunde von Spirecrest Holdings S.A., ein Unternehmen von der Stange mit bedeutungslosem Namen, das Cricenti einfach aus seinem wohlsortierten Regal gezogen und Lock vorgelegt hatte. Er hatte nur noch unterschreiben und bezahlen müssen. Es dauerte nicht lange, bis Lock feststellte, dass mit einer monegassischen Société Anonyme unendlich viel Papierkram einherging, der die mageren Steuervergünstigungen mehr oder weniger auffraß, und bald gründete er seine Unternehmen anderswo. Die lange und enge Geschäftsbeziehung mit Maître Cricenti, die er sich ausgemalt hatte, kam nie zustande. Doch seit dieser Zeit mochte er diesen Ort mit seinem sauberen, betörenden Mythos.

»Richard?«

Er schaute zu Oksana hinüber. Ihre Stimme klang tief und schlaftrunken.

»Ah, da bist du ja«, sagte er. »Ich dachte schon, wir hätten dich verloren. Möchtest du einen Drink?«

»Wie spät ist es?«

»Fünf.«

Sie atmete tief ein, ein halbes Gähnen. »Ich wollte nicht einschlafen.« Hier sprachen sie Englisch miteinander, in Moskau meistens Russisch.

Lock schaute sie wieder an. Er ertappte sich oft dabei, wie er Oksana anschaute. Sie erstaunte ihn – nicht die Tatsache, dass sie mit ihm zusammen war, was er verstehen konnte, sondern ihre Makellosigkeit. Manchmal beflügelte ihn das, doch meistens schien ihre Existenz seinen eigenen, alternden Körper und die ständigen Kompromisse seines Lebens zu verspotten. Sie war in Almaty zur Welt gekommen, in der Beuge des Tian Shan Gebirges, am Rand einer riesigen roten Wüste, und Lock fragte sich, ob das der Grund dafür war, dass ihre Schönheit ihn immer so unerwartet traf. In einem normalen Leben wäre sie für ihn unerreichbar gewesen.

»Was wollen wir heute Abend machen, Richard?«, fragte sie und schaute ihn nun an.

»Alles, was du willst. Was würdest du denn gerne machen?«

»Ich mag Sass. Können wir dort essen? Und dann ins Kasino. Jimmy’z finde ich langweilig.«

Wie recht sie hatte. Was Lock an Oksana liebte – lieben würde, wenn er es zuließe –, war ihre klare Vorstellung davon, was sie von ihm und seinem Geld wollte. Und dazu gehörte nicht, mit ein paar Hundert lederhäutigen Männern und ihren schönen Freundinnen in einem Nachtclub zu tanzen, der seinen Namen auf absurde – und peinliche – Weise mit einem Z schrieb. Jimmy’z. Vor ein paar Jahren hätte sich Lock vielleicht auf eine Nacht im Jimmy’z gefreut und auf die Gelegenheit, zu sehen und gesehen zu werden, doch jetzt nicht mehr. Der Laden war voll von Mittsechzigern und sogar Mittsiebzigern, die sich offensichtlich niemals die Zeit nahmen, Zweifel an ihrem Status oder ihrer Leistungskraft aufkommen zu lassen – aber sie waren, wie Lock sich eingestehen musste, die wirklich Reichen, sie gehörten einer völlig anderen Rasse an.

»Ich rufe im Hotel an und lasse einen Tisch reservieren. Sonst hast du alles, was du brauchst? Einen Drink?«

»Ich mache jetzt die andere Seite.« Oksana drehte sich mit sparsamen Bewegungen auf den Rücken und schloss die Augen. Lock nahm eines der drei Handys, die neben ihm lagen, rief im Hotel an und sprach mit der Rezeption. Er lehnte sich zurück, trank und verfolgte mit den Augen einen Jetski, der durch die Bucht pflügte.

Leise und abrupt begann eines seiner Handys zu vibrieren. Er schaute hinunter und erkannte die Nummer. Ein französisches Mobiltelefon. Er ließ es einen Moment lang hilflos summen, schloss kurz resigniert die Augen und nahm es in die Hand. »Hallo«, sagte er auf Russisch. Allo. Es klang seltsam hier am Strand, in der Sonne.

»Hallo Richard.« Diese heisere, tiefe Stimme. »Ich brauche Sie hier, heute Abend. Bitte kommen Sie jetzt.«

»Natürlich.« Er legte auf und seufzte. Er war nicht bereit, in diese Welt zurückzukehren.

»Schatz?« Lock wusste nie, ob er sie mit »Schatz« oder »Liebling« anreden sollte. Zu seiner Frau hatte er im Lauf der Jahre mal das eine und mal das andere gesagt, aber für Oksana schien keins von beiden zu passen. Sie wusste, was er sagen würde, und reagierte nicht. »Ich muss für ein paar Stunden weg. Tut mir leid.«

»Wie lange?«

»Ich kann das vorher nie sagen. Ich rufe dich an, wenn ich es weiß.«

Er sammelte seine Handys und seine Brieftasche ein, stand auf und beugte sich zu ihr hinunter. Sie drehte ihren Kopf kaum merklich weg, und er küsste sie auf die Seite des Mundes. »Bestell dir, was du magst. Ich zahle die Rechnung.« Er richtete sich steif auf, zog sein weißes Leinenhemd von der Rückenlehne des Liegestuhls und ging.


Er hätte den Hubschrauber nach Nizza und von da aus ein Taxi nehmen können – so machten es die meisten Monegassen –, aber er misstraute Hubschraubern. Er hatte sie noch nie leiden können. Flugzeuge waren okay. Flugzeuge hatten Flügel und sahen ein wenig aus wie Vögel, und Vögel konnten fliegen und landen. Für so etwas hielt die Natur Beispiele bereit. Nichts in der Natur glich einem Hubschrauber, abgesehen vielleicht vom geflügelten Samen des Ahornbaums, wenn dieser langsam und unausweichlich dem Boden entgegenrotierte. Es gab noch einen Grund, warum er Hubschrauber mied, allerdings hätte er nicht sagen können, ob dieser eher abergläubisch oder pragmatisch war: Menschen wie er schienen überdurchschnittlich häufig in Hubschraubern zu sterben.

Nun saß er also frisch geduscht und mit einem beigen Leinenanzug gekleidet auf dem Rücksitz eines Mercedes und raste durch Tunnel und Bergtäler. Er spürte seine Unruhe zurückkehren. Malin würde ihn nicht wegen irgendwelcher Kleinigkeiten zu sich rufen. Lock hatte sein ganzes Berufsleben damit zugebracht, sich auf das Kommen der Polizei vorzubereiten, doch der Gedanke daran ängstigte ihn immer noch. Lügen war Teil seines Jobs, aber er log im Verborgenen, wie ein Schriftsteller, nicht von Angesicht zu Angesicht wie ein Verkäufer. Fünfzehn Jahre lang arbeitete er jetzt schon daran, mit geschlossenen und offenen Fonds, mit Limited Liability Companies und Limited Liability Partnerships, mit Sociétés Anonymes und Sociétés Anonymes à Responsabilité Limitée, mit Anstalten in Liechtenstein, Stiftungen in der Schweiz und Privatstiftungen in Österreich, mit allen möglichen Abkürzungen in allen existierenden Offshore-Finanzplätzen eine komplexe Fiktion zu schaffen. Er war stolz auf sein Werk, aber nicht restlos davon überzeugt. An der Wand seines Moskauer Büros hing ein riesiges Whiteboard, das die sich ständig wandelnde Struktur des Netzwerks zeigte. Es sah aus wie eine technische Zeichnung, unbegreiflich verschlungen: Knotenpunkte, Verästelungen und dichte Cluster bedeckten das Board, veränderten und verzweigten sich mit jeder neuen Ausweitung von Malins Geschäften. Lock hatte alles im Kopf. Er kannte jedes Unternehmen, jedes Bankkonto, jeden Firmenvorstand; er kannte die Buchhaltungsvorschriften für jedes Land; er wusste, wann Geld einen Ort verlassen und an einen anderen Ort transferiert werden musste. Er wusste auch, dass die Struktur so stabil war, wie sie nur sein konnte. Und doch war er sich nicht sicher, ob er dazu in der Lage wäre, sie jemand anderem gegenüber zu erklären und zu rechtfertigen.

Er rief sich selbst zur Ordnung. Vielleicht hatte das alles gar nichts mit einer Untersuchung zu tun. Vielleicht waren es nur Moskauer Ränkespiele: eine stille Anordnung aus dem Kreml oder der Versuch eines rivalisierenden Konzerns, eine von Malins Firmen zu übernehmen. Doch andererseits passierte in Russland nichts im August. Vielleicht war es etwas völlig Harmloses – der Kauf eines weiteren Unternehmens oder die Notwendigkeit, an einem Ende der Organisation Geld flüssigzumachen, um an einer anderen Stelle eine Transaktion zu finanzieren. Vielleicht fühlte sich Malin lediglich einsam. Lock lächelte und schaute aus dem Fenster auf den grandiosen Bogen der Côte d’Azur, majestätisch, heiß und überbevölkert. Was immer der Grund für Malins Anruf war, er musste Souveränität ausstrahlen.

Hinter Nizza wurde der Verkehr dichter und kam schließlich zum Stillstand. Lock fielen die vielen holländischen Nummernschilder auf. Hatten die Holländer etwas gegen das Fliegen?

Bei Antibes leerte sich die Straße ein wenig, und bald waren sie in Cannes, wo der Wagen nach Süden in Richtung Théoule-sur-Mer abbog. Rotbraune Gipfel erhoben sich über der Küstenstraße, rau und primitiv. Malin, der immer zu wissen schien, was sich unter seinen Füßen befand, hatte ihm einmal erklärt, dass die Berge des Esterel ihre Farbe dem Porphyr verdankten, einem Stein, den die Römer und Griechen geliebt hatten. Wie alt sie aussahen, welche Strenge sie ausstrahlten und wie entschlossen sie der Zivilisation widerstanden. Welch ein Kontrast zu den schmucken Villen, die die Straße säumten.

Als sie Malins Anwesen erreichten, hatten sie Théoule hinter sich gelassen, und es waren nur noch vereinzelt Villen zu sehen. Malin hatte sein eigenes Kap, eine kleine Landzunge, die im Norden von einer zweieinhalb Meter hohen Mauer begrenzt und vollständig vom Festland abgeriegelt war. Er hatte dieses Haus gekauft, weil es sich leicht sichern ließ: Auf den übrigen drei Seiten endeten Terrassengärten in roten Klippen, die steil ins Meer abfielen. Diese natürliche Befestigung hatte er durch Wachen ergänzt (bewaffnete Russen, keine Einheimischen), die Tag und Nacht an den Grundstücksgrenzen patrouillierten. Auf der Westseite des Kaps gab es einen steilen Pfad, der zu einem kleinen Sandstrand hinunterführte. Als das Haus in den 20er Jahren gebaut worden war, hatten zweifellos Jachten in der kleinen Bucht angelegt, die Gäste zum Dinner aus Cannes oder Mandelieu-La Napoule brachten. Heute waren dort permanent zwei Wachen stationiert, und es gab nur selten irgendwelche Gäste.

Das Auto hielt an einem niedrigen Pförtnerhäuschen. Lock ließ sein Fenster herunter und zeigte sein Gesicht. Das Tor öffnete sich.

Ein weiterer Mercedes parkte in der Einfahrt, der Fahrer schlief auf seinem Sitz. Lock erkannte ihn nicht. Er dankte seinem eigenen Fahrer, teilte ihm in schlechtem Französisch mit, dass er eine Stunde oder länger brauchen würde, und ging an den beiden an der Haustür stehenden Wachen vorbei ins Haus.


Jedes Mal, wenn er hierherkam, fiel ihm die unnötige Eleganz des Hauses auf. Es war, gemessen an den Standards der Riviera, eher klein, niedrig und weiß, wies hier und da eine Andeutung von Art déco auf und vermittelte ganz allgemein den Eindruck, dass es jederzeit bereit war, die Segel zu setzen und in die See zu stechen, auf die es hinabblickte. Die Rückseite des Hauses war von Virginia-Eichen und Kiefern beschattet; an die Vorderseite schlossen sich einfache Rasenterrassen an, die stufenweise zum von Bäumen gesäumten Klippenrand führten. Im Erdgeschoss führten aus jedem Zimmer große Glastüren in den Garten hinaus, wo ein Springbrunnen leise plätscherte. Das Haus war lichtdurchflutet, doch selbst im Sommer war es innen kühl. Knapp fünfzig Meter vor dem Haus stand eine kleine Kapelle, die schon lange nicht mehr genutzt wurde. Lock hatte immer das Gefühl, dass er sie besuchen sollte, was er aber noch nie getan hatte.

Meetings fanden im Esszimmer statt. Malin saß am Esstisch. Er hatte sich in seinem Stuhl zurückgelehnt und die dicken Arme über der Brust gefaltet. Er trug ein weißes Hemd mit kurzen Ärmeln und Spreizkragen, gegen dessen Weiß seine Haut blass aussah. Er war groß und stabil gebaut, wie ein russischer Ringer im Ruhestand. Undurchdringlich, dachte Lock, undurchdringlich in beide Richtungen. Er hatte ein breites, fleischiges Gesicht, dessen Hängebacken, Glatze und Doppelkinn bei einem anderen Mann vielleicht jovial gewirkt hätte, doch seine Augen übertrumpften den Rest. Sie waren dunkelbraun, schwer, und weder neugierig noch passiv. Malin schien niemals zu blinzeln, und dennoch starrte er nicht. Die Augen existierten einfach. Lock fühlte sich jedes Mal unbehaglich, wenn sie ihn ansahen. So wie jetzt.

»Guten Abend, Richard. Es tut mir leid, Ihren Urlaub zu unterbrechen.« Malin sprach Englisch mit einem starken Akzent. Lock nickte nur, er wusste aus Erfahrung, dass dies die einzigen Höflichkeitsfloskeln bleiben würden. »Telefone, bitte.« Lock zog seine drei Handys aus verschiedenen Taschen, öffnete die Abdeckungen, nahm aus jedem den Akku heraus und legte die Einzelteile auf eine Kommode an der Wand, auf der bereits die Teile zweier Telefone lagen.

»Sie kennen Mr. Kesler.« Malin zeigte über den Tisch auf den älteren der beiden Männer, die sich in dem Raum befanden.

»Natürlich. Wie geht’s Ihnen, Skip?«

»Gut, danke, Richard. Sie sehen gut aus. Das hier ist Lawrence Griffin, einer unserer Partner.«

Lock schüttelte beiden Männern die Hände. »Skip« hieß in Wirklichkeit Donald, aber er zog es vor, als Skip angesprochen zu werden, es suggerierte eine Lockerheit, die überhaupt nicht zu seiner Erscheinung passte. Er war Anwalt, Spezialist für Prozessführung, und Lock hatte sich erschrocken, ihn hier zu sehen: Das bedeutete, dass es wie befürchtet etwas Ernstes zu besprechen gab. Kesler gehörte nicht zu der Sorte Menschen, die auf Kosten ihres Klienten grundlos über den Atlantik fliegen. Alles an ihm strahlte Disziplin aus. Der jüngere Mann, Griffin, hatte ein Notizbuch hervorgezogen und schrieb bereits. Beide trugen Anzüge; beide wirkten erhitzt und leicht schmuddelig, als seien sie den ganzen Tag unterwegs gewesen und noch nicht dazu gekommen, sich umzuziehen.

Lock saß allein am Kopfende des Tisches. Malin drehte sich um und sah ihn an.

»Tourna macht wieder Ärger. Er ist immer noch wütend.«

»Es geht um Tourna? Du liebe Zeit, der Mann macht doch ständig Ärger. Können wir ihn nicht einfach weiter ignorieren?« Tourna war nach Locks Überzeugung ganz bestimmt kein Grund für ein Meeting im August.

»Mr. Kesler glaubt das nicht. Mr. Kesler.«

»Danke, Konstantin. Richard, Mr. Tourna wird am Montag in New York eine Klage gegen Faringdon einreichen, außerdem will er in Paris ein Schiedsverfahren einleiten, bei dem er sich auf einschlägige Passagen seines Vertrags beruft. Die New Yorker Klage unterstellt, dass wir beim Verkauf von Marchmont an Orion Trading unsere Verpflichtungen nicht eingehalten hätten. Genauer gesagt wird behauptet, dass Orion eine leere Hülle bekam, während alle Vermögenswerte an Faringdon gingen. Für die Verhandlung in New York gibt es noch keinen Termin, aber in Paris sind wir im November dran.« Kesler sprach immer außerordentlich strukturiert und präzise, seine Stakkatostimme mit der leichten Andeutung eines Südstaatenakzents trommelte die einzelnen Punkte heraus. Lock fragte sich, ob er vorher geübt hatte.

»Mein Gott, er ist ein Idiot«, sagte Lock. »Was kann er denn damit gewinnen?« Niemand sprach. Lock fiel auf, dass Keslers Armbanduhr immer noch Washingtoner Zeit zeigte. »Sollen wir kämpfen oder vergleichen?«

»Wenn die Frage, ob wir unsere Verpflichtungen aus dem Vertrag erfüllt haben, unsere einzige Sorge wäre, ja – dann würden wir entweder kämpfen oder uns vergleichen, vielleicht eine Geldstrafe akzeptieren und keinen Gedanken mehr daran verschwenden.« Keslers Anzug war dunkelblau, ein leichter Wollstoff mit Nadelstreifen, europäisch geschnitten. »Mr. Tourna hat jedoch beschlossen, das Ganze diesmal ein wenig aufzupeppen. Er unterstellt, Faringdon – und Sie selbst – seien Teil einer kriminellen Vereinigung. Genauer gesagt, er behauptet, dass Faringdon nicht seinen Aktionären gehört, sondern Mr. Malin, und dass es der zentrale Baustein einer, wie er es nennt, globalen Geldwaschanlage ist. Er beziffert seinen Schaden auf eine Milliarde Dollar.«

»Eine Milliarde? Wie kommt er denn auf diese Summe?« Jetzt verstand Lock, warum er und Kesler hier waren. »Wer vertritt ihn?«

»Hansons. Lionel Greene. Wie ich höre, soll der sehr gut sein.« Kesler schaute Lock über den Rand seiner Brille an und wartete auf mehr, aber es kam nichts. »Daraus ergeben sich alle möglichen Probleme. Wir können keinen Vergleich schließen, weil die Klage öffentlich ist und weil ein Vergleich unterstellt, wir würden die Vorwürfe akzeptieren. Außerdem können wir uns darauf verlassen, dass bald jedermann davon erfährt – Tourna geht niemals diskret vor, selbst dann nicht, wenn es in seinem Interesse liegt. Und das ist hier nicht der Fall.«

Lock spürte, wie sich eine lang gehegte Angst schwer auf seine Brust legte. »Wissen wir, was er weiß?«

»Nein, die Klage nennt keine Details.«

»Er fischt im Trüben.«

»Das glaube ich nicht.« Kesler blickte von Lock zu Malin.

»Was bezweckt er dann?«, sagte Lock. »Das ist doch verrückt. Warum etwas unterstellen, das man nicht beweisen kann? Und gleichzeitig dafür sorgen, dass ein Vergleich nicht infrage kommt?«

Wieder schaute Kesler zwischen den beiden hin und her. Malin machte eine winzige Kopfbewegung, und Kesler fuhr fort.

»Vielleicht hat er einfach nicht vor, sich zu vergleichen? Ich vermute, dass Mr. Tourna wirklich verärgert ist, und wenn Mr. Tourna verärgert ist, dann hält er damit nicht hinter dem Berg. Für diesen Griechen ist Rache ein Gericht, das noch relativ warm serviert werden sollte.« Kesler machte eine Pause, unübersehbar angetan von seinen Worten. »Ich denke, er tut das – zumindest müssen wir davon ausgehen, dass es sich so verhält –, weil er Mr. Malin schaden will. Außerdem wird er mittlerweile höchstwahrscheinlich Privatdetektive und PR-Firmen und Gott weiß wen sonst noch engagiert haben, um eine Riesenshow abzuziehen. Wenn er glaubt, dass der richtige Zeitpunkt gekommen ist.«

Keslers Adjutant machte die ganze Zeit Notizen. Lock schielte hinüber und fragte sich, wie sie jetzt schon so umfangreich sein konnten. Die Sonne war inzwischen ein gutes Stück gesunken und stand nun hinter Malin, wodurch sein Gesicht im Schatten lag.

»Hören Sie«, sagte Lock. »Wenn er etwas beweisen könnte, würde er uns damit erpressen, statt an die Öffentlichkeit zu gehen. Das ist sein Stil. Das heißt, dass es keine Beweise gibt.«

»Vielleicht nicht«, sagte Kesler. »Aber es könnte sehr unangenehm werden, das vor Gericht darzulegen. Ich bin heute hier, weil wir sofort mit der Arbeit beginnen müssen. Paris hat Priorität. Ich werde von der Kanzlei Bryson Joyce in London aus arbeiten, damit Sie nicht nach DC und ich nicht nach Moskau pendeln müssen …«

»Warten Sie, einen Moment.« Lock sah verwirrt aus. »Warum denn überhaupt dieses Schiedsverfahren? Wenn er nur Ärger machen will, kann er uns doch einfach in New York verklagen.«

»Das ist die interessanteste Frage«, sagte Kesler. »Ich weiß es nicht. Mir fällt tatsächlich keine Erklärung ein. Ich halte es für möglich, dass in Wirklichkeit New York der Nebenkriegsschauplatz ist. Eine Klage dort wird eine Menge Staub aufwirbeln, nur … Ich vermute, dass er Ihnen richtig wehtun, aber dennoch einen Weg für einen Vergleich offenhalten will. Vielleicht stimmen Sie einem Vergleich zu, wenn er alle Punkte seiner Klage zurückzieht. Oder vielleicht will er Sie im Zeugenstand sehen. In New York können wir das wohl umgehen, in Paris sieht das anders aus. Bei seinem eigenen Schiedsverfahren muss man anwesend sein.«

Lock spürte, wie sein Rücken zu schmerzen begann. Jetzt hätte er Malin zeigen sollen, dass er zuversichtlich und kampfeswillig war, doch sein Körper signalisierte nur Bestürzung.

»Können wir ihm zuvorkommen und ihn mit irgendetwas treffen?«

»Sie meinen, Feuer mit Feuer bekämpfen? Möglicherweise. Ich treffe mich nächste Woche in London mit Privatermittlern. Unter Umständen findet man etwas, das Mr. Tourna lieber verborgen halten möchte. Aber es ist nicht so, als hätte er einen guten Ruf zu verlieren. Das kann natürlich auch nützlich sein.« Kesler gab ein irritierendes kurzes Kichern von sich.

Malin stand auf, dankte Kesler und bat Lock, mit ihm nach draußen zu kommen. Als sie über den Rasen vor dem Haus gingen, spürte Lock, wie das Gras unter seinen Füßen federte. Zwischen den Zypressen konnte er die Landzungen und Buchten in der Ferne verschmelzen sehen, die Klippen tiefrot im Schatten. Sein frisches Hemd war bereits feucht und klebte kühl an seinem Rücken. Er und Malin gingen ein paar Stufen zu einem Swimmingpool hinunter, dessen himmelblaues Wasser endlos über die unsichtbare Beckenbegrenzung lief und mit dem beständigen, ernsten Kobaltblau des Meeres dahinter verschmolz. Sie setzten sich an einen Tisch, außer Reichweite der Abendsonne. Lock, der Malin die Seite zuwandte und mit den Ellbogen auf den Knien immer noch auf den Pool starrte, fragte sich, ob es irgendetwas gab, das diese Szene noch friedlicher machen könnte. Er hätte gerne gewusst, ob Malin Freude daran hatte.

Malin zog ein Päckchen Zigaretten aus seiner Hemdtasche, nahm eine heraus und zündete sie an. Er sprach jetzt Russisch. »Richard, ich mache mir Sorgen wegen dieser Sache. Tourna ist ein bisschen verrückt. Ich glaube, dass Kesler recht hat – er macht das nicht, um Geld von uns zu bekommen.«

»Tourna spinnt. Wir hätten niemals …«

»Lassen Sie mich ausreden.« Malin machte eine Pause. Lock schaute vom Wasser zu ihm hinüber, unterstrich seine Bereitschaft zuzuhören. »Kesler hat mich vor zwei Tagen wegen dieser Sache angerufen. Das gab mir etwas Zeit zum Nachdenken. Ich habe ihn gebeten hierherzukommen, um das persönlich mit uns zu besprechen. Ich habe ihn gebeten, so wie ich Sie jetzt bitte, besonders sorgfältig zu verfahren, damit das hier nicht eskaliert. Ich will, dass wir herausfinden, was Tourna weiß. Und ich will alles über Tourna wissen. Das ist Ihre Aufgabe. Ich werde keinen Vergleich anstreben, weil ich nicht glaube, dass Tourna danach Ruhe gibt.« Wieder machte er eine Pause und zog tief an seiner Zigarette. »Wie sicher sind Sie, dass wir geschützt sind?«

»Sehr sicher.« Locks Herz stolperte. »Ich wüsste nicht, was eine Verbindung zu Ihnen herstellen könnte.«

»Überprüfen Sie Ihr Netzwerk auf Schwachstellen. Bald wird die andere Seite es unter die Lupe nehmen. Wenn es Schwachstellen gibt, will ich sie kennen.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, wo sie sein sollten.«

»Schauen Sie einfach nach. Wer von Ihren Vertrauten könnte reden, wissentlich oder unwissentlich? Genau danach werden sie suchen.«

»Verstanden.«

»Es ist immer noch möglich, dass das Ganze sich in Luft auflöst. Aber bis dahin arbeiten Sie mit Kesler zusammen. Arbeiten Sie hart.«

Lock erwiderte Malins emotionslosen Blick, so lange er konnte, dann nickte er und schaute weg.

»Richard, ich habe Sie immer gut bezahlt, damit Sie sich auf diesen Moment vorbereiten. Enttäuschen Sie mein Vertrauen nicht.«

Als sie im Dämmerlicht zum Haus zurückgingen, schalteten sich die Sicherheitsleuchten an, tauchten Haus und Bäume in grelles Licht und ließen alles dahinter im Dunkel verschwinden.


Es war kurz nach zehn, als Lock nach Monaco zurückkam. Oksana war nicht in ihrem gemeinsamen Zimmer im Metropole. Auf seine Anrufe reagierte sie nicht.

Er stellte sich unter die Dusche, ließ das Wasser sehr heiß und dann sehr kalt laufen und dachte nach. Er dachte darüber nach, warum Kesler nicht zuerst mit ihm gesprochen hatte, sondern direkt zu Malin gegangen war. Er dachte über Malins Worte an ihn nach, die halb Aufmunterung und halb Drohung gewesen waren. Und er dachte daran, was er nun tun musste und wie sehr ihm das gegen den Strich ging. Das Problem, so viel wusste er, war nicht die Art der Lüge, sondern die simple Tatsache, dass es sich um eine Lüge handelte. Wenn irgendjemand gründlich genug nachschaute (und dieser jemand würde wirklich sehr gründlich nachschauen müssen), dann musste er entdecken, dass er, Richard Lock, der reichste ausländische Investor in ganz Russland war, der Eigentümer eines riesigen privaten Energiekonsortiums. Und er konnte keine plausible Erklärung dafür liefern, wie er dazu gekommen war.